3
Mia
Ich konnte nicht aufhören, immer wieder zu schreien, dass ich ihn liebte. Meine Stimme wurde immer schriller und lauter. In den vergangenen Monaten hatte ich wer weiß wie oft meinen Liebesschwur gegenüber Shawn wiederholt. Aber wie oft ich in den vergangenen Stunden zu ihm gesagt hatte, dass ich ihn liebte, brach alle Rekorde. Die Kämpfer hinter ihren Türen mussten denken, dass ich völlig durchgeknallt oder um den Verstand gevögelt worden war: eine Prostituierte, die sich nach einer Nacht in einen angriffslustigen und sexuell überstimulierten Kerl verliebt hatte. Wie eine Furie strampelte ich in den Armen des Sicherheitsmanns, aber ich schaffte es nicht, mich zu befreien. Tränen flossen unaufhörlich meine Wangen hinunter. Ich schrie sogar immer noch, als wir an dem Fahrstuhl ankamen, wo sich bereits eine illustre Gesellschaft aufhielt, meine Mitstreiterinnen und zwei Kerle vom Security-Service. Ich nahm sie nur am Rande wahr und kämpfte meinen Kampf weiter, indem ich weiter in den Armen des Sicherheitsmannes wie ein Fisch herumzappelte, um mich schlug und meine Liebe zu Shawn mit immer angegriffenerer Stimme hinausschrie.
Auf einmal befanden wir uns alle in der Fahrstuhlkabine. Meine Stimme erstarb in dem Moment, als die Türen sich zuschoben. Fast gleichzeitig erschlaffte ich entkräftet in den Armen des Mannes. Es vergingen ein paar Atemzüge, bis er mich, auf die Beine stellend, losließ. Erst jetzt bemerkte ich, dass jeder der Anwesenden während meines Gezappels einen ausgezeichneten Blick auf meinen Unterleib hatte haben können, weil Shawns T-Shirt hochgerutscht war. Aber das war mir scheißegal. Ich lehnte mich erschöpft gegen die kühle Spiegelwand und schloss die Augen, weil ich spürte, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren.
„Hey, Süße!“, hörte ich eine weibliche Stimme mit starkem asiatischen Akzent plötzlich neben mir sagen. „Ich kann dich verstehen. Ich wäre auch am liebsten beim Drachen gelandet. Aber sich gleich nach einer Nacht Herumvögeln in ihn verlieben, ist schon etwas krass. Vielleicht überlebt er ja das Halbfinale und du wirst nochmal für ihn ausgelost.“
Ich blickte auf und sah eine Asiatin in rotem Kleid neben mir stehen, die mich warm anlächelte. Es war die Chinesin, die die Nacht beim Koreaner verbracht hatte. Abgesehen davon, dass sie mit leicht geröteten Augen und Schatten darunter übernächtigt wirkte, schien sie auf dem ersten Blick in gutem, gesundheitlichen Zustand zu sein, auch wenn sich ihre Schminke zum Teil nicht mehr dort befand, wo sie ursprünglich aufgetragen worden war. Ich reagierte nicht auf die Bekundung von Mitgefühl, sondern ließ meinen Blick zu den anderen Frauen schweifen. Die Koreanerin in Grün sah erstaunlich frisch und immer noch wie aus dem Ei gepellt aus. Allerdings hatte sie für mich nur ein herablassendes Grinsen übrig. Die Russin, die uns Frauen deutlich überragte, hatte, von mir einmal abgesehen, wohl am meisten leiden müssen. Sie hatte tatsächlich ein Veilchen und ihre Unterlippe sah etwas lädiert aus. Der Blick, mit dem sie mich fixierte, spiegelte Vorwurf und Feindseligkeit wider, als wäre ich für ihre Verfassung verantwortlich. Schließlich gelangte ich zur Erkenntnis, dass ich dies auch höchstwahrscheinlich war, wenn auch nur indirekt, da das Los entschieden hatte. Sergejew musste an ihr seinen Frust darüber ausgelassen haben, dass Shawn mich bekommen hatte.
Einer der drei Männer starrte auf meinen Unterleib, obwohl er nun bedeckt war. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stellte er sich gerade vor, was er mit ihm alles anstellen könnte. Angewidert starrte ich auf die Anzeige über der Tür. Sie zeigte die Zahl zwei, als der Lift anhielt. Die Tür ging auf und die Chinesin und Russin setzten sich zusammen mit einem Sicherheitsmann in Bewegung, während mich der Kerl, der mich schreiend durch den Gang getragen hatte, am Arm festhielt.
„Dann bis in vier Tagen, falls du dich wieder aufstellen lässt“, zwinkerte die Chinesin mir zu, während die Russin mich keines Blickes würdigte. Ich sah ihnen hinterher und musste feststellen, dass sich die Russin in einer Art und Weise fortbewegte, wie ich es wohl getan hätte, hätte Shawn seine Ankündigung damals im Holiday Inn wahrgemacht, beziehungsweise wäre ich nicht vorzeitig abgehauen. Ich schluchzte ungehemmt vor den verbleibenden Leuten auf. Mit Sicherheit war ich inzwischen das Gespött des Schiffes. Erst mein clownreifes Umknacksen in den Pumps. Dann mein erbarmungswürdiger Auftritt in Shawns Kabine. Und zu guter Letzt die lautstarke Szene, die ich auf dem Gang gemacht hatte und bei der alle Anwesenden freien Blick auf meine nackte Pussy hatten. Da kam es auf einen weiteren emotionalen Zusammenbruch nicht mehr an. Inzwischen war mir alles gleichgültig. Sollten sich doch alle über mich totlachen. Keinen von ihnen würde ich jemals wiedersehen. Nichts konnte schlimmer sein, als Shawn zu verlieren. Mir fiel einer seiner letzten Liebesschwüre im roten Zimmer ein, als er sagte, ich dürfe nie vergessen, dass er mich liebte. Und genau das würde ich auch tun. Egal, was am Vorabend und die vergangene Nacht passiert war, ich würde es nicht vergessen. Ich fühlte es mehr, als dass ich es wusste. Die hässlichen Dinge, die er zu mir gesagt hatte, und die lieblose und kaltherzige Art, wie er mich behandelt hatte, hatten mich mehr getroffen, als die in seinen Augen stattgefundene Vergewaltigung.
Der Lift hatte mittlerweile seine Fahrt aufgenommen und hielt in Deck drei, wo sich meine Kabine und offenbar die der Koreanerin befand. Den gesamten Weg bis zu meiner Kabine hielt mich der Sicherheitsmann am Arm fest. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich würde davonlaufen. Wenn er wüsste, dass ich froh über seinen festen Griff war. Meine Beine waren wie Wackelpudding. Eine der schrecklichsten Nächte lag hinter mir, die ihren Tribut forderte. Ich hatte kaum ein Auge zugetan. Wenn ich mal kurz weggedöst war, hatte es nicht lange gedauert, bis ich aufschreckte, weil ich das Gefühl gehabt hatte, ich würde ersticken. Meine Nase war von dem vielen Weinen verstopft. Immer wieder schnaubte ich den Schleim, der sich darin gesammelt hatte, in das Kissen. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Schleimhäute angeschwollen waren, sodass mir das Atmen schwergefallen war. Wenn Shawn wüsste, wie sehr ich durch den Knebel gelitten, oder dass er mich durch sein brutales Eindringen verletzt hatte, dann würde er zusammenbrechen. Andererseits konnte er es sich denken. Er war ein Verbrecher und hatte auch schon Entführungen für de Gutierra vorgenommen. Ich war mit Sicherheit nicht die Erste, die von ihm geknebelt wurde. Und was die Vergewaltigung anbelangte, so hatte er ja meine Verletzungen gesehen, die mir Eduardo zugefügt hatte.
Wir hielten vor einer Kabinentür an. Einer der Sicherheitsmänner klopfte. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Tanaka erschien. Ich sah ihn nun schon zum zweiten Mal nur in Unterwäsche. Dieses Mal trug er eine Boxershorts. Er war sehr schlank, aber drahtig, genauso wie ich ihn mir unter seinem Anzug vorgestellt hatte. Sein Blick glitt ernst über meinen Körper und kehrte zu meinem Gesicht wieder zurück. Dann verließ er sein Quartier und öffnete die Tür meiner Kabine. Die Sicherheitsleute verschwanden inzwischen. Bevor ich eintrat, trafen sich erneut unsere Blicke. Seine Miene hatte nichts von ihrem Ernst verloren. Ich glaubte sogar, so etwas wie Mitgefühl darin zu entdecken. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, weil ich eigentlich erwartet hatte, dass mich Belustigung treffen würde. Er deutete ein knappes Nicken an, machte Anstalten, wieder zu gehen, verharrte dann jedoch zwei Atemzüge, als ob er noch etwas zu sagen hätte, verließ dann aber doch die Kabine ohne ein weiteres Wort.
Allein gelassen stand ich mitten in meiner Kabine nur mit BH und Shawns Shirt. Ich umschlang mich mit meinen eigenen Armen und stellte mir vor, es wäre Shawns Körper, der in dem Stück Stoff steckte. Eine neue Tränenflut brach heiß hervor. Ich hörte Stimmen, von Maikos und Yaekos Kabine kommend, dann Stille und wenige Augenblicke später klopfte es an der Verbindungstür. Ich reagierte nicht darauf. Sie würde sie ohnehin öffnen. Und dies tat sie auch einen Sekundenbruchteil später. Yaeko erschien im Türrahmen. Ihren Gesichtszügen konnte ich entnehmen, dass sie eine von den Hunderten Zuschauern meiner und Shawns Tragödie gewesen war. Sie kam auf mich zugeeilt und umarmte mich, schweigend, mitfühlend, tröstend. Ich ließ es zu, weil ich es nach den Stunden der Angst, Verzweiflung, Gewalt und Gefühlskälte brauchte. Sie hielt mich fest und weinte zusammen mit mir.
Ich wusste nicht, wie lange wir so dastanden. Ich hatte das Denken eingestellt und ließ alles an Emotionen aus mir raus, weil da jemand war, der mich auffing, der mit mir litt, der dabei die Rolle des einen Menschen übernahm, welchen ich mehr als jeden anderen herbeisehnte, damit er mich hielt und tröstete. Aber dieser Mensch stand auf der anderen Seite. Er war derjenige, der mein Herz in tausend Stücke hatte brechen lassen.
„Mia“, sagte Yaeko nach einer Weile, „ich denke, du solltest eine heiße Dusche nehmen. Danach wird es dir bestimmt besser gehen.“ Sie löste sich etwas von mir und sah mir in die Augen. „Wenn du nichts dagegen hast, dann bleibe ich bei dir und helfe dir. Anschließend kommst du mit nach drüben und frühstückst mit uns. Du hast fast vierundzwanzig Stunden lang nichts zu dir genommen.“
„Das wird Maiko nicht erlauben.“
„Doch. Es war ihre Idee. Sie hat mich zu dir geschickt, ohne dass ich sie darum bitten musste.“
Während ich unter dem heißen Strahl Wasser stand und Yaeko mir frische Kleidung aus dem Kleiderschrank herbeischaffte, grübelte ich die ganze Zeit darüber nach, was Maiko wohl dazu veranlasst hatte, mich zusammen mit ihnen frühstücken zu lassen. Bisher hatte ich jede Mahlzeit allein zu mir genommen. Es gab nur eine Erklärung dafür: Sie hatte zusammen mit Yaeko vor dem Fernsehgerät gesessen und Shawn und meinem langweiligen, tragischen Programm, das wir geboten hatten, zugeschaut.
Yaeko empfing mich mit einem Handtuch, als ich aus der Duschkabine stieg. „Hast du Schmerzen?“, fragte sie, dezent mit dem Kopf auf meine untere Region deutend.
Ich schüttelte den Kopf. „Es brennt nur ein wenig. Ihr habt also alles gesehen, was in Shawns Quartier passiert ist?“, fragte ich sie überflüssigerweise.
„Ja. Es tut mir leid, dass wir in eure Privatsphäre eingedrungen sind, aber ich habe mir Sorgen gemacht. Nicht, dass ich hätte sehen wollen, wie ihr beide Sex habt. Aber ich wollte einfach nur wissen, dass alles zwischen euch geklärt wird und nun ja ...“ Sie ließ das Ende ihres Satzes in der Luft hängen.
„Ja, das wurde es eindeutig, wenn auch anders als ich es mir vorgestellt hatte.“
Ich trocknete mich ab und verdrängte die Bilder der Nacht in meinem Kopf.
„Es tut mir so leid, Mia. Aber Maiko und ich sind uns einig, dass er dich trotz allem, was er getan hat, liebt.“
Ich sah zu ihr auf.
„Ich weiß, Yaeko. Mich wundert es, dass Maiko offenbar so viel Interesse für mein Schicksal zeigt. Ich dachte, ich wäre ihr egal und für sie nur ein lästiger Auftrag, der zu ihren Aufgaben als Gesellschafterin Kurosakis gehört.“
„Das dachte ich auch. Aber da haben wir uns wohl beide getäuscht. Sie hat gestern Abend sofort den Fernseher eingeschaltet und den Kanal gesucht, auf dem ihr zu sehen wart. Ich habe sie beobachtet. Sie hatte zunehmend Probleme, ihre Emotionen zurückzuhalten. Als Shawn ins Bad stürmte, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Zu diesem Zeitpunkt liefen meine schon lange. Jedes Mal, wenn er im Bad war, teilte sich der Bildschirm in zwei Hälften, sodass man gleichzeitig beide Räume sehen konnte. Er hat den Spiegel mit der Faust zertrümmert und gegen alles geschlagen und getreten, was ihm in den Weg gekommen war.“
Ich nickte. „Ja, das passt zu den Geräuschen, die ich gehört habe.“
„Das, was er dir angetan hat, ist ihm nicht leicht gefallen. Es hat ihm sehr, sehr zugesetzt.“
„Ich weiß. Ich habe es gefühlt. Aber er hat sich nur selbst damit geschadet. Sein Plan, mich dazu zu bringen, ihn zu hassen, ist nicht aufgegangen. Er hat tatsächlich gedacht, dass ich ihn nicht durchschauen würde. Dieser dumme Kerl!“
Yaeko ging zu Maiko hinüber, damit ich noch ein wenig Zeit für mich allein hatte. Mein Knöchel schmerzte immer noch, sodass ich mich nur hinkend fortbewegen konnte. Ich stand vor dem Spiegel und betrachtete mich. Mein Gesicht war sauber. Allerdings sahen meine Augen durch den Kajal, den Maiko großzügig aufgetragen hatte, immer noch wie geschminkt aus. Die schlaflose und zermürbende Nacht war mir ins Gesicht geschrieben. Yaeko hatte einmal mehr bewiesen, dass sie ein sehr einfühlsamer und rücksichtsvoller Mensch war. Ich trug nur meine eigenen Kleider auf dem Leib: Unterwäsche, Leggins und meinen grauen Strickpulli, der für die Gefilde, in denen wir uns gerade befanden eigentlich nicht geeignet war. Da die Kabinen jedoch klimatisiert waren und ich ohnehin durch den Schlafmangel und die Angst, die immer noch in mir wütete, fror, war er genau richtig.
Sie hatte auch damit recht behalten, dass ich mich nach der Dusche besser fühlte. Meine Haare waren ein einziges Chaos. Die Hochsteckfrisur hatte die Nacht nur halb überlebt. Einige der Haarnadeln musste ich in Shawns Bett verloren haben. Da ich keine Spülung verwendet hatte, war ein Durchkommen mit dem Kamm unmöglich. Also nahm ich die Finger und kämmte grob durch die langen, zum Teil mit Haarknoten versehenen Strähnen. Auf diese Weise hatte Shawn mir zuletzt in dem üppigen Badezimmer die Haare entwirrt. Erneut wollte heißes Nass aus meinen Augen drängen. Doch ich kämpfte mit einem Kloß im Hals dagegen an. Erfolgreich. Irgendwann mussten die Tränen ja auch versiegen.
Das erste Mal, seit ich mich auf dem Luxusdampfer befand, war ich froh, die nächste Stunde oder vielleicht sogar ein wenig länger nicht allein in meiner Kabine verbringen zu müssen. Es tat gut zu wissen, dass da offenbar zwei Menschen waren, die mit mir gelitten hatten. So fühlte ich mich wenigstens nicht mehr ganz so allein und verlassen. Verlassen von dem Mann, den ich so sehr liebte, obwohl er mir Gewalt angetan und herzbrechende Dinge gesagt hatte. Außerdem war ich neugierig auf Maiko und ihren augenscheinlichen Sinneswandel, der mein ohne Zweifel melodramatischer und peinlicher Auftritt bei Shawn ausgelöst hatte.
Als ich zu den beiden Japanerinnen in den wesentlich geräumigeren und mit mehr Luxus ausgestatteten Kabinenraum trat, wurde ich sogleich herzlich von Yaeko empfangen. Sie führte mich zum Essbereich, wo an einem Tisch, der Platz für sechs Personen bot, Maiko bereits wartete. Sie saß an einer der beiden Stirnseiten. Yaeko ließ sich zu ihrer Rechten nieder.
„Bitte setzen Sie sich, Mia!“, forderte sie mich höflich und weniger distanziert als sonst auf und zeigte auf den Stuhl zu ihrer Linken. Ein scheues Lächeln begleitete ihre Bitte. Unser Blickkontakt hielt nicht lange an, da sie ihre Augen auf den gedeckten Tisch richtete.
„Maiko-sama und ich haben ein typisch japanisches Frühstück zubereitet. Unsere Kabine hat ja eine kleine Küche. Wir hoffen, dass es dir schmeckt. Es weicht nicht allzu sehr von dem typisch englischen Frühstück ab.“
Erstaunt sah ich zu Maiko, die mir gerade Tee in eine Tasse goss.
„Sie
haben tatsächlich Frühstück gemacht ... auch für mich?“
„Ja, warum nicht?“, erwiderte sie etwas in verletztem Ton. „Ich kann kochen. Das muss ich als Gesellschafterin.“
„Aber für mich, eine Gefangene?“
Das erste Mal, seit ich mich in der „Obhut“ dieser perfekten und über allen Dingen stehenden Frau befand, las ich Betretenheit und Schuldbewusstsein von ihren Gesichtszügen ab. Sie räusperte sich und überging meine Bemerkung, indem sie mich darüber aufklärte, was für Speisen auf dem Tisch standen. Die japanischen Namen konnte ich mir nicht merken. Aber es gab süße und salzige Reisbällchen, japanische Eirolle, eingelegtes Gemüse und angeschnittene Würstchen, die wie Kraken aussahen, sowie eine Suppe. Auch wenn nichts dabei war, was ich normalerweise zum Frühstück zu mir nahm, verspürte ich Appetit. Ich legte mir von allem etwas auf den Teller. Auf die Suppe verzichtete ich.
Wir aßen eine Weile schweigsam, bis Yaeko auf einmal die Stille unterbrach: „Maiko-sama hat recht behalten. Sie meinte, dass man in Gesellschaft mit mehr Appetit isst. Und das tust du offenbar.“
„Ja, danke. Es schmeckt wirklich gut. Noch dazu bin ich ziemlich ausgehungert gewesen.“
„Freut mich, dass es Ihnen schmeckt“, sagte Maiko mit der Andeutung eines Lächelns.
Yaeko goss mir Tee nach und ich bediente mich ein zweites Mal von den festen Speisen. Bis auf den kurzen Wortwechsel herrschte Schweigen. Die Stille wurde nur von meinem klappernden Besteck gestört. Yaeko und Maiko benutzten Stäbchen. Eine seltsame Atmosphäre schwebte im Raum. Etwas war anders. Ich hatte den Eindruck, dass sich das Verhältnis zwischen Maiko und Yaeko verändert hatte. Yaeko kam mir in Maikos Anwesenheit weniger eingeschüchtert und viel offener vor. Ein paarmal lächelte sie ihrer Vorgesetzten sogar zu, was ich bisher noch nie erlebt hatte. Aber die größte Veränderung ging von Maiko aus. Wenn sich unsere Blicke kreuzten, dann sah ich nicht mehr die gewohnte Arroganz und Kälte in ihrem Ausdruck. Sie als Eiskönigin zu betiteln schien mir auf einmal nicht mehr ganz so angemessen. Sie machte einen verwundbaren und verunsicherten Eindruck. Vielleicht hing dies mit ihrem Gefühlsausbruch zusammen, von dem Yaeko mir erzählt hatte.
Schließlich aß ich das letzte Stück Eirolle, während die anderen beiden schon lange fertig waren. Es sprach immer noch keiner ein Wort. Yaeko warf hin und wieder Maiko Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Schließlich erhob sie sich und begann, den Tisch abzuräumen.
„Mia“, setzte Maiko nach einem Räusperer an, „ich ... ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“
Wie bitte? Sie wollte sich bei mir entschuldigen?
„Ich habe Ihre Lage falsch eingeschätzt oder mir war nicht bewusst, was diese Angelegenheit mit Kurosaki-sama für Sie bedeutet.“
Einerseits fand ich es rührend, dass sie sich entschuldigte. Andererseits machte mich ihre Erklärung wütend.
„Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, was so schwierig daran war, meine und Shawns Lage richtig einzuschätzen. Man hat uns unser Baby gewaltsam weggenommen. Sie haben eine Nacht mit Benny im selben Haus verbracht und wussten sehr wohl, dass er seinen Eltern entrissen worden war. Dass es zwischen Shawn und mir etwas Ernsteres ist, hätten Sie sich doch denken können. Wenn es nicht so wäre, dann würden wir nicht mit Zwillingen, die wir adoptieren wollen, wie eine richtige Familie zusammenleben.“
„Was das Baby anbelangt, so gebe ich Ihnen recht. Ich muss zugeben, dass mich die Entführung nicht sonderlich berührt hat. Ich habe keine eigenen Kinder und kann auch nicht gut mit ihnen. Diese Entführung war für mich eine abstrakte Sache. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn Ihr Sohn die ganze Zeit geschrien hätte. Das hat er aber nicht. Yaeko hat sich gut um ihn gekümmert.“
Sie machte eine Pause und sah mich an, als erwarte sie von mir ein verständnisvolles Nicken.
„Soll ich Ihnen schildern, wie ich mich zu dem Zeitpunkt gefühlt habe, als mir, während ich dem Entführer hinterhergerannt bin, klar wurde, dass ich ihn nicht einholen und er mit Benny in den Wagen steigen würde und dass er dann für mich unerreichbar wäre? Dieses Gefühl wünsche ich nicht mal meinem größten Feind. Doch! Einem wünsche ich es. Kurosaki. Ich dachte, ich würde sterben.“
Yaeko trat an den Tisch und tauschte mit Maiko einen bekümmerten Blick aus.
„Ja, das muss wirklich ein Albtraum für Sie gewesen sein. Das tut mir aufrichtig leid. Seit letzter Nacht verstehe ich Sie viel besser. Ich habe gesehen, wie groß ihre Liebe zu dem Drachen ist. Dass jetzt so viele Menschen Zeuge ihrer privaten Tragödie waren, ist demütigend. Und ich war auch eine von diesen Zuschauern. Sie müssen mir aber glauben, Mia, ich tat es nicht aus Sensationslust oder Voyeurismus. Als ich zum ersten Mal von der Auslosung der Frauen von Kurosaki erfuhr, war ich entsetzt darüber. Ich hätte es mir niemals angeschaut. Aber als ich dann die Kämpfer in der Arena gesehen habe, vor allem den Russen und den Drachen, da habe ich mir Sorgen um sie gemacht. Ich hatte ein ungutes Gefühl schon allein wegen der Begegnung zwischen ihnen beiden am Fahrstuhl. Und dann noch die Droge, die den Kämpfern gegeben wird.“
Maiko hatte noch nie so viele Sätze hintereinander gesprochen. Mir fehlten die Worte, also nickte ich nur.
„Ich habe mit Ihnen gelitten. Wir beide haben mit Ihnen gelitten“, sie blickte zu Yaeko hinüber, die mit dem Geschirr bei der kleinen Küchenzeile herumklapperte. „Ich bewundere Sie für Ihren Mut, dass sie diese Gefahr auf sich genommen haben. Ich hielt Sie für naiv und durchgeknallt. Aber jetzt kann ich nachvollziehen, weshalb Sie das Risiko eingegangen sind. Man konnte sehen, wie sehr Sie ihn lieben. Ich begriff es aber erst, nachdem er Sie ... vergewaltigt hat.“
Ich schluckte hart über Maikos Formulierung. Für die Zuschauer musste es wahrscheinlich auch wie eine Vergewaltigung ausgesehen haben. Bevor ich protestieren konnte, fuhr sie fort.
„Im ersten Moment war ich wütend auf Sie und ihn: auf Sie, weil Sie sich nicht gewehrt haben, und auf ihn, weil er Ihnen das angetan hat. Aber als er sich dann ins Bad flüchtete und ich sah, wie sehr ihn das alles mitgenommen hat, da verstand ich erst, was sich zwischen Ihnen abgespielt hat.“
Es beruhigte mich, dass ein oder zwei Personen Shawn nicht für einen kaltblütigen Vergewaltiger hielten.
„Ich weiß das alles. Und Sie haben durch die Worte, die heute Nacht zwischen uns gefallen sind, einiges über uns erfahren. Auch wenn er es abgestritten hat, glaubt er dennoch daran, dass wir Seelengefährten sind. Das weiß ich. Dieses Band von dem ich gesprochen habe, hat sich bei unserer allerersten Begegnung in unserem Heimatort in Schottland manifestiert. Wir haben oft genug diese Verbindung gespürt. Wir können sie aktiv herbeiführen. Heute Nacht hat er alles getan und gesagt, um mir wehzutun – körperlich wie seelisch -, nur damit ich ihn loslasse und mich von ihm abwende. Er denkt, seine Vergangenheit stellt für mich und die Kinder eine Gefahr dar.“
„Sie wollen es sicherlich nicht hören, aber damit hat er nicht unrecht.“
„Ja, genau. Ich will davon nichts hören. Es ist mir egal. Das, was zwischen uns ist, ist es wert, dieses Risiko einzugehen.“
„Und die Kinder? Denken Sie auch an Sie? Warum wollen Sie überhaupt die beiden Kinder adoptieren?“
Ich erzählte ihr in aller Kürze, wie Shawn und ich uns begegnet waren und was dann in Santa Cruz auf dem Anwesen geschehen war. Natürlich musste ich mehrmaliges Kopfschütteln aufgrund meines leichtsinnigen Verhaltens hinnehmen. Aber sie hatte ja recht. Der Beginn unserer Beziehung war meiner Leichtsinnigkeit geschuldet. Und es folgten noch eine Reihe weiterer unüberlegter Taten meinerseits.
„Die beiden Kinder haben Sie also ins Herz geschlossen“, resümierte sie meine Ausführungen. „Ich verstehe.“
„Ja, und Shawn und ich sie. Wir sind zu einer richtigen Familie zusammengewachsen. Das, wovor sie die größte Angst haben, wird wahrscheinlich passieren, obwohl ich ihnen versprochen habe, dass wir zusammenbleiben werden. Wenn Shawn nicht überleben sollte oder er es tatsächlich nach dem Sieg schafft, sich vom Schiff davonzuschleichen, dann werden sie mir weggenommen und sie müssen zurück zu ihrer Tante nach Bolivien, wo sie nicht sehr willkommen sind. Sie sind gerade in die Schule gekommen. Sie haben zu uns Vertrauen gewonnen, vor allem zu mir. Sie betrachten mich als ihre Mummy, auch wenn die Erinnerung an ihre richtige nicht verblasst ist. Es wäre eine Katastrophe für sie, wenn man sie uns oder mir wegnehmen würde.“
„Aber Sie haben Shawn doch gesagt, dass Sie nur mit ihm oder tot das Schiff verlassen würden.“
Beschämt sah ich auf meine Hände, die ich wieder knetend auf dem Schoß liegen hatte.
„Ich weiß, was ich gesagt habe. Und es muss für alle Außenstehenden egoistisch und unverantwortlich klingen, was es auch ist. Aber keiner kann annähernd nachvollziehen, was es für mich und Shawn bedeutet, wenn wir getrennt sind, wenn wir ohne den anderen leben müssten.“
„Nein. Da haben Sie recht. Das könnten wahrscheinlich nur jene, die auch so tiefe Gefühle für einen Menschen hegen und von diesem erwidert werden.“
Eine betretene Stille breitete sich aus. Nur das Geschirr, mit dem Yaeko immer noch zu Gange war, klapperte hin und wieder hinter mir. Schließlich brach ich das Schweigen.
„Das Schicksal der Zwillinge und von Benny erscheint mir im Moment zweitrangig. Meine Eltern und meine Schwester sind jetzt für sie da. Dieser Gedanke genügt mir. In einer Woche oder sogar schon früher, kann ich mir den Kopf zerbrechen, was aus ihnen wird, falls ich dazu in der Lage bin, nachdem möglicherweise ein Teil von mir genommen wurde oder vor mir weggelaufen ist.“
Maiko nickte verstehend.
„Und Sie wollen sich tatsächlich noch einmal für diese Farce opfern?“
„Ja, unbedingt. Es sei denn, Yaeko will die Schuld ihres Vaters begleichen.“
Im Nu stand die junge Japanerin neben mir.
„Meine Einstellung hat sich nicht geändert. Ich will es nicht. Ich habe darüber nachgedacht. Es sind die Schulden meines Vaters. Er soll selbst zusehen, wie er aus dieser Sache mit Kurosaki-sama herauskommt. Es ist nicht nur meine Angst. Es gibt einen Mann in meinem Leben. Wir lieben uns. Aber diese Sache steht zwischen uns. Wir sind im Streit auseinandergegangen.“
„Gut. Dann ist ja alles klar“, erwiderte ich erleichtert.
„Aber Mia, was ist, wenn der Drache den Kampf gegen Sergejew nicht überlebt?“
„Daran will ich nicht denken. Er wird ihn besiegen ... und wenn doch nicht, dann ist sowieso alles egal. Ich befinde mich nicht zum ersten Mal in dieser Situation. Sergejews sadistischer Bruder hätte mich bekommen, wenn ich ihn nicht erschossen hätte.“
„Haben Sie tatsächlich vor, ihm zu sagen, dass Sie seinen Bruder getötet haben?“
„Vielleicht musst du es ihm gar nicht sagen“, warf Yaeko ein. „Wäre es nicht möglich, dass die Kämpfer Aufzeichnungen von der Nacht sehen können so wie wir, und zwar nicht nur aus ihrer eigenen Kabine, sondern auch noch aus den anderen drei. So wie ich diesen Kerl einschätze, wird er sie sich mit Sicherheit anschauen.“
Maiko sah mich entsetzt an. „Das habe ich gar nicht bedacht. Wenn Sie in seine Hände geraten, dann wird er Ihnen die Hölle auf Erden bereiten.“
„Ja. Er hat seinen Ärger darüber, dass er mich nicht bekommen hat, auch an der russischen Prostituierten ausgelassen. Sie war die Einzige von uns vier Frauen, der man angesehen hat, dass die letzte Nacht für sie ein Albtraum gewesen sein musste.“
„Ihre Nacht war auch ein Albtraum.“
„Ja, aber Shawn hat mich nicht geschlagen. Mein Herz und meine Seele haben vor allem gelitten, nicht mein Körper.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob sich dieses Risiko lohnt, sich nochmal für die Auslosung zur Verfügung zu stellen. Ehrlich gesagt, habe ich meine Zweifel, dass der Drache sich umstimmen lässt.“
Ich suchte Yaekos Blick, die mich angsterfüllt ansah.
„Dass ich ihn mit Worten umstimmen kann, glaube ich auch nicht. Aber vielleicht schaffe ich es mit Taten. Er soll sehen, dass ich ihn nicht einfach so aufgebe und dass ich bereit bin, alles zu riskieren, nur um bei ihm zu sein, ganz gleich, wie er mich behandelt hat. Ich habe es ihm angekündigt und nun werde ich es auch durchziehen. Er soll mich in drei oder vier Tagen mit den anderen drei Frauen wieder in der ersten Reihe sitzen sehen. Das wird ihn mit Sicherheit wütend machen, aber auch zusätzlich über die Maßen motivieren, Sergejew zu töten. Im Kampf gegen Sergejews Bruder war er der Unterlegene und wäre gestorben, wenn ich nicht rechtzeitig den tödlichen Schuss abgegeben hätte. Er wird so viele Gründe haben, den Kampf gegen den Russen gewinnen zu müssen: meine Rettung, seinen Stolz und sein Überleben. Wobei sein Leben ihm am wenigsten wert sein wird ... nach der letzten Nacht.“
„Ich werde Sie das nächste Mal nicht in die Arena begleiten können. Es ist mir zu aufregend. Meine Nerven und mein Herz machen das nicht mit. Ich muss mir nur für Kurosaki-sama eine Ausrede einfallen lassen. Yaeko, du wirst Mia allein begleiten müssen.“
„Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann, nachdem sie sich für mich opfert. Ich werde mit ihr gehen, auch wenn ich während des Kampfes nicht an ihrer Seite sein kann.“
Ich stand am Bullauge und beobachtete den Sonnenuntergang am Horizont. Zum ersten Mal sah ich, wie die Sonne am Horizont das Meer küsste und wie sie von Minute zu Minute hinter der Meeresoberfläche verschwand. Es war ein wundervoller Anblick zusammen mit den verschiedenen Rot- und Blautönen, die dieses nicht alltägliche Schauspiel in Szene setzten. Ich würde es jedoch nie als eine Erinnerung im Gedächtnis behalten, an die ich gerne zurückdenken würde. Ich verband damit nur Verzweiflung, Einsamkeit und Schmerz. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich dieses Naturphänomen in den Armen von Shawn hätte erleben können, zusammen mit unseren Kindern - in Freiheit, ohne Angst und erfüllt von dem Hochgefühl, jemanden zu lieben und geliebt zu werden!
Es klopfte zaghaft an der Zwischentür. Ich erwartete Yaeko. Sie klopfte immer, um sich anzukündigen, und trat dann ohne eine Aufforderung ein. Doch dieses Mal trat sie nicht ein.
„Ja?“, rief ich etwas verunsichert.
Die Tür öffnete sich und Maiko erschien. Das war eine Premiere, genauso wie das gemeinsame Frühstück am heutigen Tag. Das Mittagessen hatte ich verschlafen, da die Horrornacht ihren Tribut verlangt hatte. Maiko hatte mir auch noch ein leichtes Schlafmittel gegeben, um mir das Einschlafen zu erleichtern. Sie schloss die Tür hinter sich und kam mit einem warmen Lächeln auf mich zu. Unverhofft griff sie nach meiner Hand und bedeutete mir zu schweigen, während sie mich ins Bad führte und dann erneut die Tür schloss.
„Ich wollte noch etwas ... erklären oder klarstellen“, begann sie fast flüsternd. „Also wenn es nach mir und Yaeko ginge, dann könnten Sie jede Mahlzeit bei uns einnehmen. Aber es wäre für uns gefährlich, wenn Kurosaki-sama es erführe. Dass ich mich entsetzt über diesen Voyeurismus und die Auslosung geäußert habe, war schon fast zu viel. Er darf nicht sehen, dass ich Sympathie für Sie hege. Bitte haben Sie Verständnis dafür!“
„Ja, ich verstehe.“
„Ab und zu können wir es machen, nur nicht regelmäßig. Tanaka und Ifo sind Kurosaki-sama treu ergeben. Sie haben überall ihre Augen und Ohren. Sie berichten ihm alles, was sich in unseren beiden Kabinen ereignet. Aus dem Frühstück heute Morgen haben wir kein Geheimnis gemacht. Ich habe Tanaka angewiesen, uns Bescheid zu geben, sobald Sie zurückgebracht worden sind. Kurosaki-sama habe ich selbst davon unterrichtet. Er hat gesehen, was nach dem Kampf geschehen ist. Er verträgt keine Lügen und Täuschungen. Deshalb habe ich ihm die Wahrheit gesagt, nämlich dass Sie nach der schrecklichen Nacht etwas Gesellschaft nötig hätten.“
„Er war über den Ausgang von Shawns und meinem Zusammentreffen sicherlich hocherfreut. Es ist alles so eingetreten, wie er es eingefädelt und sich erhofft hat. Er wird bei bester Laune sein, weil Shawn seinem neuen, geregelten und bürgerlichen Leben den Rücken zukehren will.“
Sie erwiderte nichts darauf. Aber ihre betretene Miene bewies, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
„Ich habe ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie sich beim Halbfinale erneut der Gefahr aussetzen wollen.“
„Erlaubt er es?“, fragte ich und hielt die Luft an.
Maiko nickte. „Er war erstaunt und zugleich beeindruckt. Er hätte nicht erwartet, dass sie sich nach der letzten Nacht nochmal für Yaeko opfern würden. Er hält große Stücke auf Sie. Dass Sie offenbar noch nicht an Ihre Grenzen gekommen sind, fasziniert ihn. Aber er wäre nicht Kurosaki, wenn er nicht erfahren wollen würde, wie Sie reagieren, wenn Sie sie erreichen. Ja, er erlaubt es.“
Ich konnte froh sein, dass dieser Yakuza so krank im Kopf war. Hoffentlich würde die sadistische Veranlagung ihm einmal seinen Kopf kosten. Ganz gleich, wie die Auslosung ausginge. Er würde auf jeden Fall auf seine Kosten kommen. Würde ich zu Shawn kommen, würde sich mit aller Wahrscheinlichkeit dieselbe Tragödie abspielen wie letzte Nacht. Allerdings würde er mich gleich ans Bett fesseln und knebeln. Wenn die Droge ihn nicht zu sehr beeinflussen würde, würde er es nicht noch einmal soweit kommen lassen und mir wehtun. Da war ich mir ziemlich sicher. Kurosaki würde mich zwar nicht mehr seiner Gewalt ausgesetzt, aber dafür am Boden zerstört erleben, wenn ich nicht zu ihm vordringen könnte. Würde ich dem Chinesen oder dem Koreaner oder sogar Sergejew in die Hände fallen, dann würde er tatsächlich erleben, wie ich meine Grenzen erreichen würde.
Maiko räusperte sich. „Da wäre noch etwas ... etwas Persönliches. Ich habe das Bedürfnis, Ihnen davon zu erzählen. Sehen Sie es als eine weitere Form, mich bei Ihnen zu entschuldigen.“
Sie hielt kurz inne und schluckte hörbar, bevor sie fortfuhr. „Sie hatten recht. Ich habe ein Verhältnis mit Kurosaki-sama.“
Ich wusste nicht, warum, aber dieses Geständnis überraschte mich. Meine ursprüngliche Vermutung hatte ich längst verworfen, einfach aus dem Grund, weil es mich überhaupt nicht mehr interessierte. Ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt.
„Es ist kompliziert, ähnlich kompliziert wie die Situation des Drachen bei dem bolivianischen Drogenbaron. Ich bin im Grunde auch eine Gefangene. Einmal bei den Yakuza, immer bei den Yakuza. Er ist verheiratet, würde sich aber niemals von seiner Frau scheiden lassen. Er hat ein Arrangement mit ihr. Im Moment ist er meiner etwas überdrüssig. Es sind immer Phasen, in denen er meine Zuwendung in Anspruch nimmt.“
Dass sie ihre Situation mit der von Shawn verglich, rief in mir Beklemmung und Mitgefühl hervor.
„Ich bin seinen Launen ausgesetzt. Uns verbindet so etwas wie eine Hassliebe. Sie kann sehr zerstörerisch sein. Ich hadere mit meinem Schicksal und bin im Laufe der Zeit immun gegenüber das Leid anderer geworden. So auch gegenüber Ihres ... bis gestern Abend. Es ist Jahre her, dass mich etwas so berührt hat. Sie zu sehen, wie Sie für Ihre Liebe kämpfen und wie der Drache alles versucht, um Sie zu retten – möglicherweise vor demselben Schicksal wie meines, aber auch vor sich selbst und seiner Vergangenheit ... Ich habe zum ersten Mal seit langem wieder weinen können. Es hatte eine befreiende Wirkung. Es muss für Sie furchtbar klingen, aber Ihr Leid hat in mir etwas Positives bewegt.“
„Dann ist Shawns und meine Tragödie immerhin nicht vollkommen sinnlos. Für Yaeko ist die Geschichte ja zum Glück auch gut ausgegangen, auch wenn ihr Vater nach wie vor die Schulden bei Kurosaki hat. Wenn ich mich nicht für sie opfern würde, was wäre dann eigentlich geschehen?“
„Kurosaki-sama hätte sie dazu gezwungen. Sie ist mit ihm einen Vertrag eingegangen. Aber es wundert mich nicht, dass er zugelassen hat, dass Sie für Yaeko gehen. Dass er von dem Drachen besessen ist, das wusste ich. Aber nun scheinen auch Sie in seinem Fadenkreuz zu stehen. Glauben Sie mir! Wenn ich könnte, würde ich Ihnen helfen, aber mir sind die Hände gebunden. Ich bin nur eine kleine, schwache Frau, die Mätresse eines gefährlichen und mächtigen Mannes, deren Leben an einem seidenen Faden hängt.“
„Ich verstehe das. Kein Problem! Sie haben mir schon geholfen, indem Sie Kurosaki mein Anliegen vorgetragen haben.“
Etwas, was Maiko gesagt hatte, echote noch in meinem Kopf und ließ mir keine Ruhe.
„Was meinten Sie damit, dass ich vielleicht dasselbe Schicksal wie Sie erleiden könnte?“
„Ich glaube nicht, dass er ein sexuelles Interesse an Ihnen hat. Sie könnten seine Tochter sein. Aber ich fürchte, er sieht in Ihnen so etwas wie ein neues Spielzeug, genauso eines wie der Drache es war. Er will Sie brechen sehen. Wenn der Drache nicht das Finale gewinnt, dann wird er sie vermutlich nicht gehen lassen.“
„In diesem Fall würde er sein krankes Interesse an mir verlieren. Er hätte nichts mehr zu brechen. Ich werde in dem Moment brechen, wo Shawn seinen letzten Atemzug nimmt.“
„Sie kennen ihn nicht so gut wie ich oder der Drache, Mia. Er findet immer Mittel und Wege alles bis auf den letzten Rest aus einem Menschen herauszuholen.“
„Wie könnte ich denn sonst für ihn nützlich sein, wenn nicht in sexueller Hinsicht?“
„Für ihn selbst sind Sie nicht von sexuellem Interesse. Aber er findet leicht andere, die sich liebend gern in dieser Hinsicht mit Ihnen beschäftigen würden. Einmal hat er mich für ein Vergehen bestraft. Für ihn war dies eine Erziehungsmaßnahme. Ich habe meine Lektion gelernt. Seitdem ist mir nie wieder ein Fehler unterlaufen. Das ist auch der Grund, warum ich so vorsichtig sein muss, was unsere gemeinsamen Essen anbelangt.“
Maikos Antwort ließ mich erstaunlich kalt. Ich war nicht in der Lage, weiter als bis zur nächsten Runde zu denken. Und wenn diese entschieden hätte, wer das Finale bestreiten sollte, würde ich mich mit der Nacht auseinandersetzen, in der ich mich und meinen Körper einem der Gewinner ausliefern würde müssen.
„Eine Bitte hätte ich aber? Könnten Sie es irgendwie hinbiegen, dass ich nicht noch einmal mit Kurosaki ein Gespräch führen muss.“
„Ich denke, dazu wird es nicht kommen, zumindest nicht vor dem Halbfinale. Er hat auf dem Schiff einige geschäftliche Termine. So viele Unterweltbosse auf einen Fleck gibt es nicht oft. Über das Preisgeld für den Sieger hinaus laufen auch noch Wetten.“
„Okay. Vielleicht lebe ich ja nach der nächsten Runde nicht mehr. Dann hat er auch keine Gelegenheit, mich für eine Unterhaltung zu sich bringen zu lassen.“
„Falls Sie darauf anspielen, dass Sie die Nacht bei Sergejew nicht überleben würden, so kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass der Veranstalter, der ja inzwischen auch von Ihrer Verbindung zu seinem Bruder weiß, Sie dieser Gefahr aussetzt.“
„Wer auch immer dieser Veranstalter ist, ich traue ihm alles zu, auch einen Snuff-Film mit mir als Opfer.