Neben der Schleifentheorie existiert wenigstens noch eine andere weit entwickelte Theorie der Quantengravitation: die Stringtheorie. Diese nimmt an, dass die Elementarteilchen nicht punktförmig sind, sondern kleine Fäden, sogenannte strings. Auch wenn es so aussehen könnte, als ob Fäden und Schleifen einander sehr ähnlich sind, ist der Unterschied groß: Die Fäden sind kleine Abschnitte, die sich im Raum bewegen und Materieteilchen darstellen, während die Schleifen selbst den Raum (das heißt das Gravitationsfeld) bilden.
Die Stringtheorie ist viel ambitionierter als die Schleifentheorie: Sie sucht nicht nur eine mögliche Lösung für das Problem der Quantengravitation, sondern versucht darüber hinaus, sämtliche Kräfte und sämtliche Teilchen der Physik zu vereinigen. Sie möchte nicht nur Quantenmechanik und Allgemeine Relativitätstheorie miteinander versöhnen, sondern gleichzeitig alle fundamentalen Wechselwirkungen der Physik vereinigen. Sie will also die endgültige «Theorie von allem» finden. Ich persönlich habe das Gefühl, dass dieses Ziel maßlos ist oder zumindest verfrüht.
String- und Schleifentheorie unterscheiden sich nicht nur deshalb in der Art und Weise, wie sie sich dem Problem der Quantengravitation nähern, weil sie unterschiedliche physikalische Hypothesen untersuchen, sondern auch, weil sie das Produkt zweier wissenschaftlicher Schulen sind, die von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und das Problem der Quantengravitation aus einem jeweils anderen Blickwinkel sehen.
Unter den Stringtheoretikern finden sich viele Hochenergiephysiker; sie sind mit der Quantenfeldtheorie (das heißt mit der Anwendung der Quantenmechanik auf Felder) und mit dem «Standardmodell» der Teilchen vertraut, also der aktuellen Theorie, die alle Ereignisse der physikalischen Welt bestens beschreibt, mit Ausnahme gravitativer Phänomene. Aus der Sicht eines Hochenergiephysikers ist die Gravitation nichts anderes als die letzte und schwächste der bekannten Wechselwirkungen. Es ist daher ganz natürlich, dass er versucht, ihre Quanteneigenschaften mit Hilfe einer Strategie zu verstehen, die sich in der übrigen Mikrophysik als so erfolgreich erwiesen hat. An einer konventionellen Quantenfeldtheorie, die in der Lage ist, die Gravitation einzubeziehen, wird seit vielen Jahrzehnten gearbeitet, und nach zahlreichen Rückschlägen, Momenten des Enthusiasmus und wichtigen Entdeckungen hat dies zur Stringtheorie geführt. Die Grundlagen der Stringtheorie sind bisher noch nicht gut verstanden, aber sie ist gegenwärtig ein Kandidat für die Quantengravitation, an dem intensiv gearbeitet wird, auch wenn sie heute deutlich weniger Begeisterung auslöst als noch vor zwanzig Jahren, denn seit dieser Zeit hat es wenig bedeutende Fortschritte gegeben.
Um zu funktionieren, braucht die Stringtheorie einen Raum mit zehn Dimensionen wie auch supersymmetrische Teilchen, dazu noch sehr starke Hypothesen, und sie ist bis heute ohne auch nur den Hauch eines experimentellen Beweises geblieben. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie sich eine Theorie mit zehn Dimensionen und unbekannten supersymmetrischen Teilchen konkret anwenden lässt, um eindeutige, nachvollziehbare und anwendbare Vorhersagen über die Welt zu machen, in der wir leben, einer Welt, in der es keine Supersymmetrie und nur drei Raumdimensionen gibt. Im Lauf der Jahre haben die Stringtheoretiker immer wieder gehofft, die supersymmetrischen Teilchen stünden kurz vor ihrer Entdeckung. Als der Große Hadronen-Speicherring (LHC) in Genf endlich funktionierte, waren viele von ihnen überzeugt, dass der Teilchenbeschleuniger als Erstes diese supersymmetrischen Teilchen entdecken würde. Aber die Teilchen erschienen nicht zum Rendezvous. Der große Medienhype nach der Entdeckung des Higgs-Bosons erlaubte es, die bittere Enttäuschung zu kaschieren, die Supersymmetrie nicht gefunden zu haben.
Die zweite Schule, die der Schleifentheoretiker, besteht zum größten Teil aus Experten der Allgemeinen Relativitätstheorie. Für einen «Relativisten» fühlt sich die Idee, Gravitation als physikalische Anregungen in einem entsprechenden Raum zu beschreiben, «falsch» an. Die wichtigste Lehre, die wir der Allgemeinen Relativitätstheorie verdanken, ist, dass es keinen Raum gibt, in dem die Physik ablaufen könnte (außer natürlich in einem approximativen makroskopischen Ansatz). Die Welt ist komplexer. Für einen Relativisten ist die Allgemeine Relativitätstheorie weitaus mehr als eine bloße Feldtheorie für eine bestimmte Kraft, die Gravitation. Sie impliziert, dass bestimmte klassische Begriffe, die Zeit und Raum betreffen, auf fundamentaler Ebene völlig ungeeignet sind und Veränderungen verlangen, die genauso grundlegend sind wie diejenigen, die die Quantenmechanik eingeführt hat. Einer dieser hinfälligen Begriffe ist genau der eines passenden Raums, in dem die Physik stattfinden soll. Damit kann man keine relativistische Gravitation und keine Schwarzen Löcher, keine relativistische Astrophysik und keine moderne Kosmologie ergründen.
Daher verlangt das Problem der Quantengravitation von einem Relativisten, dass die große konzeptuelle Revolution, die mit der Quantenmechanik und der Allgemeinen Relativitätstheorie begann, ihre Lösung in einer neuen Synthese findet. Darin müssen die Vorstellungen von Raum und Zeit völlig umgestaltet werden, um das zu berücksichtigen, was wir aus unseren beiden «fundamentalen» aktuellen Theorien gelernt haben.
Im Gegensatz zur Stringtheorie ist die Schleifentheorie von Anfang an ohne Bezug auf einen Raum formuliert worden. Sie versucht wirklich, die Natur der gequantelten Raumzeit auf fundamentaler Ebene zu begreifen. Infolgedessen ist die Vorstellung von der Raumzeit, die aus der Theorie erwächst, völlig anders als diejenige, auf der konventionelle Quantenmechanik oder Stringtheorie beruhen. In den Gleichungen der Schleifenquantengravitation taucht nirgendwo die Variable t (für Zeit) auf, ebenso wenig die Variable x (für Ort), und dennoch sind diese Gleichungen durchaus in der Lage, die zeitliche Entwicklung eines Systems vorherzusagen. Zudem braucht sie weder zusätzliche Dimensionen noch exotische Teilchen.
Wenn die Stringtheorie noch immer intensiver erforscht wird und besser bekannt ist als die Schleifentheorie, so hat das vor allem historische Gründe. Diese Situation spiegelt die Physik des 20. Jahrhunderts wider, in dem die Allgemeine Relativitätstheorie eine Randstellung einnahm. Da diese Theorie sehr kompliziert ist und zu jener Zeit keine praktische Anwendung fand, beschränkte sich die Beschäftigung damit auf eine begrenzte, sehr angesehene Gruppe von Physikern, deren Arbeiten jedoch nur in einem kleinen Kreis diskutiert wurden. Im Gegenzug erlebte die Quantenmechanik dank der großen Zahl ihrer praktischen Anwendungen (Laser, Festkörperphysik, Teilchen, Kernphysik, Atombombe …) einen enormen Aufschwung. Als das Problem der Quantengravitation dringend gelöst werden musste, gab es daher zu der Frage zwei unterschiedliche Standpunkte: denjenigen einer kleinen Gemeinschaft, die sich auf die Allgemeine Relativitätstheorie stützte, und denjenigen einer großen Gemeinschaft, die auf die Quantentheorie der Felder setzte. Diese kulturelle Kluft existiert noch immer. Bei Diskussionen findet man stets die Stringtheoretiker, die erklären: «Ihr versteht die Quantentheorie der Felder nicht!», und die Schleifentheoretiker, die prompt zurückgeben: «Und ihr, ihr versteht die Allgemeine Relativitätstheorie nicht!» Vielleicht ist an beiden Vorwürfen etwas Wahres…
Außerhalb der Strings und der Schleifen gibt es auch noch andere Ideen und Entwicklungen. Vor allem Alain Connes hat eine andere mathematische Beschreibung des physikalischen Raums entwickelt, die «nicht kommutative Geometrie», die stark von der Struktur der Kräfte motiviert ist, welche auf die Elementarteilchen wirken (das Standardmodell). Connes wendet dabei eine ähnliche Übertragung wie Einstein an, der sich bei der Entdeckung der Speziellen Relativitätstheorie von der Maxwell’schen Theorie der elektromagnetischen Kraft beeinflussen ließ. Ich habe Alains Ideen studiert, sogar selbst ein paar marginale Artikel beigesteuert, und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn die nicht kommutative Geometrie in der einen oder anderen Weise zu der Synthese beitragen würde, die wir suchen.
Andere, sehr interessante Ideen zur Quantengravitation stammen von Roger Penrose, dem Erfinder der Spin-Netzwerke. Sein Sachbuch (The Road to Reality: A Complete Guide to the Laws of the Universe), das nicht ganz leicht zu lesen ist, vermittelt ein umfassendes und tiefgreifendes Bild all dessen, was wir über die Welt wissen.
Die Beziehungen zwischen der Welt der Strings und derjenigen der Schleifen waren mitunter stürmisch, und nicht selten flogen Anschuldigungen hin und her («Sie verstehen überhaupt nichts!», «Ihre Berechnungen sind völlig falsch!», «Ihre Arbeiten sind voller Fehler!»), auch (oder vor allem) in den wissenschaftlichen Komitees, die über Finanzmittel und Posten für junge Forscher zu entscheiden haben. Aber auf einem Gebiet, das an vorderster Front der Forschung steht, ist eine solche Verwirrung unausweichlich, und so kann es passieren, dass sich zwischen Wissenschaftlern, die sich seit Jahren ihrer Leidenschaft widmen und dabei einem bestimmten Weg folgen, Kontroversen entwickeln, die ans Irrationale heranreichen. Polemik ist ein notwendiger Bestandteil von Fruchtbarkeit und Fortschritt des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses.