7
Mia
Da saß ich nun – mutterseelenallein – hinter der Absperrung, wo ich mich die beiden Male zuvor in Gesellschaft der anderen Frauen befunden hatte. Warum? Mit Sicherheit der Dramatik und Theatralik wegen, und um die Sensationslust der Zuschauer zu stillen. Ich und meine Reaktionen, während Shawn um sein Leben kämpfte, war genauso spektakulär wie der Kampf. Außerdem hatte Shawn auf diese Weise die Möglichkeit, mich zu sehen und mit mir Blickkontakt aufzunehmen, wenn er denn wollte. Aber das bezweifelte ich stark.
Einmal war ich Kurosaki noch begegnet, und zwar eben, als ich Teil des Zuges seiner sämtlichen Handlanger gewesen war, die sich auf dem Schiff befanden, inklusive Maiko und Yaeko und er höchstpersönlich. Er begrüßte mich mit unterkühlter und gespielter Höflichkeit und überließ mich meinem Schicksal mit Worten, für die ich ihm am liebsten dorthin getreten hätte, wo es am schmerzhaftesten war.
„Wenn ich ehrlich bin, Mia, ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass Shawn das Finale erreicht. Alle dachten, dass Sergejew die Endstation für ihn bedeuten würde. Dafür, dass er so lange von der Bildfläche verschwunden war, hat er seinem Namen alle Ehre gemacht. Dennoch fallen die Wettquoten, die noch nebenher laufen, zugunsten des chinesischen Champions aus. Aber gut für mich. Ich werde auf Shawn setzen. Er ist nahezu in Höchstform. Ich kenne ihn und ich weiß, was er leisten kann, wenn etwas so Kostbares wie Sie auf dem Spiel steht. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass sie das Schiff als freie Frau verlassen und ihre Kinder wieder in die Arme schließen werden. Shawn hat ja nun, wie er uns allen vor Augen geführt hat, andere Pläne, nur deshalb, weil seine Liebe zu Ihnen und seine Angst um Sie und Ihre Kinder größer ist als sein Egoismus. Wie selbstlos und rücksichtsvoll von ihm!“
„Sie haben sich schon mehr als einmal in ihm getäuscht. Vielleicht tun sie es wieder“, war alles, was ich erwidert hatte. Den restlichen Weg zur Kampfarena hatte ich mich demonstrativ von ihm abgewandt, um ihm zu signalisieren, dass ich an keiner weiteren Unterhaltung mit ihm interessiert war.
Ich saß auf dem einzigen Stuhl. Alle anderen waren entfernt worden. Ich kam mir vor, als würde ich vor Gericht auf der Anklagebank sitzen. Gott sei Dank musste ich nicht wieder eine dritte Ausführung des schwarzen Hauchs von Nichts tragen. Um den unter den Japanern herrschenden Dresscode zu erfüllen, zog ich das, ärmellose, schwarze Stiftkleid an, das Maiko und Yaeko mir gekauft hatten. Es reichte mir bis zur Mitte der Oberschenkel. Dazu trug ich die goldenen Sandalen. Ansonsten sah ich genau so aus wie beim letzten Mal. Ich trug mein Haar offen und war ungeschminkt. Von Maiko war deswegen kein Protest zu hören. Sie respektierte inzwischen jede meiner Entscheidungen.
Eine Änderung war vom Veranstalter vorgenommen worden. Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Oktagons, saßen ebenfalls hinter einer Absperrung in zwei Reihen die beiden Teams der Finalisten. Kurosaki saß inmitten zweier ergrauter Asiaten, mit denen er sich angeregt unterhielt. Hinter ihnen saßen sechs Männer seiner Leibgarde. Abgetrennt davon, zu seiner Linken, war ein ähnlicher Bereich aufgebaut, in dem ebenfalls ausschließlich Asiaten saßen. Das musste ein Mafiaboss der Triaden mit seinen Bodyguards sein. Maiko und Yaeko saßen dieses Mal auf der Tribüne direkt hinter Kurosaki.
Die Tage, seit ich von dem Chinesen zurückgekehrt war, hatte ich in derselben surrealen, nebulösen Stimmung verlebt wie die Tage zwischen der ersten Runde und dem Halbfinale. Einerseits sehnte ich das Finale herbei, damit das Zermürben meines Körpers und meiner Seele ein Ende fand. Andererseits sah ich dem heutigen Abend mit Schrecken entgegen. Möglicherweise war es das letzte Mal, dass ich Shawn aus der Ferne lebend sehen würde.
Was sollte nur werden, wenn er stürbe?
Seit Tagen verdrängte ich diesen schrecklichsten aller schrecklichen Gedanken. Und ich weigerte mich immer noch, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Selbst wenn er gewinnen würde, standen unsere gemeinsame Zukunft und unsere Liebe immer noch auf dem Spiel. Und diesem Ehren-Kodex-Ding der Yakuza, von dem Shawn gesprochen hatte, traute ich auch nicht. Es war wie es war. Wir waren Kurosaki auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Immer wieder sah ich Benny, Ana und Luís vor mir. Was sollte nur aus ihnen werden, wenn nicht einmal ich zurückkehren würde? Vielleicht würde Mum aufhören zu arbeiten. Höchstwahrscheinlich sogar. Sie und ich, wir waren uns in unseren Denkweisen ähnlich. Sie würde alles tun, um auch die Zwillinge behalten zu können. Sie und Dad hatten die beiden genauso in ihr Herz geschlossen wie ich schon sehr früh damals bei de Gutierra. Und Dad würde Mum bei allem unterstützen. Da war ich mir sicher.
Mein kleiner Benny! Ob ich ihn jemals wieder im Arm halten und in seine blauen Augen sehen würde, die jenen seines Vaters so sehr ähnelten?
Wir waren recht früh zur Kampfhalle aufgebrochen. Als wir sie betraten, waren die Reihen der Tribünen erst zur Hälfte besetzt. Doch nun floss durch den breiten Zuschauereingang, der sich gegenüber dem Durchgang befand, der den Kämpfern vorbehalten war, ein dicker Strom voller Schiffsgäste, die sich wie jeden Abend in Schale geworfen hatten. Sie kamen gerade von einem üppigen Festmahl, zu dem auch ich geladen war, was ich aber abgelehnt hatte. Dass Kurosaki mich nicht dazu gezwungen hatte, wunderte mich. Aber ihm war bewusst, dass ich heute Abend noch genug leiden würde. Das karge Frühstück war das Einzige, was ich heute zu mir genommen hatte. Meine Kehle fühlte sich den ganzen Tag schon wie zugeschnürt an. Ich trank jede Menge Wasser, was ich immer tat, wenn ich nervös und aufgeregt war. Dementsprechend häufig musste ich die Toilette aufsuchen. Ich fragte mich, was man Shawn und John heute für eine Galgenmahlzeit vorgesetzt hatte.
Oh, mein Gott! Wie hatte er sich wohl die letzten Tage gefühlt, ganz allein, mit seiner Verzweiflung, seiner aussichtslosen Lage und dem bevorstehenden Kampf, der sein Tod bedeuten könnte? All das musste er ohne mich an seiner Seite durchstehen.
In der Nacht hatte ich kein Auge zugetan. So vertrieb ich mir die Zeit, indem ich die Videoaufnahme zu Ende sah. Shawn im Badezimmer zu beobachten brach mir erneut das Herz. Dieses Mal zertrümmerte er nichts. Er wirkte überhaupt nicht so rastlos und nervös wie das letzte Mal. Es lag mit Sicherheit daran, dass der lange und Kräfte zehrende Kampf durch die erhöhte Herztätigkeit seinen Stoffwechsel beschleunigt hatte und so die Droge schneller von seinem Körper verarbeitet worden war. Sexuell erregt war er dennoch. Er zog sich als Erstes die Sporthose und den Tiefschutz aus und stieg in die Dusche. Der Moment, als er sich selbst befriedigte und leise stöhnte, trieb mir heiße Tränen in die Augen. Nach der Erleichterung verschaffenden Dusche saß er eine Weile mit hängendem Kopf auf dem Klodeckel. Ich hatte ihn noch nie in einem solch verlorenen Zustand erlebt. Er war ein Haufen Muskeln voller Verzweiflung und Gebrochenheit. Von der Wut und der Gereiztheit, die von ihm ausgegangen waren, als er in die Kabine stürmte und sich mit der Chinesin auseinandersetzte, war nichts mehr zu bemerken. Ich hätte ihn so gerne in den Arm genommen und getröstet. Irgendwann legte er sich zusammengefaltet auf den Boden, erhob sich jedoch wieder abrupt und schaltete das Licht aus. Von dem Zeitpunkt an zeigte der Bildschirm ein dunkelgraues Bild. Ich spielte vor, bis das Licht anging und er, wie ich von Yaeko erfahren hatte, aus dem Bad trat, damit die Chinesin pinkeln konnte. Kein Wort wechselte er mit ihr. Und sie sprach nur das Nötigste. Danach löschte er wieder das Licht. Kurz darauf musste er sich im Dunkeln erneut selbst befriedigt haben, da man ihn stöhnen hörte. Das war es. Mehr gab das Video nicht preis. Die andere Aufnahme sah ich mir nicht an. Es war nicht nötig, Shawn erneut im Badezimmer zu beobachten. Er hatte in jener Nacht gelitten wie ein Hund, noch mehr als beim zweiten Mal. Das wollte ich mir nicht antun. Und das, was sich in der Kabine zwischen uns ereignet hatte, wollte ich erst recht nicht mehr sehen.
Leise, epische Musikklänge rieselten auf einmal aus den Lautsprechern, woraufhin das Stimmengewirr nach und nach verebbte. Auf den beiden riesigen Bildschirmen wurden Shawn und John nebeneinander mit den Angaben zu ihrem Gewicht und ihrer Größe eingeblendet. Heute war es das erste Mal, dass ich mehr als nur einen flüchtigen Blick auf die Bildschirme warf. Meine Einschätzung stimmte. Shawn war 1,95 m und John 1,91 m groß. Entsprechend wog Shawn auch mehr. Sein Gewicht betrug 97 Kilo und das von John 92 Kilo.
Die letzten Passagiere trudelten ein und nahmen Platz. Als dann alle endlich saßen, verstummte die Musik und die vertraute Stimme des Moderators, der die Anwesenden durch das Abendprogramm führte, erklang, um die Gäste überschwänglich zu begrüßen. Ich hörte nicht hin. Es war ohnehin immer dasselbe belanglose Geschwätz, das er zu Beginn von sich gab.
Ich versank in meiner eigenen Welt der Angst und schieren Hoffnungslosigkeit. Mir war kotzelend. Hätte ich jetzt etwas trinken oder einen Bissen schlucken müssen, ich hätte mich übergeben. Selbst das Schlucken der Spucke gelang mir nur mit Mühe. Mein Herzschlag echote schnell und kräftig in meiner Brust, so kräftig, dass ich ihn im Hals spürte. Von Minute zu Minute wuchs meine Angst, obwohl ich nicht gedacht hätte, dass das noch möglich gewesen wäre. Ich war unfähig, aufrecht im Stuhl zu sitzen. Leicht gekrümmt mit rundem Rücken war ich kaum hinter der Barrikade zu sehen. So hoffte ich zumindest. Wie immer knetete ich meine eisigen Finger.
„Heute sehen Sie, meine Damen und Herren, welche Männer hinter unseren beiden herausragenden Fightern stehen. Da hätten wir zum einen Mr. Huang aus Hongkong, für den die Schlange kämpft.“ Ein zwischen seinen Bodyguards wie ein Zwerg erscheinender ergrauter Chinese um die sechzig füllte den riesigen Bildschirm als Nahaufnahme aus und nickte ohne die Spur eines Lächelns in die Kamera. „Neben Mr. Huang sehen Sie Mr. Kurosaki aus Tokio, für den der Drache kämpft. Die Herren erwartet bei Sieg ihres Kämpfers der Jackpot von sechzehn Millionen US-Dollar plus zwei Millionen, die der Veranstalter dieses außerordentlichen Urlaubserlebnisses und Eigentümer der Gladiatora noch zusätzlich in den Pot wirft.“
Lauter Beifall brandete wieder auf. Der Moderator wartete, bis das Klatschen aufgehört hatte und fuhr mit seiner Ansprache fort. „Wie schon zu Beginn des Wettbewerbs erwähnt, bekommt der Überlebende des finalen Kampfes ebenfalls eine Siegesprämie von unserem großzügigen Mr. X. Darüber hinaus hat er einen Wunsch frei, den wir ohne Zweifel alle mit Spannung entgegensehen. Sagt nicht die Art des Wunsches etwas über den Mann aus, der ihn äußert?“
Wieder applaudierten die Zuschauer. Mit zunehmendem Abklingen des Geräuschpegels hörte man wieder leise die Musik von vorhin.
„Und nun wollen wir unsere Kämpfer nicht länger warten lassen! Freuen Sie sich mit mir auf die Schlange und den Drachen!“
Die Musik wurde aufgedreht und das Licht erlosch bis auf die Scheinwerfer, die den Käfig auf dem Podest in hellem Licht erstrahlen ließ. Ich kannte die Musik. Sie war wieder von Two Steps From Hell. Dieses Mal verzichtete man auf den Spot. John tauchte auf einmal wie aus dem Nichts aus dem finsteren Gang auf und wurde von den Zuschauern mit frenetischem Beifall und Zurufen begrüßt.
Es war grauenvoll! Möglicherweise würde er nicht mehr lebend die Arena verlassen. Vor ein paar Tagen hatte er mich noch wild und leidenschaftlich geküsst. Und wenn es nicht ihn traf, dann Shawn. Es gab keinerlei Hoffnung, dass beide diese Inszenierung größter Brutalität überlebten. Einer würde sterben - entweder von der Hand des anderen oder durch die Kugel eines Todesschützen.
In seinen roten Sportshorts schritt er zielstrebig, aber mit einer für mich überhaupt nicht nachvollziehbaren Gelassenheit auf den Käfig zu. Die Stufen nahm er locker und dynamisch. Er trug ebenso wie Shawn es immer tat Bandagen an den Füßen und an den Händen. Noch waren sie weiß. Warum sie nicht Schwarzfarbige benutzten, war offensichtlich. Bei Schwarzen würde man das Blut nicht sehen. Er betrat das Oktagon und blieb wie es die Kämpfer, die als Erste den Kampfplatz betraten, an der Seite gegenüber dem Eingang mit Blick darauf stehen. Meine Atmung wurde flacher, während ich ihn beobachtete. Er war schätzungsweise gut zehn Meter von mir entfernt. Plötzlich drehte er den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Er zwinkerte mir tatsächlich wieder zu, allerdings war sein Lächeln nicht wie sonst von dieser jungenhaften Unbeschwertheit. Es wirkte aufgesetzt. Unser Blickkontakt dauerte vielleicht einen Atemzug lang. Dann richtete er auch schon wieder seine Aufmerksamkeit auf den Eingang.
Der Applaus, den ihm das Publikum spendete, war noch nicht ganz verebbt, als es erneut aufbrandete. Shawns imposante Erscheinung trat in den Lichtschein. Unwillkürlich machte ich mich noch kleiner, damit er mich nicht sah und sich durch mich nicht abgelenkt fühlte. Die Idee war natürlich lächerlich. Wahrscheinlich hatte er mich bereits verborgen vom dunklen Tunnel aus ins Visier genommen. Dynamisch und geschmeidig wie eine Raubkatze federte er, ohne einmal angehalten zu haben, zum Käfig. Seine Miene war weniger finster als die beiden anderen Male. Auch wirkte er weniger wie ein Psychopath. Höchste Konzentration strahlte er aus. Die zwei Stufen erklomm er ebenso flink wie John. Kaum war er in den Käfig getreten, schloss der Security-Mann die Tür und verriegelte sie. Ich hielt unwillkürlich die Luft an, da Shawn nicht, wie es sonst von den Kämpfer gehandhabt wurde, stehen blieb, um den Gegner eine Zeit lang zu taxieren. Er steuerte auf John zu, der sofort mit zusammengekniffenen Augen eine Abwehrhaltung einnahm, indem er die Arme hob und seine Muskeln anspannte. Shawn ließ seine Arme defensiv hängen und blieb einen halben Schritt vor ihm stehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Seine Lippen bewegten sich. Er sagte etwas. Doch bei der Lautstärke, mit der die Musik in der Halle dröhnte, zweifelte ich, dass John ein Wort davon verstand.
Himmel, was passierte da nur?
John beugte sich etwas nach vorne, sodass Shawn seinem Ohr näher war. Urplötzlich erstarb die Musik und wurde von einer Grabesstille abgelöst. Alle Anwesenden hielten wahrscheinlich die Luft an, nur um zu verstehen, was die beiden Männer, die sich gleich vor ihnen zu Tode prügeln würden, zu sagen hatten. John gab seine Alarmbereitschaft auf. Er ließ seine Arme sinken. Dann tauschten sie die Rollen, da scheinbar John etwas zu sagen hatte. Obwohl es so leise war, dass man eine Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören können, hörte man keinen Laut. Shawn hielt ihm sein Ohr hin und der Chinese flüsterte ihm etwas zu. Dann schufen sie wieder etwas Abstand zwischen sich. Shawns Gesichtsausdruck beunruhigte mich. Ich sah so etwas wie Verunsicherung und Unverständnis. Johns Miene war ernst, aber nicht feindselig.
Was lief da nur zwischen ihnen ab?
Shawn behielt ihm im Auge und machte ein paar Schritte rückwärts. Eben hatten sie sich fast berührt und gegenseitig etwas zugeflüstert und jetzt wagte er es nicht, ihm den Rücken zuzukehren. Er blieb in der Mitte des Achteckes stehen und nickte John zu. Dieser erwiderte sein Nicken. Fast zeitgleich begaben sie sich mit erhobenen Fäusten in Kampfhaltung. John ging auf Shawn zu und griff ihn umgehend an. Es folgte eine Reihe von Kampfaktionen, mit den Händen und Füßen. Beide waren keine statischen Kämpfer. Sie bewegten sich leichtfüßig und verweilten nur kurze Augenblicke auf beiden Füßen. Bei jedem Treffer, egal von wem gelandet, zuckte ich zusammen und erwartete, dass dadurch der Kampf eine entscheidende Wendung nehmen würde. Aber dies passierte nicht. Entweder trafen sie sich nicht mit voller Wucht, oder die Droge betäubte den Schmerz. Ich konnte mir nicht helfen, aber irgendwie hatte es den Anschein, dass sie nicht hundert Prozent gaben.
Es vergingen Minuten über Minuten. Endlos lange Minuten. Ich war mir nicht sicher, ob ich dieser Folter noch lange standhalten konnte. Am liebsten hätte ich geschrien. Meine Tränen liefen unaufhörlich und tropften auf das Kleid oder auf mein Dekolleté. Mein ganzer Körper schmerzte. Ich saß immer noch in dieser gekrümmten Haltung auf dem Stuhl. Innerlich hatte sich alles zusammengezogen. Ich war so verkrampft, dass ich nicht mehr richtig einatmen konnte. Der Kampf dauerte bestimmt schon doppelt so lange wie der Fight gegen Sergejew.
Die Zeit spielte gegen sie. Sie wurden müde. Beide. Ihre Beweglichkeit auf den Beinen hatte nachgelassen. Sie wurden statischer. Dafür wurden ihre Schläge wuchtiger. Sie gingen roher vor. Es lief Blut. Viel Blut. Beide hatten Schwellungen im Gesicht. Shawn hatte John so stark am Jochbein getroffen, dass sein Auge immer mehr zuschwoll. Er selbst hatte einen Schlag auf die Nase einstecken müssen. Sie war mit Sicherheit gebrochen. Eine Wunde klaffte auf dem Nasenbein und sorgte für viel Blut in seinem Gesicht. Beide bluteten am Mund. Sie hatten sich gegenseitig Brust und Bauch malträtiert. Hämatome waren zu sehen. Bei einer Ringeinlage auf dem Boden musste John Shawn einen Finger gebrochen haben. Er hatte kurz aufgeschrien. Mehr nicht. Trotz der Verletzung gelang es ihm, sich aus dem beängstigenden Griff des Chinesen zu befreien. Blut und Schweiß vermischten sich. Bei jeder Aktion spritzte es.
Ich wollte nicht mehr hinsehen.
Ich sollte nicht mehr hinsehen.
Und ich konnte eigentlich nicht mehr hinsehen, aber ich tat es trotzdem. Wie hypnotisiert, starrte ich auf den Käfig.
Die Leute um mich herum wurden allmählich unruhig. Aus vereinzelten Ecken schrien welche:
„Los! Bringt es zu Ende!“
„Mach den Drachen dem Erdboden gleich!“
„Dreh der Schlange den Hals rum!“
„Wir wollen Knochen brechen hören.“
Auf diese Anfeuerungsrufe hin geschah zunächst gar nichts. Einige begannen zu pfeifen. Doch Shawn und John blieben davon unbeeindruckt und ließen sich nicht stören. Es war, als ob sie sich unter einer Glocke befänden, die alle Geräusche um sie herum daran hinderten, bis zu ihnen vorzudringen. Ich stand kurz davor, von meinem Stuhl aufzuspringen und zu schreien, dass sie aufhören sollten, als plötzlich John Shawn irgendwie zu fassen bekam und ihn mit brachialer Gewalt gegen den Maschendraht donnerte. Im ersten Moment war Shawn deswegen von der Rolle, sodass es John gelang, ihm ein paar Haken ins Gesicht und Kniestöße in den Bauchbereich zu verpassen. Ich hielt den Atem an.
War das die entscheidende Wende?
War das Shawns Ende?
Shawn
Während des ganzen Kampfes musste ich mich zusammenreißen, um nicht über das nachzudenken, was mir dieser Chinese zugeflüstert hatte.
Verfluchte Scheiße! Er war wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und das schon von Anfang an.
Ohne dass wir es abgesprochen hatten, hatten wir es langsam angehen lassen. Wir zeigten beide, was wir an Kampftechniken und –stilen drauf hatten. Mit unserer Kraft haushalteten wir, zumindest in der ersten Hälfte des Fights. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber er war der erste Gegner, wenn man von Sergejew eins absah, der mir gefährlich werden konnte. Dummerweise war er auch der erste Gegner, den ich mit einem gewissen Grad an Widerwillen töten würde, sofern ich es schaffte, mir eine entsprechende Position zu erkämpfen. Im Moment sah es nicht danach aus.
Wir waren beide erschöpft nach einem Kampf, der bestimmt schon eine Stunde andauerte. Wir wurden langsamer, aber dafür auch ungestümer und brutaler. Doch eben war er wie ein Stier auf mich losgestürzt und hatte mich mit diesem Angriff geradezu überrumpelt. Ohne eigene Deckung und ohne Rücksicht auf sich selbst hatte er mich halb am Käfig zermalmt. Ich glaubte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Er hatte mir mit Sicherheit ein oder zwei Rippen gebrochen. Ein Schlag traf mich mit solcher Wucht am Kopf, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen geworden war. Aber wie durch ein Wunder schob sich auf einmal über die Schwärze ein ganz bestimmtes Bild, das mich vor einer Bewusstlosigkeit bewahrte. Ich sah Mia, mein Schneewittchen. Und ich erinnerte mich, warum ich mich hier in diesem verfickten Käfig befand. Ich musste sie retten, auch wenn der Wichser von Chinese mir vorhin ein Rätsel aufgegeben hatte: Ich solle meinen Wunsch weise wählen, sofern es dazu käme.
Ich hatte sämtliche Kraft mobilisiert, die noch in meinen brennenden Muskeln steckte, und war mit einem urgewaltigen Schrei zu einem Konter übergegangen. Irgendwie gelang es mir, ihn abzuschütteln. Wir hatten nun einen Punkt erreicht, der uns zwang, endlich zu einem Ergebnis zu kommen. Unter dem Brennen meiner Muskeln lauerte der Schmerz meiner Verletzungen, der von Minute zu Minute spürbarer wurde, weil die Droge nachließ. Ich dreschte für einen Moment ebenfalls willenlos auf ihn ein, bis er mich mit einem mir die Luft nehmenden Schlag in den Magen dazu zwang, von ihm abzulassen. Doch zuvor hatte ich ebenfalls zerstörerische Treffer an sensiblen Körperstellen landen können.
In eben diesem Moment befanden wir uns beide am Boden, laut nach Luft schnappend und den immer stärker werdenden Schmerz ignorierend, was zunehmend schwieriger wurde. Ich schuf rückwärts auf dem Boden kriechend, etwas Abstand zu ihm, um immer weniger vorhandene Kräfte zu sammeln. Er war, wie es schien, ebenso wenig auf einen unmittelbaren Gegenkonter aus. Wir wischten uns beide den mit Blut vermischten Schweiß aus den Augen, der unsere Sicht einschränkte. Die Geräusche des Publikums hatte ich von Anfang an ausgeblendet. Ebenso verhielt es sich mit meinem Blickfeld. Es existierten nur der Chinese, ich und der Käfig. Doch nun befand ich mich an einer ausgesprochen ungünstigen Position. Mir gegenüber befand sich der abgesperrte Bereich, in dem sich die Frauen bei den letzten Kämpfen befunden hatten. Zum ersten Mal am heutigen Abend wanderte mein Blick dorthin und ich sah sie. Wie ein Häuflein Elend saß sie auf dem Stuhl. Ihr Kopf ragte gerade so über die Barriere hinaus. Sie trug ihr Haar wie beim letzten Mal wieder offen. Ich war zu weit entfernt, um es zu sehen. Aber ich fühlte es. Sie weinte. Ich war mir sicher, dass sie dies bereits mit dem ersten Schlag, der ausgeführt wurde tat. Ein, zwei oder drei Sekunden lang tat ich mir diesen erbarmungswürdigen Anblick an. Mein Herz zog sich unter seinem wild pochenden Hämmern schmerzhaft zusammen. Dann schwenkten meine Augen wieder zurück zum Chinesen. Als ich sah, dass er mich unter seinem blutverschmierten und zugeschwollenen Gesicht angrinste, erwachte etwas in mir, das zusammen mit meinem Überlebensinstinkt und Überlebenswillen zu etwas Tödlichem verschmolz: zur Bestie.
In diesem Moment wusste ich, dass mich nur noch eine Kugel in meinem Kopf oder ein Panzer, der über mich rollte, aufhalten konnte, den Kerl zu töten. Und noch etwas erkannte ich. Die Entscheidung würde auf dem Boden fallen. Wir waren beide zu erschöpft, um unser Gewicht auf den Beinen zu tragen und gleichzeitig noch tödliche Schläge auszuteilen. Nun würde sich zeigen, wer von uns beiden im Grappling der Stärkere war.
Sein Grinsen war mit einem Mal wie aus seinem Gesicht gewischt. Warum er überhaupt gegrinst hatte, war mir ein Rätsel. Aber der ganze Kerl war ein Mysterium. Ich würde es nie erfahren. Er sah mich mit einem Ausdruck an, als wäre er gerade zur selben Erkenntnis gekommen wie ich. Hoffentlich hielten mein Finger und der Rest meiner angeschlagenen Knochen durch. Ich wartete nicht länger und stürzte auf allen vieren zu ihm. Entgegen meiner Annahme rappelte er sich jedoch etwas mühsam hoch. Womöglich versprach er sich dadurch einen Vorteil.
Von meiner Entscheidung bis zum Körperkontakt vergingen nicht einmal fünf Sekunden. Ich erkannte im letzten Moment, was er plante. Er sprang hoch, um mir einen Tritt an den Kopf zu verpassen. Doch nicht mit mir. Ich richtete meinen Oberkörper auf und schaffte es, auf den Knien stehend mit beiden Händen seinen Unterschenkel zu greifen. Bevor er mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug, trat er, sich vollkommen in der Luft befindend, mit dem anderen Bein in Richtung meines Kopfes. Hätte ich es nicht vorhergesehen, wäre es böse geendet. So wich ich ihm aus, sodass er nur mein Ohr streifte, das dadurch mit Sicherheit Schaden genommen hatte. Aber das war unbedeutend. Es war kein lebenswichtiges Organ. Einen Sekundenbruchteil später schlug er mit seinem Körper auf dem Boden auf. Diesen Moment nutzte ich und jagte ihm meinen Ellbogen in die Kniescheibe. Während ich mich blitzartig auf die Beine stellte, trat er immer noch auf dem Boden liegend mit dem anderen Bein nach mir. Ich steckte die Tritte ungeachtet der Schmerzen ein und konzentrierte mich nur auf sein geschwächtes Bein. Ich trat erneut seitlich gegen das Knie, was ihn sofort aufschreien ließ. Unbeirrt folgte ich meinem bestialischen Plan. Ich hielt das Bein fest und trat mit voller Wucht auf das Schienbein, sodass es brach. Dann warf ich mich ohne auch nur einen Sekundenbruchteil innezuhalten auf ihn und versuchte, ihn in einen Würgegriff zu bekommen. Sein Schrei, der auf das Brechen seines Beines gefolgt war, ging in ein Stöhnen über, als er sich mit den Armen gegen meine Griffe wehrte. So wie es aussah, gab er nicht so schnell auf. Er kämpfte um sein Leben, was durchaus nachvollziehbar war. Ich würde an seiner Stelle genauso handeln. Er traf mich und ich traf ihn – unzählige Male an so vielen Stellen, die bereits vor Schmerz schon taub waren. Doch ich war im Vorteil und dies nutzte ich erbarmungslos aus.
Unser Schweiß und unser Blut vermischten sich, weil unsere Körper fast zu einem verschmolzen waren. Ich begann, blind mit den Füßen nach seinem gebrochenen Bein zu treten. Es war ein offener Bruch. Es waren immer offene Brüche, die ich meinen Gegnern zufügte, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sein Schreien hallte durch die Arena.
Und dann beging er den entscheidenden Fehler. Er hob seinen Oberkörper leicht an, worauf ich nur gewartet hatte. Ich positionierte mich blitzschnell hinter ihn und hatte endlich die Möglichkeit, seinen Hals in den Würgegriff zu bekommen. Ich hatte ihn genau da, wo ich ihn haben wollte. Mein Ohr berührte seines, sodass unserer Gesichter sich fast nebeneinander befanden. Plötzlich hörte ich Laute aus seinem Mund, als ob er mit mir reden wollte. Reflexartig lockerte ich den Griff. Er spuckte seinen Mundschutz aus und sagte:
„Du ... hast ... es tatsächlich ... geschafft ... jetzt musst du ... nur noch ... den richtigen ... Wunsch äußern.“
„Was meinst du verdammt nochmal damit?“, fragte ich ihn kaum verständlich und spuckten dann auch mein Stück Plastik im Mund aus.
„Wähle ... deine ... Freiheit ...“
„Shawn, du darfst ihn nicht töten!“, hörte ich plötzlich Mia schreien. Ich sah in ihre Richtung. Sie hing schon wieder mit den Händen am Maschendraht.
„Er hat mir nichts getan. Er ist einer von den Guten.“
„Dir ... ist klar ... dass du mich töten musst, sonst ist alles verloren. Hör ... nicht auf ... sie! ... Du hattest recht ... man muss aufpassen, dass man ... sein Herz ... nicht ... an sie verliert“, sagte der Chinese mit schwacher Stimme.
„Nein! Nein! Nein! Ihr dürft das nicht zulassen. Bitte!“, schrie Mia zu den Zuschauern. Ich ließ meinen Blick umherschweifen, um zu sehen, wie das Publikum reagierte.
„Er muss ihn töten. Daran geht kein Weg vorbei, Mädchen. Schon allein wegen der ganzen Wetten, die laufen“, schrie ein Kerl.
Mein Blick blieb an einer Gruppe von Männern hängen, die unweit von mir ebenfalls hinter einer Absperrung saßen. Kurosaki saß unter ihnen und lächelte sein beschissenes selbstgefälliges Lächeln.
„Ja, Drache ... du bist auf der richtigen Spur. Dort findest du ... deine Freiheit. Wähle für deine Kleine ... und ... dich!“ Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstand.
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Ich entdeckte den Lichtstrahl eines Spots, der direkt mir gegenüber auf der Tribüne in der obersten Reihe einen Mann mit Maske anleuchtete. Er hielt ein Gewehr in der Hand und zielte auf mich. Ein roter Laserpointer traf auf meine Brust und wanderte dann gemächlich zu meinem Hals hoch über mein Gesicht, bis er wahrscheinlich auf meiner Stirn haltgemacht hatte. Mein Blick schnellte zurück zu Mia. Sie hing mit ihrem ganzen Körper am Käfig. Zwei Security-Männer versuchten, sie von dem Käfig wegzuziehen. Doch sie ließ den Maschendraht mit ihren Händen nicht los. Aus dieser Entfernung konnte ich ihr verweintes Gesicht sehr gut sehen.
„Schafft sie weg vom Käfig!“, schrie ich. Dann wandte ich mich wieder dem Chinesen zu.
„Du bist mein erster Gegner, bei dem es mir leidtut, ihn töten zu müssen. Ich habe mich eben vor dem Kampf bei dir bedankt, dass du ihr nichts getan hast. Ich sage es jetzt nochmal. Danke! Dass mir das viel bedeutet, kannst du dir denken. Ich verspreche dir, dass du nichts spüren wirst.“
Er nickte und sah mir dabei so intensiv in die Augen, dass ich unter all dem Blut und Schweiß eine Gänsehaut bekam. Da war keine Angst in seinen zu sehen, allenfalls Bedauern. Als er die Lider schloss, verstärkte ich wieder den Griff. Er wehrte sich nicht. Er ließ es zu, bis er durch den Sauerstoffmangel ohnmächtig und in meinen Armen erschlaffte. Ich zögerte keine Sekunde, änderte den Griff und überdrehte ruckartig seinen Hals, dass es knackte. Den Zuschauern sowie Mia musste bei dem knackenden Geräusch ein Schauder über den Rücken laufen. Für mich war es so alltäglich wie das Geräusch eines laufenden Motors. Fast zeitgleich donnerte der Applaus los und erklang die Mundharmonika des Liedes vom Tod. Behutsam legte ich den Körper des Chinesen auf dem Boden ab und setzte mich. Ich war am Ende. Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt wie noch nie zuvor nach einem Kampf, wenn man mal von dem Kampf gegen Sergejew eins absah. Die schmerzabtötende und aufputschende Wirkung hielt offenbar weniger als eine Stunde an. Unter normalen Umständen war dies auch ausreichend. In einem so ausgeglichenen Kampf wie dem zwischen dem Chinesen und mir jedoch nicht.
Ich achtete nicht auf das Jubeln und Geschrei der Menschen um mich herum. Ich sah nicht einmal zu dem Bereich der Frauen, um mich zu vergewissern, ob Mia wieder auf ihrem Platz saß. Meine Gedanken kreisten einzig um die letzten kryptischen Worte, die der Chinese an mich gerichtet hatte, als er dem Tod ins Auge gesehen hatte. Ich solle den richtigen Wunsch wählen. Und als ich zu Kurosaki hinübersah, meinte er, dort sei meine Freiheit. Dabei verband ich mit Kurosaki genau das Gegenteil: Gefangenschaft, Folter und Unterdrückung.
Ich hörte meinen Atem, den ich mühsam durch den Mund einzog und wieder aus mir stieß. Meine Nase war out of order . Dort ging gar nichts mehr. Ich sah von dem Chinesen zu Kurosaki hinüber. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie sich die Tür öffnete und jemand hereinkam. Ich ging davon aus, dass es die vier Sicherheitsleute mit der Trage waren. Doch plötzlich berührte mich jemand vorsichtig an der Schulter.
„Hi, ich bin’s wieder, Dr. Kumari. Wie geht es Ihnen?“
„Mir ging es schon wesentlich besser, aber auch schon wesentlich schlechter.“
„Das klingt doch sehr gut. Dann kann ich Ihnen zu Ihrem Sieg gratulieren, bevor ich erste Hilfsmaßnahmen ergreife, damit sie einigermaßen gut verarztet die Siegesprämie in Empfang nehmen können. Herzlichen Glückwunsch!“ Er schlug mir anerkennend auf die Schulter, was nicht gerade schmerzlos verlief. „Kommen Sie etwas zur Seite, damit die Männer des Sicherheitsdienstes ihre Arbeit machen können.“
Wie ein alter Mann rappelte ich mich auf und ließ mich von dem Arzt, der wieder in Begleitung seines Assistenten gekommen war, an die Käfigwand führen, die zu Kurosaki und seinen Wichsern zeigte. Seine Augen ruhten zufrieden auf mir. Anerkennend nickte er mir zu, bevor ich mich umdrehte, um mich wieder auf dem Boden niederzulassen. Ich lehnte meinen Rücken an und schloss die Augen. Ich hatte tatsächlich, das fast Unmögliche möglich gemacht. Ich hatte das Turnier gewonnen. Jeden Moment würde ich meinen Wunsch vor dem gesamten Publikum äußern und Mia wäre frei.
„Ihre Nase ist gebrochen, aber das wissen Sie ja selbst. Wie sieht es mit dem Brustbereich aus? Haben Sie Rippenbrüche?“
Ich nickte mit geschlossenen Augen, weil ich gerade unfähig war, ein Wort über meine Lippen kommen zu lassen. Der Arzt und der Assistent hantierten routiniert an mir herum. Einer tastete meine Hände und Finger ab. Als er den gebrochenen Finger erreichte, zuckte ich leicht zusammen.
„Der rechte Mittelfinger ist gebrochen“, hörte ich den Assistenten sagen.
Was meinte der Chinese verdammt nochmal damit, dass ich die Freiheit für Mia und mich wählen solle?
Die letzten Töne des Liedes verklangen, nachdem sie es zweimal oder in einer Long Version gespielt hatten. Dann war die verfickte Stimme des Moderators zu vernehmen, der den Kampf und meine herausragende Leistung anpries.
Mia! Wie hatte ich sie die letzten Tage vermisst, obwohl ich alles unternommen hatte, es nicht zu tun!
Alles an ihr fehlte mir. Sie war meine Zuflucht. Sie erdete mich. Sie brachte das wenige Gute in mir zum Vorschein und hegte und pflegte dieses zarte Pflänzlein. Doch nun war es mit größter Brutalität platt gestampft worden. Ich war wieder Shawn, der Unbesiegbare. Shawn, der Killer. Und seit diesem Turnier machte ich auch noch Sergejew eins den Beinamen Knochenbrecher streitig. Mein innerer Drang, sie zu sehen, wurde so übermächtig, dass ich die Lider hob. Kumaris Assistent versperrte mir die Sicht, sodass ich mich leicht zur Seite neigen musste. Sie saß wieder auf ihrem Stuhl, flankiert von den beiden Sicherheitsleuten, die sie regelrecht vom Maschendraht gerissen hatten. Unsere Blicke trafen sich. Fuck! Sie lächelte mir tatsächlich zu. Ihre Haltung wirkte nicht mehr so verkrampft. Erleichterung war ihr deutlich anzusehen. Aber darunter erkannte ich auch ihre Unsicherheit und Angst vor dem, was ich ihr angekündigt hatte.
Gott, liebte ich diese Frau!
Konnte ich sie wirklich aufgeben?
Konnte ich unser Leben mit den Kindern, das wir gemeinsam aufgebaut hatten, aufgeben?
Ja, ich konnte es. Mein Wille, meine Vernunft und meine Opferbereitschaft waren stark genug, stärker als mein Herz. Dennoch war ich nicht bereit, mich wieder in die Zwangsherrschaft unter Kurosaki zu begeben. Damit musste Schluss sein. Ich war bereit, alles erdenklich Schlechte zu tun im Leben, um mich über Wasser zu halten, aber seine Marionette wollte ich nie wieder spielen. Ich hatte den Kampf in einem besseren körperlichen Zustand zum Abschluss gebracht als von uns beiden erwartet. Ich wusste genau, was er entgegen seines ursprünglichen Planes in Erwägung zog. Er wollte mich wieder in den Todeskäfig für seine Wettgeschäfte stecken. Aber nicht mit mir. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr begriff ich die Worte des Chinesen, desto mehr ergaben sie Sinn. Es gab nur einen Weg, mich ein für alle Mal von ihm zu befreien: sein Tod.
„So, Mister. Wir haben das Blut größtenteils entfernt und die Cuts provisorisch geschlossen. Nach der Siegerehrung werde ich sie in der Krankenabteilung einer akribischen Untersuchung unterziehen und alle Verletzungen perfekt verarzten.“
Die beiden Männer erhoben sich und machten mir Platz, damit ich ebenfalls aufstehen konnte. Als ich auf meinen Füßen stand, klatschten die verfickten Zuschauer Beifall. Die ersten Schritte machte ich auf wackeligen, müden und schmerzenden Beinen. Aber ich bekämpfte diese Schwäche und ignorierte den Schmerz. Noch war es nicht vorbei. Ich wollte jetzt und hier unter dem Kapitel Kurosaki einen Schlussstrich ziehen. Meine Schritte wurden immer souveräner und energischer. Ich stieg locker die Stufen des Podestes hinunter und steuerte zielstrebig auf den Moderator mit seiner Assistentin zu, die mich mit ihrem Zahnpastalächeln in Empfang nahmen. Sie hatten wieder den Tisch auf Rollen bemüht, auf dem eine Glasschale mit einem Umschlag stand. Mein Scheck über eine Million Dollar.
„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben einen herausragenden und mit Sicherheit unvergesslichen Kampf unseren verehrten Passagieren geboten. Es ist wahrlich knapp ausgegangen. Man sah, dass Sie beide ebenbürtige Kämpfer sind, beziehungsweise waren. Es war nur eine Frage der Zeit, wer den ersten entscheidenden Fehler begeht. Das war offenbar die Schlange.“
Ich schüttelte seine Hand, die er mir penetrant entgegenstreckte, und nickte. Falls sie ein paar Worte des Siegers erwarteten, so warteten sie vergeblich. Ich würde nur meinen Wunsch äußern.
„Gut!“, fuhr der Moderator fort, als ihm klar wurde, dass von meiner Seite nichts kommen würde. „Jetzt sind wir natürlich alle gespannt, welchen Herzenswunsch Sie haben. Ihr Scheck über eine Million Dollar wartet hier bereits auf Sie.“
Er deutete auf den Umschlag. Ich räusperte mich einmal kräftig, damit meine Stimme klar und deutlich zu verstehen war. Dann nahm ich dem Moderator, den ich um einen halben Kopf überragte, zu seiner Überraschung das Mikrofon aus der Hand, wandte mich Kurosaki zu und sagte: „Ich fordere Mr. Kurosaki zu einem Duell heraus, einem Kampf auf Leben und Tod und mit bloßen Händen, so wie Sie es während des Turniers gesehen haben. Und dieser Kampf soll jetzt sofort stattfinden.“
Um mich herum brach große Aufregung aus. Raunen, Tuscheln, Pfiffe und sogar Gelächter waren zu hören. Sie machten sich lustig über mich, weil ich aus ihrer Sicht einen derartig utopischen Wunsch äußerte. Doch ich wusste es besser. Abgesehen von den Japanern selbst, war ich womöglich der Einzige auf dem Schiff, der wusste, was eine offizielle Herausforderung zu einem Duell für einen Japaner bedeutete, erst recht für die Yakuza, die nach einem strengen Ehren-Kodex lebten.
Meine Augen fraßen sich mit Eiseskälte in seine. Wenn mich nicht alles täuschte, war er ein paar Nuancen blasser geworden. Die beiden anderen Yakuza-Bosse machten eine Grabesmiene und tauschten Blicke und Worte aus, die ich nicht verstehen konnte. Kurosakis Gefolge sah wie zu Stein erstarrt zu mir herüber. Egal wie er sich entscheiden würde, sein Tod war ihm sicher, wobei er bei einem Kampf mit mir immerhin eine winzig kleine Chance hatte, mit dem Leben davon zu kommen. Ich war erschöpft. In meinem Körper wüteten die unterschiedlichsten Schmerzen. Und er war nicht kampfunerfahren. Damals hatte er regelmäßig Kendo und Karate praktiziert, wobei er immer betonte, dass Kendo ihn aufgrund des Schwertes besser gefiele als Karate. Er hatte den zehnten Dan, also die letzte Stufe. Im Karate hatte er den dritten oder vierten schwarzen Gürtel, soweit ich mich erinnerte. Würde er sich jedoch weigern, gegen mich anzutreten, so würde er sein Gesicht vor der Yakuza verlieren und er wäre gezwungen, Seppuku zu begehen.
Ihn nicht aus den Augen lassend, hielt ich dem Moderator sein Mikrofon vor die Nase.
„Ähm, nun ...“, waren die ersten Worte, die er zustande brachte. „Ich denke, dass Mr. Kurosaki diesem Duell nicht zustimmen wird. Oder sehe ich das falsch, Mr. Kurosaki?“
Sämtliche Geräusche verstummten. Alle sahen auf den Japaner, der nun ebenfalls mit dem hellen Licht eines Spots wie ein Star aus der Masse hervorgehoben wurde. Kurosakis Blick war geradeaus gerichtet, durch den Käfig hindurch, direkt auf Mia. Ich sah flüchtig zu ihr. Ihr Blick war ebenfalls auf ihn gerichtet. Als sie sich aus dem Augenkontakt mit ihm löste und ihr Kopf sich in meine Richtung drehte, sah ich schnell wieder weg. Ich wollte nicht ihren Augen und ihrer neuerlichen Angst begegnen. Ich wusste, dass sie sich sorgte, weil ich mich kaum auf den Beinen halten konnte.
Endlich erhob sich das Arschloch, um seine Entscheidung zu verkünden. Er strich sich über sein Jackett, räusperte sich wie ich kurz zuvor und verkündete mit erstaunlich lauter Stimme: „Ich nehme die Herausforderung an.“
Das Publikum spendete ihm für seinen Mut frenetischen Beifall.
Fuck! Am liebsten hätte ich einen Freudentanz veranstaltet, aber noch war es etwas verfrüht, Kurosakis Entscheidung zu feiern. Mit emotionsloser Miene setzte er sich in Bewegung, nachdem seine beiden Kollegen sich zuvor erhoben hatten, um sich würdevoll mit einer Verbeugung von ihm zu verabschieden und den Weg frei zu machen.
Der Moderator übertönte die applaudierenden Zuschauer: „Wer hätte das gedacht, dass der heutige Abend mit noch einem zweiten Kampf aufwarten kann?“ Der Lärm klang ab, woraufhin er sich plötzlich zu mir beugte.
„Sind Sie sicher, dass sie in der Lage sind, jetzt gleich noch einmal zu kämpfen? Vielleicht lässt sich der Kampf ja verschieben?“
Seine Sorge um mich rührte mich fast.
„Nein! Der Kampf soll jetzt stattfinden.“
Auf seine erste Frage antwortete ich nicht. Er winkte Dr. Kumari herbei. Dieser kam mit skeptischem Blick auf mich zu.
„Also Mister, ich sehe, dass es Ihnen ein großes Anliegen ist, gegen diesen Mann zu kämpfen. Die Beweggründe gehen mich nichts an. Aber das Schiff ist eine kleine Welt, in der die Gerüchteküche über ihre Verbindung zu Mr. Kurosaki die letzten Tage nur so gebrodelt hat. Hinzukommt dann noch die Sache mit Mia, Ihrer Frau, Verlobten oder Freundin.“
Er drehte sich um und sah zu Kurosaki hinüber, der gerade dabei war, sich mit versteinerter Miene neben der Absperrung zu entkleiden.
„Ich weiß, dass er ein großes Tier bei der Yakuza ist“, fuhr er, sich mir wieder zuwendend, fort. „Ich bin auf Ihrer Seite. Er ist Japaner und ein Yakuza. Er kennt sich mit Sicherheit im Nahkampf aus ...“
„Tut er“, fuhr ich dem Arzt ins Wort, „aber es wird ihm nichts nützen.“
„Er weiß genau, wo ihre wunden Punkte sind.“
„Wollen Sie mir jetzt sagen, worauf ich zu achten habe, nach dem ich bereits fast zehn Jahre regelmäßig für Kurosaki in den Todeskäfig gestiegen bin?“
„Nein, natürlich nicht. Aber ihm muss nur ein gezielter Tritt in Ihre Brust gelingen und schon bohrt sich eine gebrochene Rippe in Ihre Lunge. Darauf wollte ich Sie einfach noch einmal hinweisen. Außerdem hat die schmerzbetäubende Wirkung der Droge nachgelassen. Ihr Körper spricht Bände, was für Schmerzen sie gerade aushalten müssen. Was ist mit der sexuellen Stimulierung?“
„Ich bin hart, aber das lässt sich leichter ignorieren als die Schmerzen.“
Er drehte sich wieder zu Kurosaki um und unterzog ihn wohl einer raschen Prüfung, weil er dann meinte: „Der Mann besitzt eine für sein Alter außerordentlich gute Konstitution. Ich habe Angst um Sie, wenn ich ehrlich bin.“
Er griff in seine Tasche und hielt mir zwei Tabletten der Droge hin. „Er wird auch welche bekommen. Und ich bin mir fast sicher, dass er sie nicht ablehnen wird.“
„Soll ich tot umfallen, bevor der Kampf überhaupt angefangen hat?“
„Ihr Stoffwechsel hat die Droge durch das Kämpfen und Schwitzen schon nahezu verarbeitet.“
„Davon merkt mein Schwanz aber nichts. Er wird explodieren.“
„Das Einzige, was passieren könnte, wäre, dass sie das Bewusstsein verlieren. Sie sollten ihn also möglichst schnell erledigen.“
„Nein! Ich nehme von dem Dreckszeug nichts mehr. Es wird auch ohne gehen. Außerdem hatte ich nicht vor, ihn schnell zu töten. Ich wollte ihn leiden lassen für das, was er mir und Mia angetan hat.“
Der Doktor sah mich ernst an und schüttelte dann den Kopf. „Mehr als Ihnen nahezulegen, es zu nehmen, kann ich nicht. Enttäuschen Sie mich und die paar Hundert Zuschauer nicht! Alle wollen, dass Sie und Mia wieder zusammenkommen.“
„Das wird nicht passieren. Wenn ich gewinne, dann wird Sie ohne mich das Schiff verlassen, beziehungsweise wir werden es getrennt verlassen. Sie müssen mir etwas versprechen, Doc. Ich weiß nicht, ob ich auf meinen Beinen die Arena verlasse. Falls ich nicht Herr meiner Sinne bin, dann dürfen Sie sie nicht zu mir lassen. Sie darf nicht zu mir. Haben Sie verstanden? Nicht in den Käfig und nicht an mein Krankenbett. Sie werden sie mir vom Hals halten, so hartnäckig sie auch sein wird. Und das wird sie. Davon können Sie ausgehen.“
„Warum? Warum tun Sie ihr und sich das an? Sie liebt Sie.“
„Warum? Deswegen“, knurrte ich ihn an, mit beiden Händen auf die Arena um mich herum zeigend. „Das ist meine Vergangenheit und noch viel mehr abgefuckter Scheiß. Ich muss verhindern, dass sie so etwas noch einmal erleben muss. Verstehen Sie? Diese Scheiße hier wird ewig an mir hängen.“
Er sah mich bekümmert an, nickte dann aber verstehend. Dann sagte er etwas auf Indisch zu seinem Assistenten. Dieser holte daraufhin zwei kleine Flaschen Mineralwasser aus einer Box und reichte mir eine. Dann nahm er die beiden Tabletten von Kumari in Empfang und ging zu Kurosaki, der nur noch in seinen Hosen gekleidet dastand und offenbar auf mich wartete. Ich öffnete die Flasche, nahm einen großen Schluck, spülte meinen Mund damit aus und spuckte das Wasserblutgemisch einfach auf den Boden, was mir vom Moderatoren eine angewiderte Miene einbrachte. Anschließend trank ich den Rest in einem Zug leer, während ich Kurosaki und den Inder beobachtete. Kurosaki lehnte tatsächlich die Tabletten ab. Er nahm nur die Flasche entgegen und trank ebenfalls. Der Assistent kehrte zu uns zurück.
„Er will die Tabletten auch nicht nehmen. Den Mundschutz hat er ebenfalls abgelehnt“, informierte er den Doc. Dieser sah mich nachdenklich an.
„Das kann nur eines bedeuten: Er hat Herzprobleme oder einen hohen Blutdruck oder sogar beides. Er wird die Wirkweisen und Gegenanzeigen des Aufputschmittels kennen. Eine Tablette bringt nicht die für den Kampf erwünschte Wirkung. Bei zwei Tabletten riskiert er einen Herzstillstand, wenn sein Puls Höchstleistungsniveau erreicht.“
Wer hätte das gedacht? Da kam mir tatsächlich seine Samurai-Mentalität zugute. Er war nicht feige. Er wollte einen ehrenvollen Tod sterben, auch wenn dies einen langsamen und qualvollen Tod beinhaltete. Oh ja! Ich würde ihn leiden lassen. Darauf freute ich mich mehr als auf die Vernichtung von Sergejew.
Ich drückte die leere Plastikflasche an die Brust von Kumari und sagte: „Ich verlasse mich auf Sie. Mia darf nicht in meine Nähe. Okay?“
„Okay.“
Ich löste mich aus der Gruppe Männer und schritt wieder zurück zum Käfig. Meine Knochen und Muskeln rebellierten, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Jeden Moment würde der Kampf meines Lebens stattfinden. All die Todeskämpfe, die ich bis dato gekämpft hatte, hatten nur insofern Bedeutung, als sie mich genau hierher gebracht hatten, wo ich mich gerade befand. Endlich hatte ich die Chance, die größte Fessel meines Lebens loszuwerden und Rache zu üben. Rache dafür, dass Kurosaki mich wahrlich die Hölle auf Erden hatte erleben lassen, noch zu meiner persönlichen Tragödie, die mir durch den brutalen Verlust meiner Familie widerfahren war.
Während ich die Stufen des Podestes hochstieg, fixierte ich ihn mit einem Lächeln voller Genugtuung, das er selbst so gut wie nichts anderes beherrschte. Doch davon war im Moment nichts zu sehen. Seine Züge spiegelten keine Emotion wieder. Bis zum Schluss verbot er es sich, Furcht zu zeigen, um seiner Familie und seinen Nachfahren Ehre zu machen.
Ich betrat das Oktagon und blieb auf der Seite gegenüber dem Eingang stehen. Mühsam unterdrückte ich den Drang, nach links zu Mia zu sehen. Kurosaki stellte sich mir gegenüber. Die Tür wurde geschlossen. Mit der Verriegelung der Tür verstummte das Stimmengewirr. Unsere Blicke verbanden sich. Ich richtete kein Wort an ihn, obwohl ich ihm nur allzu gerne meinen Hass verbal entgegenschleudern würde. Aber dafür würde ich noch genug Zeit haben. Zunächst musste ich meine Strategie in die Tat umsetzen. Diese sah keinen technischen Kampf vor, wie der, den ich mir mit dem Chinesen geliefert hatte. Ich wollte ihn schnell außer Gefecht setzen, dann Stück für Stück auseinandernehmen und so langsam und schmerzvoll dem Tod übergeben. Ich würde die Brechstange hervorkramen, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich schiss auf den Ratschlag von Kumari und auf meine Kampferfahrung. Ich musste nur bis zu seinem Tod durchhalten. Alles andere war egal. Mein Tod nach seinem wäre gar nicht der schlechteste Ausgang. Damit wäre so vielen geholfen.
Ich spannte meine Armmuskeln an und ballte meine Hände zu Fäusten, ungeachtet des stechenden Schmerzes, der mir von dem gebrochenen Finger in den Arm hinauf jagte. Meinen Kopf hatte ich leicht nach unten geneigt, wie ein Stier es vor einer Attacke mit seinen Hörnern tat. Kurosaki hielt seine Arme schulbuchmäßig in der Abwehrhaltung des Chudan Kamae vor seinem Körper und seine Beine nahmen den Zenkutsu-dachi ein, was ihm nicht viel helfen würde. Er war höchstens 1,80 m und wog mehr als zwanzig Kilo weniger als ich. Ich musste ihn nur zu fassen bekommen. Alles hing davon ab, wie er reagierte. In nicht einmal zehn Sekunden würde ich es erfahren. Ich atmete noch einmal tief ein und dann preschte ich mit einem furchteinflößenden Schrei auf ihn los. Er tat genau das, was ich erwartet und erhofft hatte. Er setzte sich ebenfalls in Bewegung. Ich wollte genauso vorgehen wie beim Brasilianer. Doch er sah es wohl voraus und holte zu einem Tritt aus, um mich im Brustbereich, an meiner schwächsten Stelle zu treffen. Sein Fuß traf mich nicht frontal, streifte aber meine Seite. Diese Nähe nutzte ich, ergriff mit beiden Händen seinen Fußknöchel und brachte ihn mit einer wuchtigen Drehung so zu Fall, dass er mit einem lauten Krachen auf seinem Bauch landete. Mein von Kurosaki persönlich antrainierter Killerinstinkt und mein unbändiger Hass verschmolzen miteinander und verwandelten mich zu einem Raubtier, das mit übermenschlich schnellen Reflexen agierte. Ich funktionierte wie eine Maschine. Die in meinem Körper wütenden Schmerzen waren zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Kaum war er auf dem Boden aufgeschlagen, stellte ich mich auf die Rückseite seines Beines und zog seinen Unterschenkel hoch und trat so mit voller Kraft dagegen, dass das Wadenbein zusammen mit seinem Schienbein brach. Ich zögerte keine Sekunde und fuhr mit meiner Zerlegung fort. Er schrie kurz auf, drehte sich dann aber überraschend schnell auf den Rücken, weil er meiner nächsten Aktion entgegenwirken wollte. Tatsächlich gelang es ihm, mir mit seinem noch intakten Bein in den Brustkorb zu treten. Ich spürte einen scharfen Schmerz, der sich beim Einatmen verschärfte. Doch ich ignorierte es und machte weiter. Ich boxte ihn in seine Eier und ergriff daraufhin sein gesundes Bein, während er sich vor noch mehr Schmerzen wand. Im Nu stand ich und trat ihm von oben auf die Kniescheibe, dass das Bein sich in einem unnatürlichen Winkel nach innen bog. Sein Schreien erstarb plötzlich. Er musste, von den Schmerzen übermannt, das Bewusstsein verloren haben. Aber nicht lange. Ich würde ihn wieder in das Hier und Jetzt zurückholen. Ich kam zu ihm nach oben und verpasste ihm auf jeder Seite eine Ohrfeige. Es dauerte nicht lange, da schlug er die Augen auf.
„Was sagst du nun, Kurosaki? Hättest du jemals gedacht, am eigenen Leib zu erfahren, was es bedeutet, im Käfig um sein Leben zu kämpfen?“ Verfluchte Scheiße! Durch das Reden schmerzte meine Lunge noch mehr. Aber ich hatte noch einiges zu sagen und zu tun, bevor ich ihm den Hals umdrehte. „Wie viele junge Männer mussten sterben, damit du deine überragenden Todeskämpfer bekamst?“
Er war bemüht, die Fassung zu wahren, aber ich sah ihm trotzdem seine Angst und vor allem seine Qualen an.
„Auch wenn du jetzt als Sieger aus diesem Kampf hervorgehst, wirst du dennoch der Verlierer sein“, presste er hervor. „Du wirst nie ein normales Leben mit einer Frau und Kindern führen können. Dafür bist du viel zu kaputt. Und erst recht nach diesem Turnier. Du hast zu lange jenseits der Legalität gelebt. Deine Vergangenheit wird dich immer einholen, wenn nicht aus Japan, dann aus Lateinamerika.“
Ich holte mit der Faust aus und schlug ihm mitten ins Gesicht. Seine Nase blutete sofort. Er stöhnte, aber schrie nicht.
„Du kannst deiner Wut ... und deinem Hass ... noch so viel freien Lauf lassen ... aber ändern, wird dies nichts an deiner ... Situation.“
„Oh doch! Es wird sehr viel ändern. Du wirst mich nie wieder zu etwas zwingen, nie wieder Menschen, die mir etwas bedeuten, gefährlich werden oder Leid zufügen können. Und die Welt wird besser sein, weil sie von dir Abschaum befreit worden ist.“
Ich bekräftigte meine Worte mit einem erneuten Schlag in sein Gesicht. Dieses Mal schlug ich ihm die Faust so fest in sein Maul, dass ich ein paar Zähne aus seinem Kiefer stieß. Etwas stach bei jedem Atemzug in mein mich mit lebenswichtigem Sauerstoff versorgendes Organ. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Ein Druck baute sich in meinem Brustkorb auf. Ich musste mich beeilen.
„Das ist dafür, dass du mich mit kaum achtzehn Jahren dazu gezwungen hast, zu töten.“
Nach jedem Satz versenkte ich meine Faust in seinem Gesicht. Seine Versuche, meine Schläge abzuwehren, waren vergebens. Ein paar Hiebe musste ich dennoch in meinem Gesicht und in meiner Brust einstecken. Aber ich machte mit unverminderter Kraft und Geschwindigkeit weiter. Ich funktionierte wie eine Maschine, die man erst zum Stillstand brachte, wenn man einen Knopf drückte.
„Das ist dafür, dass du mich eine Woche lang in einem dunklen Loch hast fast verrotten lassen und gefoltert hast.
Das ist dafür, dass du mich zu dem Mann gemacht hast, der ich bin.
Das ist dafür, dass du mein Kind entführt hast.
Das ist dafür, dass du Mia so viel Angst und Leid zugefügt hast.
Das ist dafür, dass du sie gezwungen hast, diese ganze Scheiße hier mitanzusehen.
Und das ist dafür, dass du mein Leben für immer zerstört hast.“
Meine Stimme war von Wort zu Wort schwächer und leiser geworden. Beim letzten Satz röchelte ich. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kurosaki schon nichts mehr gehört. Während der letzten zwei Sätze lag sein Körper bereits schlaff auf dem Boden. Entweder war er wieder bewusstlos oder ich hatte ihn totgeprügelt. Um mich herum drehte sich alles. Bei jedem Atemzug bohrte sich etwas in meine Lunge. Doch ich konnte noch nicht aufhören. Ich musste sichergehen, dass dieser Dreckskerl ein für alle Mal erledigt war. Mit deutlich langsameren Bewegungen nahm ich seinen Kopf in die Arme und überdrehte seinen Hals, bis es knackte. Meine Kraft reichte gerade noch aus, um diesen barbarischen Akt auszuführen. Anschließend ließ ich mich einfach nach hinten fallen, nahm einen letzten stechenden Atemzug, dann wurde mir schwarz vor Augen ...