Im 7. Jahrhundert v. Chr. stand die griechische Zivilisation in voller Blüte. Sie entwickelte sich lange nach anderen großen Zivilisationen in der näheren Umgebung, Ägypten und Mesopotamien, von denen sie viel übernahm. Aber sie unterschied sich auch grundlegend von beiden. Diese antiken Zivilisationen besaßen eine geordnete Struktur, sie waren stabil und hierarchisch organisiert. Die Macht war zentralisiert, und die Gesellschaft entwickelte sich im Rahmen einer stabilen Ordnung. Diese Gesellschaften waren protektionistisch und traten kaum mit Ländern jenseits ihrer Grenzen in Kontakt, es sei denn im Zusammenhang mit Konflikten und Kriegen.

Die junge griechische Welt war hingegen außerordentlich dynamisch und in ständigem Wandel begriffen. Es gab keine Zentralgewalt. Jede Stadt war unabhängig, und innerhalb einer jeden Stadt wurde die Machtvergabe ständig zwischen den Bürgern verhandelt. Die Gesetze waren weder heilig noch

In diesem grundlegend neuen kulturellen Klima wurde etwas völlig Eigenständiges entwickelt: Wissen, das auf logischem Denken und Kritikfähigkeit beruht. Ein dynamisches Wissen, das sich weiterentwickelt und wagt, traditionelle Ideen und auch sich selbst in Frage zu stellen. Die neue Autorität der Erkenntnis erwuchs nicht aus der Tradition oder der Macht oder der Berufung auf ewige Wahrheiten, sondern aus der Fähigkeit, die anderen von der Richtigkeit der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Es gab kein Verbot, traditionelle Vorstellungen zu hinterfragen, sondern ganz im Gegenteil war das durchaus erwünscht; daraus speisten sich Dynamik und Kraft dieses Denkens, und es garantierte, dass es auch weiterhin zu Verbesserungen kommen würde. Es war der Anbruch eines neuen Zeitalters.

Sicherlich beschreibe ich hier nicht die konkrete Realität der wissenschaftlichen Forschung in ihrer ganzen menschlichen, sozialen und pekuniären Komplexität, sondern vielmehr die idealen Regeln, auf die sich die Praxis beziehen muss. Diese Regeln sind sehr alt; wir finden sie in Platons berühmtem «Siebten Brief» beschrieben, in dem der Autor (hier zitiert in der klassischen Übersetzung von Hieronymus und Friedrich Müller nach «Platon. Sämtliche Werke», Band 3, Reinbek 1998, Randnummer 344b9) mit leidenschaftlichen Worten erklärt, wie man die Wahrheit suchen solle:

 

 

Man muss durch einen ehrlichen intellektuellen Prozess, durch Lernen und dadurch, dass man der Natur und anderen zuhört, um Verstehen ringen. Im Zentrum steht das klare Eingeständnis der Tatsache, dass unsere Vorstellungen falsch sein können. Seit Platon haben wir einen langen Weg zurückgelegt, doch wir befinden uns noch immer auf dem Pfad, den er uns vorgegeben hat: eine ideale Suche nach Erkenntnis durch den Dialog, nach Einigung im Rahmen einer rationalen Diskussion.

Die Beziehungen der Naturwissenschaften zur Demokratie, die im selben Jahrhundert in derselben Region aus der Taufe gehoben wurde, sind offensichtlich. Idealerweise ist Demokratie ein Prozess, bei dem diejenige Person, die die Entscheidungen trifft, auch in der Lage ist, ihre Idee mit Argumenten zu stützen und die Bevölkerung hinreichend zu überzeugen. Die

Die Naturwissenschaften und die Demokratie wurden daher gemeinsam, an genau demselben Ort und zur selben Zeit, geboren, und sie atmen denselben Geist: den Geist einer ernsthaften Rationalität und eines intelligenten Dialogs. Dieser Geist ist eine der Säulen, auf der unsere Kultur ruht.

Ganz offensichtlich gibt es in den Naturwissenschaften wie in der Politik einen Graben zwischen dem Ideal und der alltäglichen Wirklichkeit. Aber diese Ideen sind einander analog. Die effizienteste Methode, die wir gefunden haben, um die Welt zu verstehen (die Naturwissenschaften), und die beste Art und Weise, die wir gefunden haben, den kollektiven Entscheidungsprozess zu organisieren (die Demokratie), haben vieles gemeinsam: die Toleranz, die Debatte, die Vernunft, die Akzeptanz anderer Standpunkte, das Lernen, die

Jeder Fortschritt im naturwissenschaftlichen Verständnis der Welt ist gleichzeitig ein Bruch mit früherem Denken. Das wissenschaftliche Denken hat daher stets etwas Subversives, etwas Revolutionäres. Jedes Mal beschreiben wir die Welt neu, wir verändern die Struktur unserer Gedanken, den Rahmen unserer Darstellung der Welt. Sogar der Begriff Revolution verdankt seine aktuelle Bedeutung angeblich dem Text des Kopernikus «De revolutionibus orbium coelestium» (deutsch: Über die Umschwünge der himmlischen Kreise), wobei sich der Begriff einfach auf die Kreisbewegungen der Planeten bezog, vor allem auf die Kreisbewegung der Erde um die Sonne. Die Wirkung dieser neuen Weltsicht war dermaßen umwälzend, dass seitdem in jeder «Revolution» eine Hommage an die kopernikanische Wende inbegriffen ist.

Offen zu sein für wissenschaftliche Erkenntnis,

Auf der Universität werden die Naturwissenschaften ganz im Gegenteil häufig als eine Ansammlung «feststehender» Tatsachen und «Gesetze» oder als eine Übung zur Lösung von Problemen gelehrt. Diese Art des Unterrichtens übt Verrat an dem eigentlichen Wesen naturwissenschaftlichen Denkens. Meines Erachtens müssen wir kritischen Geist lehren und nicht den Respekt vor Lehrbüchern. Wir müssen Schüler und Studenten einladen, die ihnen präsentierten Ideen in Zweifel zu ziehen und ihnen, wie auch den Lehrenden, nicht blind zu vertrauen. Auf diese Weise hilft man jungen Menschen, an die Zukunft zu glauben und daran, dass man eine lebendige und dynamische Gesellschaft formen kann, die sich weiterentwickelt.

Die Naturwissenschaften müssen als das gelehrt werden, was sie sind, nämlich ein faszinierendes menschliches Abenteuer, eine Verkettung von Zeiten großer Verwirrung, geduldiger Suche nach neuen Lösungen, schwindelerregender konzeptueller Sprünge und blitzartigen Verstehens, wenn sich die

 

Zudem lässt sich die historische Entwicklung der Naturwissenschaften niemals von den Entwicklungen in der Kunst, der Literatur und der Philosophie trennen. Jeder dieser Bereiche hat zum Aufbau naturwissenschaftlicher Ideen beigetragen und ist im Gegenzug von dem Weltverständnis gespeist worden, das die Zivilisation einer jeden Epoche erfüllt. Ich würde mir ein Bildungssystem wünschen, das junge Menschen dazu anregt, das intellektuelle Abenteuer zu verstehen und zu schätzen, das zu den gotischen Kathedralen wie auch zu Newtons Principia geführt hat, zur Malerei der Sienesischen Schule im 14. Jahrhundert und zur Molekularbiologie, zu den Theaterstücken Shakespeares und der reinen Mathematik. Es handelt sich um dasselbe intellektuelle Erbe und ergibt nur Sinn, wenn man all dies zusammennimmt.

Es gibt ebenso viel Schönheit, Intelligenz,

Heute sind dunkle Wolken über dem Planeten aufgezogen. Gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind ausgeprägter als je zuvor, und die Schere öffnet sich immer weiter. Das Geschrei von politischen Verfechtern unerschütterlicher religiöser Überzeugungen, die die Menschen voneinander trennen, wird von allen Seiten immer lauter. Die Leute klammern sich an ihre lokalen Identitäten, sie misstrauen und fürchten sich gegenseitig. Die Konflikte radikalisieren sich. Gegner werden mehr und mehr als Vertreter des Bösen gesehen und von beiden Seiten diabolisiert. Verhandlungen werden immer weniger geschätzt.

Mich beunruhigt dieser Aufschwung des Irrationalen sehr und er macht mich auch sehr traurig. Die Naturwissenschaften halten uns an, unsere Unwissenheit, unsere Grenzen und die Tatsache zu erkennen, dass es beim «anderen» mehr zu lernen als zu fürchten

Von den zehn Kreuzzügen, die von Europa ausgegangen sind, waren neun Anlass für von Kreuzrittern geführte Kriege. Der sechste Kreuzzug wurde jedoch von Friedrich II., einem großen europäischen Staatsmann, durch Verhandlungen mit dem Sultan Malik al-Kamil über die Kontrolle Jerusalems gelöst – zum großen Missfallen des Papstes, des Verwahrers einer Wahrheit, die weder Kritik noch Teilen zulässt.

Trotz aller Spannungen glaube ich, dass inzwischen eine planetare Zivilisation in Entwicklung begriffen ist und Gestalt annimmt. Wie Menschen gedeihen Zivilisationen durch Mischung und stagnieren, wenn sie sich abschotten. Darum ist die heutige Globalisierung eine großartige Chance für die Menschheit, selbst wenn diese Globalisierung manchmal beunruhigend ist. Das naturwissenschaftliche Denken in all seiner dynamischen und rationalen Kraft, dieses bedeutende Erbe der antiken griechischen Zivilisation, das vom modernen Europa wiedergefunden und weiterentwickelt wurde, stellt vielleicht mehr noch als die Literatur, die schönen Künste oder die Philosophie das Herz

Natürlich sind die Bereiche begrenzt, in denen sich der naturwissenschaftliche Ansatz direkt anwenden lässt. Die Naturwissenschaften spielen bei den meisten unserer drängendsten sozialen oder persönlichen Probleme eher eine Nebenrolle. Das wissenschaftliche Denken hat jedoch zur Formung unserer Gesellschaft und ihres Denkens beigetragen, und es stellt einen kulturellen Grundwert dar. Dieses Denken gehört zu den besten Methoden, die die Menschheit entwickelt hat, um Fehler zu korrigieren und Wissen zu vermehren, das geteilt werden kann.

 

Ich bin Italiener, Franzose und Europäer. Ich will gleichzeitig Europäer und Weltbürger sein. Diese Identitäten schließen sich nicht aus, sondern bereichern sich gegenseitig. Wenn Europa bedeutet, stärker zu werden und unsere Privilegien gegen andere zu verteidigen, so interessiert mich dieses Europa nicht. Wenn Europa hingegen bedeutet, die eigenen Verbrechen

In diesem Fall könnte Europa vielleicht einen Schritt tun, um unserem ältesten und größten gemeinsamen Traum näher zu kommen: eine Welt für alle, in der der Dialog den Sieg über Aggression und Gewalt davonträgt.

 

Vielleicht ist das nur ein Traum. Eine märchenhafte Vorstellung von einer anderen Welt, die nicht der realen Welt entspricht. Aber: Ich habe in der Wissenschaft gelernt, dass es die eine reale Welt nicht gibt. Die Welt ist niemals so, wie wir denken, sie verändert sich vor unseren Augen.

Unsere Welt ist aufgebaut auf der Rebellion früherer Generationen angesichts gesicherter Anschauungen, auf ihrem Bemühen, anders zu denken. Unsere Sicht der Welt, unsere Wirklichkeiten, stellen die Umsetzung ihrer Träume dar. Es gibt keinen Grund, sich vor der Zukunft zu fürchten: Wir können auch weiterhin rebellieren, von anderen möglichen Welten träumen und sie suchen.

Heute bin ich von jungen Menschen umgeben, die

Wenn diese jungen Leute mich fragen, so rate ich ihnen eindringlich davon ab, eine Karriere als Forscher anzustreben, genauso, wie meine Professoren mir damals abgeraten haben. Ich erzähle ihnen von der erbitterten Konkurrenz um Stellen, von der Schwierigkeit des Themas und den enormen Risiken dieses anspruchsvollen Berufs. Ich sage ihnen, dass es gefährlich ist, nur seiner Passion zu folgen. Aber heimlich hoffe ich, dass sie die Leidenschaft und die Kraft aufbringen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und ihren Träumen zu folgen.