9
Mia
Ein Geräusch weckte mich. Mit geschlossenen Augen und schlaftrunken streckte ich den Arm aus und tastete nach Shawn. Die linke Bettseite war jedoch leer, wie schon ein paarmal, seitdem wir dank Dr. Kumari die Tage und Nächte wieder vereint verbringen konnten. Mittlerweile versetzte mich die leere Stelle neben mir nicht mehr gleich in Panik. Ich hatte mich die vergangenen vier Nächte daran gewöhnt. Während ich nicht aufhörte, den Schlaf des Gerechten zu schlafen, hatte Shawn immer noch mit Schlafstörungen zu kämpfen. Aber das war nicht der einzige Kampf, den er zu kämpfen hatte.
Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich mit den Erlebnissen auf dem Schiff besser zurechtkäme als er – zumindest noch. Aber ich wusste inzwischen, dass die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung keinem genauen Zeitplan folgten und sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich äußerten. Vielleicht war ich immer noch viel zu erschöpft und mein Schlaf noch viel zu tief, sodass mein Unterbewusstsein zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht mit Albträumen zuschlagen konnte, die die Erlebnisse und die grausamen Bilder verarbeiteten.
Ich richtete mich auf und ließ auf der Suche nach Shawn meinen Blick in dem zur Treppe hin offenen Raum herumschweifen. Vor zwei Tagen hatte Dr. Kumar grünes Licht für einen Umzug gegeben. Wir waren auf Veranlassung des Docs in die viel geräumigere Luxuskabine gezogen, in der Maiko und Yaeko die Zeit auf dem Schiff verbracht hatten. Es war dunkel. Aus dem kleinen Badezimmer links von mir drang kein Licht zu mir. Von unten schimmerte ebenso wenig Licht die Treppe zu mir hoch. Ich kletterte aus dem Kingsize Bett und ging nach unten. Bereits auf der Treppe entdeckte ich Shawns riesige Gestalt zwischen Esstisch und Sideboard stehen. In einer verzweifelten Geste hatte er seine Hände im Nacken verschränkt und starrte auf etwas vor ihm.
„Shawn?“, sprach ich ihn ganz leise an, weil ich ihn nicht erschrecken wollte.
Er drehte sich zu mir um. „Sorry! Ich wollte dich nicht wecken.“
Ich näherte mich ihm und entdeckte auf dem Sideboard ein umgekipptes Whisky-Glas. Eine Lache hatte sich auf dem Möbelstück ausgebreitet und etwas davon lief die Glasfront hinunter. Kommentarlos ging ich zur Küchenzeile, schaltete das Licht an und nahm das Geschirrhandtuch, das auf der Arbeitsplatte lag. Dann kehrte ich zu ihm zurück und behob den kleinen Unfall. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie er mich beobachtete. Als ich fertig war, legte ich das Tuch auf das Board und richtete meine Aufmerksamkeit auf ihn.
„Was ist los?“, fragte ich ihn sanft.
Er schnaubte durch die Nase und rieb sich mit der unversehrten Hand über das Gesicht. Dann sah er mir in die Augen.
„Ich hätte auf dich hören sollen.“
Obwohl er diesen Satz völlig ohne Zusammenhang äußerte, wusste ich sofort, was er meinte. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und legte beruhigend meine Hände auf seine Brust.
„Ich weiß, Shawn. In dem Moment, als du es getan hast, wusste ich, dass du nie darüber hinwegkommen wirst. Ich habe dich angefleht, es nicht zu tun, einzig und allein aus diesem Grund.“
„Wie konnte ich nur meine heiligste Regel brechen und dann auch noch an dir?“
„Du warst zu diesem Zeitpunkt nicht zurechnungsfähig. Du warst von der ganzen Situation überfordert. Du warst verzweifelt. Du wurdest überrumpelt. Du warst von der idiotischen Idee besessen, mich nur retten zu können, wenn du eine Trennung zwischen uns herbeiführst. Und dann wütete auch noch dieser Drogencocktail in dir. Und dein Adrenalinspiegel aufgrund des Kampfes befand sich bestimmt auch noch in ungewöhnlicher Höhe. So einfach lässt sich dein Verhalten erklären. Hör auf, dich mit Selbstvorwürfen zu zerfleischen!“
„Ich hatte den ersten Albtraum. Wenn der sich in dieser Art wiederholen sollte, so wie deiner es immer und immer wieder tut, dann dreh ich durch. Das halte ich nicht aus. Ich fürchte, ich brauche dringender einen Psychiater als du.“
„Was hast du denn geträumt?“
„Na, was wohl? Ich habe geträumt, wie ich dich vergewaltigt habe. Aber es waren nicht nur zwei Stöße und es war auch nicht von hinten. Ich habe dir dabei in die verweinten Augen gesehen, während du die ganze Zeit mich angefleht hast, aufzuhören, aber ich habe nicht aufgehört. Ich habe weitergemacht.“
„Beruhige dich! Du beschäftigst dich einfach
viel zu sehr damit. Hier auf dem Schiff und dann noch so außer Gefecht gesetzt, wie du gerade bist, ist das auch kein Wunder. Du hast ja auch nichts anderes zu tun, als in deinen dunklen Gedanken zu versinken. Du brauchst dringend Ablenkung. Unser hektischer Familienalltag wird da genau richtig kommen. Du musst endlich wieder etwas anderes sehen, als diese beschissene Kabine. Es wird besser werden, sobald wir zu Hause sind. Vertrau mir!“
„Es ist total krank. Als ich aufgewacht bin, war ich so hart, dass es schmerzte. Es hat nicht mehr viel gefehlt und ich wäre gekommen. Ich ekle mich vor mir selbst.“
Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und versuchte, seinen Blick mit meinem einzufangen, aber er ließ es nicht zu. Er schloss sofort die Augen, als er merkte, was ich vorhatte. Seitdem wir wieder Tag und Nacht zusammen verbrachten, hatten wir noch kein einziges Mal das besondere Band zwischen uns entstehen lassen. Ich unternahm immer mal wieder spontan den Versuch, aber er ließ sich nicht darauf ein. Ich verlor kein Wort darüber, weil ich ihn nicht unter Druck setzen wollte. Was die Nähe unserer Körper anbelangte, hatten wir auch keine Fortschritte gemacht. Nicht, dass es mich störte. Ich genoss es, einfach von ihm gehalten zu werden und meinen Körper an seinen zu schmiegen. Aber nichts davon ging von ihm aus. Immer war ich diejenige, die die Initiative ergriff.
Dies waren die anderen beiden Kämpfe, die er tagtäglich mit sich ausfocht. Er verlor kein Wort darüber. Also ignorierte ich es einfach und beschränkte mich darauf, zärtlich zu ihm zu sein und immer wieder zu sagen, wie sehr ich ihn liebte. Dass es ihm nicht unangenehm war, konnte ich spüren. Er entspannte sich und genoss es. Häufig reagierte er mit einer Erektion auf meine harmlosen Streicheleinheiten. Doch er unterließ jegliche anzügliche Äußerungen und sexuelle Annäherungen. Er brauchte einfach Zeit, um dieses Trauma, das er sich selbst zugefügt hatte, zu verarbeiten. Das redete ich mir zumindest ein. Doch der Gedanke, dass er nie wieder der Shawn werden würde, der er gewesen war, bevor diese Horrorreise begonnen hatte, breitete sich langsam in meinem Kopf wie ein Krebsgeschwür aus.
„Alles wird gut! Okay? Wir haben bisher alles gemeistert, dann werden wir auch damit fertig werden.“
Ich küsste ihn. Er roch nach Whisky.
„Wie viel hast du schon getrunken?“
„Zwei.“
„Gut. Mehr brauchst du auch nicht.“
„Doch. Ich fürchte schon. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich meine Probleme in Alkohol ertränke.“
„Aber dann bin ich gekommen und es war nicht mehr notwendig, dass du dich betrinkst. Jetzt stehe ich ebenfalls vor dir und kann dich trösten.“
„Sagt die Frau, die ich vergewaltigt habe.“ Der Vorwurf in seiner Stimme war unüberhörbar. Er hielt mich aber nicht davon ab zu lächeln.
„Hast du nicht. Und jetzt komm schon, du großer, dummer Mann!“
Sein Augenrollen ging mit einem amüsierten Zucken in seinen Mundwinkeln einher. Ich nahm ihn an der Hand, zog ihn bis zur Küchenzeile hinter mir her und schaltete die Lampe aus.
Wir gaben wirklich ein lustiges Paar ab. Als ob er meinen Gedanken gelesen hätte, meinte er: „Ob sie hier auch eine Kamera angebracht haben, um uns zu beobachten? Wenn ja, dann lacht sich das Schiffspersonal über mich tot. Ich habe auf die rohste Weise, die man sich vorstellen kann, Männer getötet und jetzt lass ich mich von einer halben Portion wie ein kleines Kind durch die Gegend zerren.“
„Ich zerre dich nicht. Ich führe dich“, erwiderte ich lachend.
Es musste noch mitten in der Nacht sein, da durch das kleine Fenster noch kein Licht des erwachenden Tages zu uns hereinschimmerte. Ich führte ihn weiter bis zur Treppe und er folgte mir brav. Etwas Unverständliches murmelte er vor sich her, während wir die Treppe hochstiegen. Am Bett angekommen, drückte ich ihn auf die Matratze. Unter normalen Umständen hätte ich mich rittlings auf seinen Schoß gesetzt und ihn geküsst. Nicht sanft und behutsam, sondern verführerisch und leidenschaftlich. Aber das traute ich mich nicht. Zum einen, weil seine Lippen immer noch ziemlich mitgenommen aussahen. Zum anderen, weil ich fühlte, dass ich ihm damit nur Angst machen würde. Also bedeutete ich ihm mit ein wenig Druck gegen seine Schultern, dass er sich hinlegen sollte. Er seufzte leicht genervt. Zu gern hätte ich gesehen, ob er wieder schmunzelte, aber dafür war es zu dunkel. Ich krabbelte vorsichtig über seine Beine, legte mich neben ihn und deckte uns zu.
„Wenn du denkst, dass ich nach diesem Traum nochmal einschlafe, dann irrst du dich.“
Ich streichelte über das Pflaster auf seiner Brust, das inzwischen eine Nummer kleiner geworden war und arbeitete mich zu seinem Hals hoch, bis ich seine stoppelige Wange berührte.
„Wetten, dass ich es schaffe, dich zum Schlafen zu bringen?“
Augenblicklich versteifte er sich. Himmel! Wenn ich nicht wüsste, wie sehr er unter der ganzen Situation litt, dann würde ich mich über sein ängstliches Verhalten köstlich amüsieren. Shawn Rutherford, Bad Boy, Krimineller, Killer, Todeskämpfer hatte Angst vor Sex. Ich tat wieder so, als ob ich seine Anspannung nicht bemerkt hätte, stützte mich auf meinen Ellbogen und sagte: „Schließ die Augen und entspann dich!“
„Mia, ich kann es dir im Moment nicht so zeigen wie sonst, aber du musst mir glauben, dass ich dich liebe, und zwar wie ich noch keinen Menschen vor dir geliebt habe. Fuck! Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“
Ich löste meine Hand von seinem Gesicht, ergriff die Seinige und schmiegte mein Gesicht in sie, weil ich wusste, dass er genau das gemacht hätte, wenn unsere Welt nicht in ihre Grundfeste auf so grauenvolle Weise erschüttert worden wäre. Aber nun war er gehemmt, weil er mir gegenüber gewalttätig gewesen war.
Durch das dürftige Licht des Nachthimmels, das durch das Bullauge zu uns drang, konnte ich nur den weißen Gipsverband auf seiner Nase erkennen. Der Rest seines Gesichts lag konturenhaft im Schatten. Dennoch konnte ich spüren, wie er mich ansah. Wenn es dunkel war, fiel es ihm leichter, mir in die Augen zu sehen. Sein Daumen streichelte zärtlich meine Wange.
„Es ist alles gut, Shawn! Sei einfach nur dankbar, dass du überlebt hast und wir wieder zusammen sind! Freu dich auf zu Hause! All deine Ängste werden sich, wenn die Zeit reif ist, in Wohlgefallen auflösen“, versuchte ich, ihn zu beruhigen, obwohl mir sein Verhalten immer mehr Sorgen bereitete. Zu Hause würde ich auf jeden Fall mit Eveline Kontakt aufnehmen und zu Rate ziehen. Vielleicht konnte sie ihm helfen.
„Deine Zuversicht hätte ich gerne. Es ist der reinste Hohn! Findest du nicht? Damals, bei Juan, da brauchtest du mich, nachdem Eduardo dir das angetan hatte. Ich habe dir Halt gegeben und dich getröstet. Und jetzt ...“, er schnaubte laut, ließ mein Gesicht los und schlug aufgebracht auf die Matratze, „ ... jetzt liege ich hier – am Boden zerstört – und du tröstest mich, mich, obwohl ich dir das gleiche angetan habe wie Eduardo.“
So langsam ging er mir mit diesem Thema wirklich auf die Nerven. Ich hatte mir schon den Mund fransig geredet, aber es kam offenbar nicht bei ihm an, dass es für mich keine Vergewaltigung gewesen war.
Ich drehte mich von ihm weg, schaltete die Wandleuchte über mir an und setzte mich mit verschränkten Armen, ihm wieder zugewandt, in den Schneidersitz.
„So! Wir werden jetzt zum allerletzten Mal über das reden, was in jener Nacht in deinem Quartier geschehen ist. Und dann will ich nie wieder etwas davon hören. Erst recht verbiete ich dir, das, was Eduardo mit mir getan hat, mit dem zu vergleichen, was du gemacht hast. Es lässt sich überhaupt nicht miteinander vergleichen.“
„Oh doch“, hielt er dagegen. „Wir sind beide mit Gewalt in dich eingedrungen. Das ist dasselbe. Du hast selbst gesagt, dass ich dir wehgetan habe. Ich habe dich sicherlich auch verletzt.“
Seine Augenbrauen waren etwas zusammengerückt und seine Lippen waren kaum zu sehen, da er sie so fest aufeinanderpresste. Eigentlich musste ihm das bei den Verletzungen wehtun. Ich reagierte nicht sofort auf seine Frage, weil ich überlegte, ob es ratsam war, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Hab ich dich verletzt?“, hakte er nach. „Und lüg mich nicht an! Ich will die Wahrheit wissen.“
„Nur ein wenig. Es fühlte sich im Grunde genauso an, wie nach unserer letzten Nacht, in der wir so intensiven Sex hatten. Es hat sich wund angefühlt und beim Pinkeln hat es etwas gebrannt. Also überhaupt nicht der Rede wert. Bei Eduardo hatte ich richtige Schmerzen und benutzte ja auch deswegen die Salbe.“
Er wandte sich von mir ab und rieb sich in einer verzweifelten Geste über das Gesicht.
„Shawn, ich schwöre dir, dass ich mich nach dieser Nacht nicht annähernd so gefühlt habe wie auf dem Anwesen. Ich war am Boden zerstört. Ja! Aber nicht deswegen. Ich hatte so große Angst, dass du sterben würdest. Ich war unendlich traurig, weil du uns aufgegeben hast und weil ich mir ein Leben ohne dich überhaupt nicht vorstellen konnte. Und dann war ich noch wütend auf dich, weil du tatsächlich geglaubt hast, mich durch dein Verhalten dazu zu bringen, dich zu hassen, wo ich dir doch schon so oft gesagt hatte, dass ich nie aufhören würde, dich zu lieben.“ Ich holte tief Luft und ließ lautstark die Luft aus meinem Mund entweichen, so als ob ich gerade Schwerstarbeit geleistet hätte. „Geht das jetzt endlich in deinen Schädel?“, fuhr ich fort. „Jeder würde Verständnis für dein Verhalten in deiner ausweglosen Lage und bei dem Zustand, in dem du dich befandest, zeigen. Ich habe deinen Widerwillen und deinen inneren Kampf gespürt, als du es getan hast. Letztendlich hast du dich selbst vergewaltigt. Maiko und Yaeko haben es gesehen, wie sehr es dir zugesetzt hat. Jeder hat es wahrscheinlich gesehen. Und wenn es einer unserer zahlreichen Zuschauer nicht währenddessen kapiert hat, dann hat er es spätestens in dem Moment verstanden, als du das Badezimmer demoliert hast. Langsam habe ich den Eindruck, dass du willst, dass ich dich deswegen verurteile.“
„Vielleicht würde es mir dann besser gehen.“
Ich lachte spöttisch auf.
„Ich kenn dich. Es würde dir noch schlechter gehen.“
„Schlechter geht kaum“, lachte er bitter auf.
„Manchmal ist das Motiv, warum man etwas tut, entscheidend und nicht das, was man tut. Du warst bereit, alles zu opfern, dein Leben und unsere Liebe, weil du Angst hast, dass uns wegen dir und deiner Vergangenheit etwas zustößt. Das ist sehr selbstlos und edelmütig.“
Er gab einen missbilligenden Laut von sich.
„Ja, natürlich. Es ist sehr edelmütig, dich zu vergewaltigen.“
Ich rollte mit den Augen, weil ich mit meinem Latein am Ende war.
„Du musst unbedingt mit Eveline reden. Vielleicht kann sie dir helfen, zur Vernunft zu kommen.“
„Ja, vielleicht mach ich das tatsächlich. Immerhin kennt sie ja schon fast lückenlos meine bewegende und kriminelle Vergangenheit. Da kommt es auf einen dunklen Fleck mehr auf meiner Weste nicht mehr an.“
„Weißt du, was ich am liebsten tun würde?“
„Was denn?“
„Heißen und wilden Sex mit dir haben. Dir die Seele aus dem Leib vögeln, damit du zu erschöpft bist, dich mit so vollkommen schwachsinnigen Gedanken innerlich zu zerfleischen.“
Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Ein unsicheres Lächeln rang er sich ab und sagte: „Leider hat der Doc noch nicht das Sexverbot aufgehoben. Ansonsten ...“
Er ließ das Ende des Satzes vielversprechend in der Luft hängen. Dieser Lügner! Wäre die Lage anders, dann hätte er auf Kumaris Verbot geschissen und mich längst genommen. Jetzt verschanzte er sich hinter dem Verbot. Ich hielt mich mit einem bissigen Kommentar zurück, weil er mir leidtat. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sehr es ihn zu schaffen machte. Dennoch konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich streichelte seine Brust, während er mich mit Argusaugen beobachtete und sich etwas anspannte. Gott, sehnte ich mich nach meinem alten Shawn und allem, was ihn ausmachte!
Es fiel mir tatsächlich von Tag zu Tag schwerer – jetzt, da wir rund um die Uhr aneinanderklebten, wofür einzig und allein ich sorgte –, ohne die Verschmelzung unserer Körper und unserer Seelen auszukommen.
Als meine Hand über das Pflaster strich, fiel mir das Amulett ein.
„Was ist mit deinem Amulett passiert?“, fragte ich, dankbar ein Möglichkeit gefunden zu haben, von dem Thema abzulenken, das ihn so quälte.
„In meiner Jeans.“
Ich stieg aus dem Bett, ging zum Schrank und schob die große Spiegelschiebetür zur Seite. Die einzige Hose in dem Schrank, die Shawn gehörte, war die Jeans, die er getragen hatte, als unsere Odyssee begann. Ich durchwühlte zwei Taschen. Bei der dritten wurde ich fündig. Mit dem Amulett kehrte ich wieder zu ihm zurück. Ich legte es ihm um und sagte: „Der Albtraum ist vorbei. Jetzt kannst du es wieder tragen. Es ist mehr als die Hälfte deines Lebens ein Teil von dir gewesen und hat dich nach den Kämpfen für Kurosaki immer wieder geerdet und dir geholfen, deine Menschlichkeit nicht zu verlieren. Wenn du wieder zu zweifeln beginnst oder wenn du in einer Stimmung bist, in der du dich für einen verabscheuungswürdigen Menschen hältst, dann nimm es in die Hand und denke daran, dass dich die sieben Menschen, die du in deiner Hand hältst, lieben.“
Wahrscheinlich war es eine spontane Reaktion, so spontan, dass sogar seine körperliche Gehemmtheit zu langsam war, um ihn aufzuhalten. Jedenfalls lag ich plötzlich an seiner Seite in einer festen Umarmung. Sein heißer Atem strich über mein Gesicht, als er sagte: „Schneewittchen, wenn es doch nur so einfach wäre! Du und deine Ratschläge, ihr seid so süß. Ich werde es ausprobieren. Das verspreche ich dir.“
Er küsste meinen Scheitel.
„Ich liebe dich, Schneewittchen.“
„Ich liebe dich auch, Shawn.“
Ich streckte mich zu ihm, berührte seinen Mund mit meinem und küsste ihn mit etwas geöffneten Lippen, um zu sehen, wie er darauf reagieren würde. Etwas forscher werdend, strich ich mit meiner Zungenspitze über seine raue, verkrustete Unterlippe. Ein elektrischer Impuls jagte durch meinen Körper und endete in meinem Unterleib, als wider Erwarten seine Zunge meine berührte. Ich wurde noch ein wenig mutiger und öffnete meinen Mund etwas mehr, um ihn das Eindringen seiner Zunge zu erleichtern. Doch es blieb nur bei der zaghaften Berührung unserer Zungenspitzen. Langsam schob ich mein angewinkeltes Bein über seinen Schritt. Ich wollte es genau wissen. Erleichtert spürte ich unter dem Stoff seiner Sportshorts seine heranwachsende Erektion. Er wollte mich genauso, wie ich ihn wollte. Plötzlich löste er seinen Mund von mir und sagte: „Wir sollten jetzt aufhören, bevor wir die Kontrolle verlieren. Okay?“
Ich sah in seine Augen und nickte verständnisvoll, zumindest war es meine Absicht, einen derartigen Eindruck zu machen. Allerdings schien mir dies nicht sonderlich gut gelungen zu sein.
„Mia, ich begehre dich noch genauso wie vor dieser ganzen Scheiße, die hier passiert ist. Aber im Moment habe ich Probleme, mich dir auf so intime Weise zu nähern. Es tut mir leid. Bitte verzeih mir!“
Seine bekümmerte und etwas verzweifelt klingende Stimme, brachte mich fast zum Weinen.
„Du musst dich für nichts entschuldigen. Ich kann dich verstehen. Mach dir also bitte nicht darum Sorgen! Wir haben alle Zeit der Welt.“
Ich küsste ihn zärtlich, schaltete das Licht aus und zog die Decke erneut über uns.
„Vielleicht schaffen wir es ja doch noch, ein wenig zu schlafen. Zweimal denselben Albtraum in einer Nacht träumen, ist sehr unwahrscheinlich“, sagte ich, mein Gesicht an seinen Hals schmiegend.
Mein einsamer Liegestuhl hatte seit unserer Zusammenführung Gesellschaft bekommen. Nun hatte sich mein Wunsch doch noch erfüllt und ich konnte zusammen mit Shawn die untergehende Sonne und die angenehmeren Abendtemperaturen auf dem Deck genießen. Ein paarmal hatten wir uns sogar für ein oder zwei Stunden am Pool aufgehalten, in dem ich etliche Bahnen am Stück in einem hohen Tempo geschwommen war, während Shawn mir bewundernd dabei zugesehen hatte. Der Anblick, wenn ich tropfnass in dem nur wenig Haut bedeckenden, schwarzen Bikini dem Wasser entstieg, blieb bei ihm nicht ohne Wirkung. Sein Hunger nach mir spiegelte sich in seinen Augen wider. Vielleicht machte ich mir einfach zu viele Sorgen und musste nur etwas geduldiger sein. Es war wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis sein sexuelles Verlangen die Oberhand gewann.
Jeden Abend verfolgten wir auf den beiden Liegestühlen wie ein altes Ehepaar das wunderschöne Naturphänomen, so wie jetzt, an unserem allerletzten Abend auf dem Schiff. Uns lag die letzte Nacht bevor. Ich konnte es kaum glauben, dass ich in nicht einmal vierundzwanzig Stunden die Kinder, Mum, Dad und Chloé wiedersehen würde. Die letzten Tage waren von innerem Frieden und stiller Glückseligkeit geprägt, zumindest was mich betraf. Shawn focht nach wie vor seine inneren Kämpfe aus, mal mehr, mal weniger. Manchmal schwiegen wir stundenlang. Letztendlich gab es auch nicht viel zu sagen. Es war alles gesagt, was gesagt werden musste. Ich hatte den Eindruck, dass uns die Stille, die uns wie ein schützender Kokon umhüllte, guttat. Sie hatte etwas Heilendes ebenso wie die fast ununterbrochene Berührung unserer Körper. Ich stand unter ständiger Beobachtung, was mich einerseits amüsierte, aber andererseits auch nervös machte. Immer wieder entdeckte ich Skepsis und Zweifel in seinen Zügen, wenn ich ihn dabei erwischte, wie er mich mit den Augen verfolgte. Die Falten auf seiner Stirn hatten sich in den letzten Tagen tiefer in seine Haut gegraben. Offenbar wartete er darauf, dass ich irgendwann doch noch schreiend die Flucht vor ihm ergreifen würde. Seit seinem Albtraum betete ich jeden Abend, dass wir beide von Albträumen verschont blieben, aber nur seinetwegen. Beides wäre fatal für ihn. Bisher wurden meine Gebete Gott sei Dank erhört.
Ich hatte nur wenige Gelegenheiten, ihn heimlich zu beobachten. Wenn seine Aufmerksamkeit nicht auf mich gerichtet war, starrte er abwesend Löcher in die Luft. An dem Zucken seines Kiefermuskels erkannte ich, dass ihn in diesen Momenten die Dämonen quälten, die er selbst herbeigerufen hatte.
Ich drehte meinen Kopf und betrachtete sein Profil. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren noch weiter zurückgegangen. Die Hämatome hatten bald das gesamte Spektrum an Farben durchlaufen. Am Nachmittag hatte die Abschlussbesprechung stattgefunden, bei der Dr. Kumari ihm den Gipsverband von der Nase abgenommen hatte. Sie war immer noch stark geschwollen. Noch konnte man nicht erkennen, ob der Doc tatsächlich gute Arbeit geleistet hatte. Sämtliche Fäden waren gezogen worden. Er legte Shawn gewisse Verhaltensmaßregeln bezüglich seiner Lungenverletzung nahe. Weitere Arztbesuche diesbezüglich und wegen seines gebrochenen Zehs und Fingers würden zu Hause noch notwendig werden. Zum Schluss wurde das Sexverbot aufgehoben, mit dem Warnhinweis, dass wir es nicht übertreiben sollten. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut herauszulachen. Es war einfach zu komisch, wie der kleine, schmächtige Inder mit erhobenem Zeigefinger vor Shawn stand. Er saß auf einer Krankenpritsche und ich daneben auf einem Stuhl. Shawns Gesichtsausdruck gab keine Emotion preis. Einzig das Zucken des Kiefermuskels verriet, wie es in ihm aussah. Dr. Kumari sah von ihm zu mir und dann wieder zurück zu ihm.
„Mir drängt sich der Gedanke auf, dass sie bereits Geschlechtsverkehr hatten“, platzte er in tadelndem Ton heraus.
„Nein! Hatten wir nicht“, knurrte Shawn. „Und wenn es dazu gekommen wäre, dann läge es in meiner Verantwortung und nicht in Ihrer, auch wenn Sie mein Arzt sind, und das Gott sei Dank nur noch ein paar Stunden.“
Dr. Kumaris Augenbrauen rutschten pikiert in die Höhe. Er hielt Shawns feindseligem Blick stand, bis er schließlich seufzend erwiderte: „Ich weiß, Mr Rutherford, wir sind nicht die besten Freunde. Ich nehme es aber nicht persönlich. Ihnen und Ms Sommer wurde übel mitgespielt. Dass Sie da auf niemanden hier auf dem Schiff gut zu sprechen sind, ist nur allzu gut verständlich. Ich erwarte auch kein Dankeschön für die außerordentlich gute medizinische Versorgung, die Sie in meinem Reich genossen haben. Es gehört zu meiner Pflicht als Arzt, kranken oder verletzten Menschen zu helfen.“ Mein Augenrollen und Shawns Grollen in der Kehle hielten ihn nicht davon ab, in dozierendem Ton sich weiter zu beweihräuchern. „Aber für eine Sache könnten Sie sich durchaus dankbar zeigen.“
Er hielt inne, sah augenzwinkernd kurz zu mir und lächelte ihn dann erwartungsvoll an. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Shawn wandte sich mir zu. Mein Schmunzeln wurde zu einem zärtlichen Lächeln, das er ebenso liebevoll erwiderte.
„Mir haben Sie es zu verdanken, dass Sie und Mia wieder zusammen sind und dass sich trotz der schlimmen Dinge, die Ihnen beiden widerfahren sind, schließlich doch noch alles zum Guten gewendet hat. Oder sehen Sie das anders?“
Shawn räusperte sich kurz.
„Danke, Dr. Kumari“, antwortete er knapp, ohne den Blick von mir zu wenden. Den Sarkasmus in seiner Stimme hatte der Arzt nicht verdient. Deswegen meldete ich mich zu Wort.
„Wir sind Ihnen sehr dankbar, Doc, und zwar für beides – sowohl für die medizinische Versorgung als auch dafür, dass Sie sich über Shawns idiotische Anweisung, mich nicht zu ihm zu lassen, hinweggesetzt haben. Er kann es vielleicht nicht zeigen“, sagte ich, meine Hand auf seine legend und ihn anlächelnd, „aber er ist froh, dass er in so guten Händen war und dass wir wiedervereint sind.“ Mein Blick in Shawns blauen Augen intensivierte sich, weil das, was ich nun sagen würde, für ihn bestimmt war. „Wir haben noch ein paar kleine Schlachten zu schlagen, aber die sind nichts im Vergleich zu dem, was wir hier zur Unterhaltung der Passagiere geboten haben. Gemeinsam werden wir jedes Hindernis, das uns im Weg steht, überwinden.“ Ich zwinkerte ihm aufmunternd zu, woraufhin er zum ersten Mal wie der alte Shawn reagierte. Er zog mich besitzergreifend mit seinem langen, sehnigen Arm zwischen seine Beine und legte ihn um meine Taille. Die andere Hand vergrub er in meinem Haar und sagte laut und deutlich: „Schneewittchen, ich kann mein Glück immer noch nicht richtig fassen, dass ich der Mann bin, den du liebst. Ich bin dir unendlich dankbar für alles, aber vor allem dafür, dass du im Paisley Pub meine unverblümte Einladung zu unserem One-Night-Stand nicht abgelehnt hast.“
Es verging eine Weile, in der er seine Nase an meine Halsbeuge schmiegte und mich umschlungen hielt, während ich meine Arme um seinen Nacken gelegt hatte. Wir vergaßen alles um uns herum und ließen uns einfach von dem unglaublich schönen Gefühl davontragen, dass der Albtraum zu Ende war und wir wieder zusammen sein konnten, ganz gleich, mit welchen Dämonen wir noch zu kämpfen hatten.
Ein Räuspern holte uns wieder in Dr. Kumaris Untersuchungszimmer zurück. Gott sei Dank hatte er nichts mehr zu sagen. Er übergab mir noch eine kleine Tasche mit verschiedenen Medikamenten, Salben und Verbandsmaterial, dann verabschiedete er sich von uns. Somit war ein weiteres Kapitel auf dem Schiff zu Ende gegangen.
Die Sonne war fast hinter der Skyline versunken, als Shawns Stimme heiser erklang. „Was war das Schlimmste für dich, abgesehen von unserer privaten Tragödie?“
Obwohl mal wieder völlig zusammenhanglos einfach so in die Stille hinein gesprochen, die uns umgab, seit wir uns auf den Liegestühlen niedergelassen hatten, wusste ich sofort, worauf er mit der Frage wieder hinaus wollte. Ich würde drei Kreuze machen, wenn wir endlich dieses Schiff verlassen hatten. Meine ganze Hoffnung setzte ich auf die ablenkende Wirkung der vertrauten Umgebung unseres Heims und der uns dort erwartenden Menschen, die ihn liebten, damit er endlich aus dieser Endlosschleife quälender Gedanken freikam.
„Wieso tust du das?“, begann ich in etwas genervtem Ton. „Endlich haben wir das leidliche Thema Vergewaltigung hinter uns gebracht und jetzt fängst du damit an.“ Ich suchte seinen Blick, aber er starrte stur geradeaus, auf die in romantischem Abendrot eingetauchte Skyline Dubais. „Kann es sein, dass du eine masochistische Neigung hast, und zwar eine ziemlich ausgeprägte? Als ob du nicht wüsstest, was mir am meisten zugesetzt hat! Ist das so eine Art Kasteiung, um für eine Schuld, die du gar nicht trägst, zu büßen? Oh Mann, Shawn! Hör endlich auf damit!“
Er drehte sich zu mir und sah mich mit einem todernsten Ausdruck an, der meine Kehle ganz eng werden ließ.
„Vielleicht. Sag es! Ich will es hören.“
Ich schnaubte genervt.
„Gut. Ich sage es dir. Aber damit ist dann auch dieses Thema ein für alle Mal vom Tisch. Wir werden morgen von Bord gehen und diesen ganzen Ballast, der dir zu schaffen macht auf dem verdammten Schiff zurücklassen. Ab dem Zeitpunkt, wenn wir unsere Füße auf heimischen Boden setzen, beginnt ein neues Leben und dieser kleine Abschnitt hier ist Vergangenheit. Ich sage extra neues Leben
, weil ich weiß, dass wir nicht wieder unser altes Leben einfach so weiterführen können. Das, was wir erlebt haben, hat uns geprägt und verändert, vor allem dich, Shawn. Wir werden nie wieder so sein, wie wir waren, bevor dieser zur Realität gewordene Albtraum begonnen hat.“
„Wir werden nicht darum herumkommen, deiner Familie zu erzählen, was auf diesem verfickten Dampfer geschehen ist.“
„Wir müssen ihnen ja nicht alles bis ins kleinste Detail schildern. Und das, was in jener Nacht vorgefallen ist, geht sie sowieso nichts an. Es würde nur für unnötigen Aufruhr sorgen. Sie werden dafür Verständnis haben, dass wir nicht darüber reden wollen.“ In seiner Kehle vibrierte eine Mischung zwischen Knurren und Brummen. „Kann ich diesen animalischen Laut als Zustimmung interpretieren?“
„Ja, Frau Lehrerin.“
Ich atmete tief durch.
„Okay, dann werde ich dir das sagen, was du ohnehin schon weißt. Die Kämpfe waren das Schlimmste. Die permanente Angst, dass du einen verhängnisvollen Fehler machst. Aber auch zu sehen, wie du den Männern Arme und Beine gebrochen hast. Dagegen fand ich den Genickbruch fast noch harmlos. Zu sehen, wie kaltblütig du vorgegangen bist, hat mich schockiert. Klar, ich wusste davon. Du hast mir ja erzählt, wie es damals bei den Todeskämpfen zugegangen ist. Aber dann live zu sehen, wie es der Mann tut, den ich liebe, das hat mich verständlicherweise erschüttert. Aber bei all dieser Brutalität, mit der du und die anderen Kämpfer vorgegangen seid, habe ich nicht vergessen, dass ihr um euer Leben gekämpft habt. Ihr hatte keine Waffen, mit denen man den Tod wesentlich schneller und weniger barbarisch hätte herbeiführen können als mit bloßen Händen.“
Er hatte kein einziges Mal unseren Blickkontakt unterbrochen, während ich gesprochen hatte. Seine Augen ruhten ausdruckslos auf mir. Eine zum ersten Mal unangenehme, bleischwere Stille stand wie eine Mauer zwischen uns, aber er wollte es ja nicht anders. Er wollte, dass ich das aussprach, was er dachte und was ihn genauso quälte wie sein gewalttätiges Verhalten in jener fatalen Nacht. Ich streckte meinen Arm aus und legte meine Hand auf seinen Bizeps, der den ohnehin schon engen Ärmel seines T-Shirts zu sprengen drohte. Ich atmete tief ein und seufzte. Bevor ich jedoch den Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen, was ihn hätte beruhigen oder trösten können, erklang seine belegte Stimme.
„Davor hatte ich von dem Moment an Angst, als Kurosaki uns offenbarte, was er von mir wollte. Ich hatte eine Scheißangst davor - und ich habe sie immer noch -, dass dich diese Eindrücke mich mit anderen Augen sehen lassen. Dass dich diese Brutalität, meine Brutalität, so schwer traumatisiert hat, dass ein Leben mit mir unmöglich wird. Dass dich Albträume plagen und du krank davon werden wirst und dass mein Anblick früher oder später unerträglich für dich sein wird. Und diese Vorstellung ist für mich unerträglich, Schneewittchen.“
Ich drehte mich auf die Seite und rückte ganz nahe an ihn heran, was nicht schwierig war, da wir die Liegestühle aneinandergestellt hatten. Ich ergriff mit beiden Händen seine große Hand mit dem geschienten Zeigefinger.
„Shawn, ich kann dir nicht versprechen, dass ich nicht davon träumen werde. Das passiert vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich habe in den vergangenen achtzehn Monaten nur zweimal davon geträumt, wie du dem Kerl in Juans Garage das Genick gebrochen hast. Du weißt, wie mein Körper unmittelbar darauf reagiert hat. Ich hatte mich vor der Garage übergeben. Diese Tat war vollkommen überzogen und nur deiner Wut und Impulsivität geschuldet. Trotzdem sehe ich in meinen Träumen immer nur Sergejew, wie er dich tot prügelt. Deine Kämpfe und deine Brutalität hier auf dem Schiff waren reine Selbstverteidigung. Es ging um dein Leben.“
„Damals war ich das Opfer. Jetzt war es anders. Ich war die wilde Bestie. Ich habe jeden einzelnen Schlag und jeden einzelnen Tritt mit größter Freude ausgeführt. Ich habe keine Skrupel empfunden, Knochen zu brechen, nicht einmal bei dem Chinesen.“
Mühsam schluckte ich gegen den Kloß in meinem Hals an.
„Das mag sein, aber du hast ihn danach nicht unnötig leiden lassen. Und bei Sergejew hast du auch nicht weitergemacht.“
„Das war nur dir und deinem verstörten und erbarmungswürdigen Anblick zu verdanken, als du dich an den Maschendraht geklammert und mich angefleht hast, ihm nicht die Beine zu brechen.“
„Letztendlich ist es egal, was dich aufgehalten hat. Mir hat es geholfen. Ich habe gesehen, dass du doch nicht so abgebrüht bist und dass es dir nicht gleichgültig ist, was ich über dich denke. Du hast in diesem Moment Menschlichkeit gezeigt, während die sensationslustigen Zuschauer sich in Monster verwandelt haben und nach noch mehr Grausamkeit geschrien haben.“
Er riss sich aus meinem visuellen Griff und sah wieder auf die in immer größerer Dunkelheit versinkende Skyline. Ich konnte spüren, dass ihn meine Argumentation nicht annähernd zufriedenstellte. Himmel! Schwere Zeiten standen uns bevor.
Aber ich würde alles in meiner Macht stehende tun, um sie gemeinsam mit ihm zu meistern. Ich würde nicht damit aufhören, ihm zu sagen und zu zeigen, dass ich ihn liebte. Es war ohnehin etwas, was einen großen Bestandteil unseres Alltags ausmachte, zumindest in den wenigen Stunden, die wir hatten, wenn er nicht arbeitete. Dann würden sie eben noch intensiver werden. Ich würde es schon irgendwie schaffen, ihn davon zu überzeugen, dass ich ihn niemals verlassen oder zum Teufel jagen würde.
„Ich war wie in einem Blutrausch gewesen. Dieser Drogencocktail, meine Wut und mein Hass auf Sergejew und Kurosaki, die tobende Menge und dann noch der hirnrissige Wunsch, dich dazu zu bringen, mich zu verabscheuen ...“, analysierte er sein Verhalten im Käfig. Er war auf dem richtigen Weg. Vielleicht kam er endlich zur Vernunft und hörte damit auf, sich vollkommen unnötig zu quälen. Ein paar therapeutische Gespräche mit Eveline waren dennoch dringend notwendig. Ich hatte sie bereits per E-Mail über die Geschehnisse aufgeklärt, und zwar recht detailliert. Während Shawn gestern bei Dr. Kumari sämtliche Abschlussuntersuchungen über sich hatte ergehen lassen müssen, hatte ich die Zeit genutzt. Irgendwie hatte ich danach Erleichterung verspürt. Eveline war zu einer guten Freundin geworden. Dennoch sah ich in ihr die Psychologin und hatte damit eine gewisse Distanz, die wichtig war, um solche sehr intimen und belastenden Dinge preiszugeben. Ich war gespannt, wie sie auf unsere neuerliche Odyssee reagieren würde. Das würde ich aber erst zu Hause erfahren. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich mich bei ihr melden würde, wenn wir zu Hause angekommen wären.
Stimmen ließen Shawn seine grüblerische Position aufgeben. Er drehte sich zu der Quelle herum.
„Dieses Arschgesicht hat mir gerade noch gefehlt“, zischte er.
Ich drehte mich um und erkannte im beleuchtenden Bereich vor dem Eingang, etwas von uns entfernt, den Moderator, wie er sich mit einem Mann des Schiffspersonals unterhielt. Er lachte und schlug dem anderen kameradschaftlich auf die Schulter. Dann setzte er seinen Weg in unsere Richtung fort. Da ich mit meiner Körperseite Shawn berührte, blieb mir seine Anspannung, die von ihm vom Scheitel bis zur Fußsohle Besitz ergriff, nicht verborgen.
„Beruhige dich! Das ist das letzte Mal, dass wir ihn ertragen müssen“, sagte ich mit einer Souveränität und Festigkeit in der Stimme, die mich selbst überraschten. Auch ich reagierte auf seinen Anblick. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Momente, in denen ich vor dem Gefäß mit den bunten Kugeln stand und er mich mit seinem professionellen Lächeln aufforderte, eine Kugel zu ziehen. Dieser Cocktail aus Angst, Aufregung, Verzweiflung, der mich kaum eine Bewegung hatte ausführen lassen, wurde in einer kleinen Dosis in mir freigesetzt, sobald ich Mr. Gordon zu Gesicht bekam. Mit diesem Namen hatte er sich uns vorgestellt, als er uns um unsere Reisepässe gebeten hatte. Beide hatte Kurosaki behalten. Maiko hatte sie mir jedoch bei ihrem Abschied zurückgegeben.
„Einen wunderschönen guten Abend wünsche ich Ihnen“, begrüßte er uns überschwänglich und gut gelaunt. Seine gebleichten Zähne blitzten im Dämmerlicht auf, als er uns zulächelte. Der Kerl hatte wirklich Nerven hier bei uns aufzukreuzen, als wären wir VIP-Gäste. Erst recht, nachdem Shawn ihm die Reisepässe fast ins Gesicht geworfen und jegliches Smalltalk-Gespräch an unserer Kabinentür mit der Aufforderung im Keime erstickt hatte, dass er sich verpissen solle. Ich erwiderte höflich seinen Abendgruß, während Shawn ihn anschnauzte.
„Was wollen Sie?“
Gordon zog sich einen Liegestuhl heran, platzierte ihn genau vor uns und ließ sich darauf nieder, sodass er uns die Aussicht versperrte. Shawn knurrte, woraufhin ich meine Hand wieder beschwichtigend auf seinen Arm legte. Gordon trug eine Jeans, ein hellgelbes Polo-Shirt und darüber ein Jackett. In der Hand hielt er einen großen Umschlag.
„Nun ist es fast so weit. Nur noch wenige Stunden und Sie verlassen das Schiff. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie es nach den ganzen Aufregungen hier kaum erwarten können, zu ihren Lieben heimzukehren.“
„Aufregungen
ist die Untertreibung des Jahrhunderts, Mr Gordon“, wies ich ihn sofort zurecht, bevor Shawn ausfallend, wenn nicht sogar handgreiflich werden würde. Dass er kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren, spürte ich daran, dass sich seine Armmuskeln unter meine Hand noch mehr anspannten.
„Ja, da haben Sie recht, Ms Sommer. Entschuldigen Sie!“, lenkte er verständnisvoll und mit einem bekümmerten Blick ein.
„Dass Mr Kurosaki Sie als Druckmittel benutzt und Mr Rutherford zu den Kämpfen gezwungen hat, ist wirklich ungeheuerlich und hat uns alle schockiert.“
„Aber niemand hat etwas dagegen unternommen. Dabei war die erste Videoaufnahme von uns bereits sehr aufschlussreich.“
Er räusperte sich verlegen.
„Sie wissen doch selbst, wer Mr Kurosaki und all die Herren sind, die die Kämpfer großzügigerweise für dieses außerordentliche Event zur Verfügung gestellt haben. Mit solchen Leuten legt man sich nicht an, nicht einmal der Veranstalter, der anonym bleiben möchte, wagt dies, obwohl er sehr einflussreich ist und über erstaunliche finanzielle Mittel verfügt. Aber ihr Schicksal hat ihn nicht kaltgelassen, Ms Sommer“, er war dazu übergangen das Gespräch mit mir zu führen, indem er weitestgehend Shawns Blick auswich, in dem nichts als Wut und Verachtung lag.
„Sie werden gleich sehen, wie sehr er von Ihrer tragischen Geschichte berührt ist. Doch zunächst hätten wir ein paar Formalitäten zu erledigen.“
Er öffnete den Umschlag und holte zwei Blätter hervor, die er mir beide reichte. „Das ist eine Verschwiegenheitserklärung, die Sie bitte beide unterzeichnen. Eine solche musste jeder Passagier unterschreiben. Ansonsten hätte er nicht die Gladiatora verlassen dürfen.“
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zauberte einen Kugelschreiber hervor, den er mir entgegenhielt. Ich nahm ihn ohne zu zögern und setzte, das Papier auf meine Schenkel legend und ohne den kurzen Text zu lesen, die Unterschrift darunter. Dann tauschte ich die beiden Blätter aus, legte das untere obendrauf und reichte alles Shawn, der den ganzen Mist zögerlich entgegennahm.
„Was würde denn genau passieren, wenn ich mich weigerte, zu unterschreiben? Würde ich erschossen oder auf hoher See von Bord geworfen werden?“, fragte er angriffslustig.
„Darauf würde es wahrscheinlich hinauslaufen, wenn Sie nicht umzustimmen sind.“
Shawn lachte ein freudloses Lachen.
„Dann ist Ihr Boss, der ja anonym bleiben möchte, nicht besser als Kurosaki und die anderen Mafiabosse.“
„Aber er hat immerhin ein Gewissen, sonst hätte er ihre Prämie nicht von einer Million auf zwei Millionen Dollar erhöht.“
„Ich will sein verfluchtes Geld nicht.“
Entsetzt sah ich ihn an.
„Wie bitte? Du willst das Geld nicht?“
„Da klebt Blut dran.“
„Ja, auch deines. Wir brauchen das Geld. Genau genommen hast du für dieses Geld gearbeitet, mehr noch. Du hast mehrfach dein Leben aufs Spiel gesetzt. Mit ihm hätten wir eine Sorge weniger. Im Moment können wir jegliche Entlastung gebrauchen. Wir haben genügend andere Probleme, die wir bewältigen müssen. Das weißt du ganz genau.“ Ich bohrte meine Augen bedeutungsschwanger in seine, woraufhin er auf seine Hände starrte, die die beiden Blätter und den Stift verkrampft hielten. „Wenn wir uns auch noch mit Rechnungen herumplagen müssen, die wir nicht bezahlen können, dann könnten unnötige Spannungen unser Familienleben belasten. Shawn bitte!“
Sein Kiefer malte zum x-ten Mal die Luft zwischen den Zähnen, als er plötzlich die Hand zu Gordon ausstreckte.
„Smartphone!“
Gordon und ich sahen uns mit einem Fragezeichen auf der Stirn an.
„Ich verstehe nicht“, sagte Gordon.
„Ich gehe mal davon aus, dass Sie in Ihrem schicken Jackett keine Taschenlampe stecken haben. Glauben Sie tatsächlich, dass ich etwas unterschreibe, ohne es zuvor gelesen zu haben? Ich bin nicht so leichtsinnig und risikofreudig, wie manch anderer hier auf dem Schiff.“
Der Seitenhieb saß. Er warf mir einen grimmigen Blick zu. Gordon griff in eine der beiden Taschen und holte ein Smartphone hervor. Er entsperrte es, aktivierte die Taschenlampenfunktion und reichte es Shawn. Da der Text nicht mal eine Viertelseite lang war, hatte er ihn schnell gelesen. Er warf Gordon sein Handy zu, das dieser beinahe fallen ließ, und unterschrieb mit der linken Hand, da er mit dem geschienten Finger den Stift nicht halten konnte. Anschließend übergab er mir alles und ich wiederum Gordon.
„Gut! Das wäre dann erledigt.“
Gordon griff wieder in den Umschlag und holte unsere Pässe heraus.
„In Ihren Pässen sind, wie Sie sehen, die Flugtickets. Wir haben Ihnen den bequemsten Flug herausgesucht. Ein Taxi holt sie morgen um neun Uhr ab und fährt Sie zum Flughafen. Da wir sie schon online eingecheckt haben, wird Ihr Aufenthalt im Flughafen nicht lange sein. Sie fliegen mit Emirates in der Businessclass. Außerdem haben Sie einen Direktflug nach Glasgow, sodass es von dort nicht mehr weit zu ihrem Wohnort ist.“
Er machte eine theatralische Pause, weil er wahrscheinlich Applaus oder zumindest anerkennende Worte von uns für diese umsichtige und luxuriöse Zuvorkommenheit erwartete.
Mit einem einfachen „Danke!“ belohnte ich seine Bemühungen oder wessen Bemühungen auch immer, während Shawn keinen Laut von sich gab.
„Nun ja ... gut. Dann wären wir auch schon bei der letzten, aber nicht unbedeutendsten Angelegenheit angelangt.“
Er holte aus dem großen braunen Umschlag einen kleinen weißen.
„Hier drinnen sind die Zugangsdaten für ein Offshore-Konto auf den Cayman-Inseln. Es genügt, wenn sie die Kontonummer und das Passwort nennen. Alles läuft ganz anonym. Sie können ganz bequem online auf das Geld zugreifen.“
Er reichte mir den Umschlag, den ich mit leicht zitternder Hand entgegennahm. Shawn hatte recht. An diesem Geld klebte Blut. Sieben Männer mussten ihr Leben dafür lassen. Aber Shawn hatte es verdient, ganz gleich, auf welche Weise. Mit diesem Geld konnten wir ein neues Leben beginnen, auch auf einem anderen Kontinent, wenn es ihm helfen würde, seine Ängste und sein Trauma zu überwinden. Gott, jetzt sah ich in seinem törichten Verhalten schon ein Trauma!
Seine größte Sorge war, dass ich eines von den ganzen Erlebnissen davontragen würde. Bisher merkte ich noch nichts. Aber das konnte auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Ich sah zu Shawn, der ein verbissenes Gesicht machte und seine Arme vor der Brust verschränkt hatte.
„Danke“, presste ich erneut hervor und rang mir ein dünnes Lächeln ab.
„Nichts zu danken! Das Geld haben Sie beide sich verdient.“
„Was passiert eigentlich mit den sechzehn Millionen Dollar, die Kurosaki gewonnen hat?“, wollte Shawn wissen.
„Das steht noch nicht fest. Die anderen Teilnehmer verlangen ihre Einlage zurück. Um sich Ärger mit den betreffenden Herren zu ersparen, wird der Veranstalter auf ihre Forderung wohl eingehen. Im Moment herrscht noch etwas Chaos und Verunsicherung bei den Japanern. Aber es wird nicht lange dauern, bis es einen Nachfolger von Mr Kurosaki gibt. Er hat auch bei den Wetten durch Ihren Sieg, Mr Rutherford eine große Summe gewonnen. Ob die an seinen Nachfolger oder an seine Familie geht, entscheidet die Yakuza.“
Ein Schweigen baute sich auf, in dem Shawn und ich Blicke austauschten.
„Nun denn. Wie dem auch sei! Jedenfalls würde ich gerne noch eine Sache loswerden, bevor ich Sie allein lasse, damit Sie die letzten Stunden auf der Gladiatora genießen können.“
Er räusperte sich und ließ sein Lächeln hinter einer ernsten Miene verschwinden.
„Ich bin schon zum dritten Mal bei dieser nicht alltäglichen Urlaubsattraktion dabei. Alle zwei Jahre findet ein Todesturnier auf der Gladiatora statt. Die erste Sensation dieses Jahr war, dass der Sieger von vor zwei Jahren erneut angetreten ist. Aber erst Sie beiden haben aus dieser Veranstaltung für mich etwas Unvergessliches gemacht. Genauso geht es den Passagieren. Nicht wenige sind Stammgäste. Das Schiffspersonal war immer wieder Zeuge von Gesprächen, in denen die weiblichen Gäste erzählten, wie sehr sie ihr Schicksal berührt hat. Es sind wegen Ihnen, Ms Sommer, einige Tränen vergossen worden. Viele wollen benachrichtigt werden, wie Ihre Geschichte ausgegangen ist ...“
Ein Ruck ging mit einem Mal durch Shawn und er beugte sich in bedrohlicher Haltung nach vorne.
„Was wollen Sie mit diesem Geschwafel eigentlich erreichen, Gordon? Wollen Sie uns davon überzeugen, dass Sie und ihre erlesenen Passagiere doch ein Herz haben? Sie können sich Ihre Anteilnahme in den Arsch stecken. Für mich sind Sie alle Monster, sensationsgeile Monster. Jeden einzelnen von euch sollte man hinter Schloss und Riegel bringen. Nein! Ich habe eine bessere Idee. Man sollte euch in den Todeskäfig stecken. Ich habe einigen Dreck am Stecken. Viele Männer sind schon durch meine Hand gestorben, in Todeskämpfen, zu denen ich genau wie hier gezwungen wurde, aber auch außerhalb der acht Wände des Käfigs. Bei einigen habe ich so etwas wie Freude empfunden, wenn ich Sie getötet habe, weil sie es verdient hatten oder weil ich aus Rache gehandelt habe. Ich habe es aber nie zu meiner oder der Unterhaltung von anderen getan. Dass so etwas hier zur Zerstreuung veranstaltet wird, ist pervers. Ebenso wie diese verfickte Frauenlotterie und die Tatsache, dass man dabei zusehen kann, wie wir Kämpfer mit den Frauen ficken. Und dass dann noch wahrscheinlich jeder Einzelne auf dem Schiff Zeuge Mias und meiner Beziehungskrise und unserer Qualen war, ist vielleicht die größte Schweinerei überhaupt.“
Er hielt inne und holte tief Luft, die ihm bei seiner Ansage wohl knapp geworden war. Von Satz zu Satz war er immer lauter geworden. Die Worte gingen so klar und abgehackt über seine Lippen, als wären es Peitschenhiebe. Etwa in der Mitte seines Monologs hatte ich begonnen, im Rhythmus seiner artikulierten Worte mit dem Oberkörper etwas zu wippen. Seine Vene auf der Stirn trat wieder bedrohlich hervor. Ich kämpfte dagegen an, ihn mit einer Berührung meiner Hand etwas zu besänftigen. Eine innere Stimme sagte mir, dass er diesen Gefühlsausbruch jetzt brauchte. Möglicherweise fühlte er sich danach besser, hatte eine klarere Sicht für die Dinge und würde endlich damit aufhören, sich selbst zu geißeln.
Ich sah zu Gordon, der sich die Hände in sein Jackett gesteckt hatte und eine versteinerte Miene machte. Reue suchte man in seinen Zügen vergebens. Vielleicht verbarg er diese Gefühlsregung auch. Ich wusste es nicht.
„So! Und jetzt verpissen Sie sich“, bellte Shawn ihn unverhofft an, sodass der Moderator zusammenzuckte. Er erhob sich augenblicklich, strich sein Jackett glatt und salutierte mit unseren Verschwiegenheitserklärungen und verließ uns mit den Worten: „Leben Sie wohl!“
Shawn sah ihm mit grimmiger Miene hinterher. Erst als er im Schiffsinneren verschwunden war, ließ er sich wieder zurücksinken und atmete tief durch.
„Alles okay?“, fragte ich ihn leise, mich an ihn schmiegend und meine Hand auf seine Brust legend. Sein Herz hämmerte wie wild dagegen. Als sein Blick auf meinen traf, lächelte er. „Ja, Schneewittchen. Ich muss nur in deine Augen sehen, dann ist alles gut.“