Kapitel 4
San Francisco für eine Weile zu verlassen, war die beste Entscheidung aller Zeiten gewesen.
Er hatte vier Tage gebraucht, aber das Buch war endlich fertig. Und wie immer konnte er es kaum erwarten, es auf die Reise zu schicken. Er hatte es geschafft, Valerie am Vortag eine Nachricht zu schicken – als er Empfang gehabt hatte –, sodass sie wusste, dass es unterwegs war. Jetzt musste er es nur noch abschicken.
Aber es gab kein WLAN.
Nichts.
Nada.
Nullkommanichts.
Jim raufte sich die Haare.
Das Buch war aufgrund der verflixten Schreibblockade sowieso schon überfällig. Als er sich am Sonntagmorgen zum Schreiben hingesetzt hatte, war da, wie so oft in den letzten Monaten, ein kurzer Anflug von Angst gewesen, als die leere Seite
ihn angestarrt hatte. Er hatte seine Notizen. Er wusste, was passieren sollte. Es ging nur darum, es irgendwie in Zusammenhang zu bringen. Was sich ihm entzog, waren die Dialoge. Ihm wollte einfach nichts einfallen. Aber dann hatte er ein paar Fetzen Geplänkel im Kopf gehört und sich beeilt, sie niederzuschreiben.
Der Damm brach, die sprichwörtlichen Schleusen öffneten sich, und ein Schwall von Worten strömte hindurch.
Gott sei Dank.
Aber was spielte das für eine Rolle, wenn er das verfluchte Buch nicht einreichen konnte?
Er hatte es damit versucht, die Verbindung zum Internet zu trennen und wiederherzustellen. Nichts. Verzweifelt schnappte er sich den Ordner und suchte nach Daves Nummer. Aber er landete nur auf der Voicemail.
Dave war nicht erreichbar.
Jim wusste, dass er sich erst entspannen konnte, wenn er das Buch auf den Weg geschickt hatte.
Und wenn der Berg nicht zum Propheten kommt...
Das ließ ihm nur eine Möglichkeit: Er musste den Berg selbst finden.
Die Besitzer werden wissen, was zu tun ist, oder? Verdammt, vielleicht haben sie sogar Internet.
Derart mit den Nerven am Ende, war Jim bereit, für ein wenig Seelenfrieden so ziemlich alles zu tun.
Er verstaute seinen Laptop in der Tasche, zog seinen dicken Mantel an, wickelte sich den Schal um den Hals, zwängte seine Füße in die Stiefel – Mann, er hatte seit seiner Ankunft vor sechs
Tagen nichts anderes als Wintersocken getragen – und ging zur Tür.
Auf dem Weg durchs Gelände lag nur wenig Schnee, und Jim nahm an, dass jemand ihn irgendwann geräumt hatte. Er ging zügig durch den Wald und folgte den Wegweisern zum Ausgang, die hier und da aufgestellt waren. Er schätzte, dass es ungefähr zehn Minuten bis zum Eingang des Geländes waren. Als er dort ankam, spähte er den Weg entlang, aber es war keine Spur von einem Haus zu sehen. Da es aber der einzig erkennbare Weg war, musste es der richtige sein.
Jim ging die schmale, auf beiden Seiten von Bäumen gesäumte Straße hinauf. Das Sonnenlicht fiel hier und da hindurch, und wo es auf den Boden traf, war der Schnee geschmolzen. Nach ein paar Minuten erblickte er schließlich ein Dach und ging darauf zu.
Als er die kleine Lichtung betrat, verschlug es Jim die Sprache. Das Haus war eine wunderschöne Mischung aus Holz und Glas, wobei ein Großteil der Vorderseite aus Fenstern bestand. Im Inneren erblickte er eine hohe Decke und etwas, das ein Zwischengeschoss zu sein schien. Um das Haus herum und auf der Einfahrt war der Schnee geräumt worden. Das Anwesen schien mit der Umgebung zu verschmelzen, eingebettet in die Bäume.
Es war die Art Haus, in dem er glücklich leben könnte, vermutete Jim.
Da er keine Eingangstür sehen konnte, schlenderte er zur Seite und entdeckte eine Veranda. Durch die Glastür erspähte er eine vertraute Gestalt und ging in die Hocke.
„Na, hallo, Buster.“
Der freundliche kleine Hund kam zum Fenster und stemmte schwanzwedelnd die Vorderpfoten dagegen.
„Ist dein Daddy zu Hause? Nun, zumindest einer deiner Daddys?“ Jim lächelte.
Sollte Buster antworten, würde mich der Schlag treffen.
Einfach an der Tür zu klingeln, wäre wohl ein guter Weg, das herauszufinden. Aber als niemand erschien, nahm er an, dass er aufgeschmissen war –, bis er leise klassische Musik hörte. Sie kam aus dem näher gelegenen der beiden Nebengebäude, die sich ein Stück vom Haus entfernt befanden. Beide hatten in etwa die gleiche Größe, ungefähr die einer Doppelgarage, beide hatten Giebel und an der Vorderseite befanden sich Fenster, die bis zu den Dachbalken reichten. Zwischen dem Haus und den beiden Gebäuden waren Wege freigeräumt worden.
Offenbar ist jemand zu Hause.
Jim war noch nicht bereit aufzugeben.
Es fühlte sich falsch an, durch das Fenster zu spähen, also ging er zu dem Gebäude hinüber und klopfte an die Seitentür. „Hallo?“
„Wer ist da?“
Jim dachte nicht, dass das Michaels Stimme war. „Jim Traynor. Ich wohne in einer Ihrer Hütten und ich habe ein Problem.“
„Haben Sie versucht, Dave zu erreichen?“
Die Person, die da sprach, klang nicht verärgert, aber Jim hatte das Gefühl, dass er störte.
Das war eine schlechte Idee.
Er würde ins Auto steigen, in die nächste Stadt fahren und einen
Starbucks
oder einen Ort mit WLAN finden.
„Hören Sie, ist schon in Ordnung. Ich werde das selbst regeln. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.“ Er ging weg, aber Sekunden später hörte er, wie die Tür geöffnet wurde.
„Warten Sie.“
Jim drehte sich um. Das war Julian Ingram, und seinem Aussehen nach zu urteilen, war er Maler. Über seiner Kleidung trug er einen weißen Laborkittel, der mit verschiedenen Farben beschmiert war, und in einer Hand hielt er einen Lappen.
„Sie haben mich nicht gestört“, sagte Julian. „Ich habe niemanden erwartet. Ich nehme an, Dave ist nicht zu erreichen?“
„Stimmt. Sie sind meine letzte Hoffnung“, sagte er mit einem Lächeln.
Julian biss sich auf die Lippe. „Nun, es liegt mir fern, diese Hoffnung zu zerstören. Was ist das Problem?“
Jim erklärte die Situation, ohne ins Detail zu gehen, warum er so dringend WLAN brauchte.
Julian nickte. „Ja, der Router kann etwas launisch sein. Ich komme mit Ihnen und bringe das in Ordnung. Außerdem zeige ich Ihnen, was zu tun ist, wenn es wieder passiert.“
„Oh nein, bitte. Sie sind doch bei der Arbeit.“
Julians Lächeln schien aufrichtig zu sein. „Es ist sowieso an der Zeit, dass ich eine Pause einlege. Außerdem könnte Buster einen Spaziergang vertragen. Er ist schon den ganzen Tag im Haus eingesperrt. Ich hinterlasse nur kurz eine Nachricht für Michael, falls er gucken kommt. Nicht, dass das wahrscheinlich ist.“ Er neigte den Kopf in Richtung des weiter entfernten Nebengebäudes. „Er ist schon seit dem Morgengrauen zugange.“
Julian ging wieder hinein und kam eine Minute später mit einem Post-it zurück, das er an die Tür klebte. Er starrte es einen Moment lang an, dann ging er noch einmal hinein und kam mit einem Stück Klebeband zurück, mit dem er das Post-it sicherte. Julian grinste ihn an. „Die sind bekanntermaßen schlecht darin, an irgendetwas haften zu bleiben. Jetzt lassen Sie mich meine Jacke holen. Buster wird begeistert sein.“ Er grinste. „Sie kennen ihn schon, nicht wahr? Michael sagte, dass Buster dem Geruch Ihres Frühstückspecks nicht widerstehen konnte.“ Er bedeutete Jim mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. „Kommen Sie mit und warten Sie im Warmen.“
Jim folgte ihm ins Haus, und die Veränderung der Temperatur war herrlich. Er wartete an der Tür, als ein sehr begeisterter Buster Julian begrüßte und sich ihm für Streicheleinheiten entgegenreckte. Jim war vielleicht kein großer Fan von Menschen, aber Tiere waren etwas anderes, und er vertraute ihrem Urteilsvermögen.
„Es dauert nicht lange“, sagte Julian. „Ich muss nur kurz auf die Toilette.“ Er ließ Jim an der Tür zurück, Buster trottete hinter ihm her.
Offenbar musste Buster auch auf die Toilette.
Jim warf einen Blick auf seine Umgebung. Die Fenster und die hohe Decke verliehen dem Raum eine helle, luftige Atmosphäre, und die dicken Teppiche auf dem Hartholzboden verstärkten diesen Eindruck noch. Er sah zum Zwischengeschoss mit dem Holzgeländer hinauf und überlegte, ob sich dort die Schlafzimmer befanden.
Darunter waren drei Sofas U-förmig um einen Holzofen herum platziert, und Jim war überrascht, dass kein Fernsehbildschirm zu sehen war. Ein quadratischer chinesischer Teppich bedeckte
den Boden zwischen den Sofas, und in den Ecken standen kleine Holztische. Die Wände waren mit Gemälden bedeckt, und er fragte sich, ob es sich dabei um Julians Werke handelte. Jim konnte nicht widerstehen, sich die große Leinwand, die den größten Teil der Kaminbrüstung über dem Kaminofen bedeckte, genauer anzusehen, und ging hinüber.
Es war ein Bild von Michael, der auf einem großen Felsen auf einer Lichtung mitten im Wald saß, und er war nackt. Seiner Haarfarbe und den silbrigen Haaren auf seiner Brust nach zu urteilen, war es ein recht neues Gemälde. Was Jim am meisten beeindruckte, war das Gefühl des Friedens, das das ganze Bild erfüllte. Das Licht war unglaublich und verlieh seiner Haut einen warmen Schimmer.
„Das habe ich letztes Jahr gemalt.“
Jim zuckte zusammen. Julian trat zu ihm, gekleidet in eine dicke Jacke und einen Schal. Er stellte sich neben Jim und blickte zu dem Bild hinauf.
„Sie sind sehr begabt.“ Er deutete auf die Wände. „Sind die alle von Ihnen?“
Julian nickte. „Einige stammen aus der Zeit vor fast dreißig Jahren, als ich mit dem Malen angefangen habe.“ Er lächelte. „Ich habe seitdem eine Menge gelernt.“ Julian neigte den Kopf in Richtung Tür. „Bringen wir Ihr WLAN wieder zum Laufen.“
Jim folgte ihm aus dem Haus und den Weg entlang, Buster trottete an seiner Leine vor ihnen her, schnüffelte am Gras oder untersuchte Baumstämme. Als er anfing zu ziehen, lachte Julian. „Also gut.“ Er bückte sich, löste die Leine, und Buster sauste auf der Stelle los, rannte ihnen voraus, bevor er
zurückkam, Julian umkreiste und das Ganze dann immer wieder neu begann.
Jim lächelte. „Er erinnert mich an ein Poster, das ich mal gesehen habe. Darauf war ein fröhlicher Welpe und der Slogan
Lebe das Leben, als hätte jemand das Tor offen gelassen
abgebildet.“
Julian gluckste. „Was Buster angeht, ist er immer noch ein Welpe, auch wenn er zwölf ist.“ Er warf Jim einen Blick zu. „Michael hat mir erzählt, dass Sie Schriftsteller sind.“
„Ja.“ Jim machte sich auf die Fragen gefasst.
Julian sagte nichts, sondern bückte sich und hob einen klobigen Stock auf. „Hey, Buster. Schau mal, was ich gefunden hab.“
Buster blieb mitten auf dem Weg stehen, warf einen Blick auf Julian und stürmte schwanzwedelnd auf ihn zu. Julian warf den Stock und Buster jagte ihm hinterher.
„Er bewegt sich immer noch wie ein Welpe“, kommentierte Jim.
„Und solange wir ihm weiterhin Nahrungsergänzungsmittel für seine Hüften und Gelenke geben, wird das auch so bleiben.“ Julian wartete, während Buster zu ihm zurücklief, den Stock stolz im Maul tragend. „Guter Junge.“
Jim hätte schwören können, dass Busters Schwanz vor lauter Wedeln gleich abfallen würde.
Julian warf den Stock erneut, und sie gingen weiter. „Ist mit der Hütte alles in Ordnung? Abgesehen vom WLAN natürlich.“
„Alles bestens“, versicherte Jim ihm. „Ruhe und Frieden sind genau das, was ich gebraucht habe.“
„Wir lieben es hier.“ Julians Stimme war leise. „Wir vermissen den Lärm, den Schmutz, die vielen Menschen und den vielen Verkehr der großen Städte kein bisschen. Das Leben hier ist einfach perfekt.“
„Inspiriert Sie das alles?“ Jim deutete auf die Bäume um sie herum.
Julian nickte. „Es ist schwer, sich nicht inspirieren zu lassen, wenn man von so viel Schönheit umgeben ist.“ Er lächelte. „Wer weiß, wozu es Sie inspirieren wird?“
Jim hoffte auf genau das. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, jetzt, wo er die Reihe endlich beendet hatte. Es war ein bisschen beängstigend, wenn er ehrlich war.
„Wenn Sie sehen wollen, was die Gegend sonst noch zu bieten hat, zeigen wir Ihnen gerne alles.“ Julian grinste. „Wir müssen uns hin und wieder auch mal einen Tag freinehmen.“
Es war ein nettes Angebot, aber Jim dachte nicht, dass er es in nächster Zeit annehmen würde. „Ich möchte mich nicht aufdrängen.“
Julian winkte ab. „Das wäre nicht der Fall, das versichere ich Ihnen.“ Er warf Jim erneut einen Blick zu. „Vielleicht ist ein wenig Inspiration genau das, was Sie brauchen.“
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich Jim von jemandem wirklich gesehen und wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Sie verfielen in ein angenehmes Schweigen, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem Rauschen der Bäume in der leichten Brise. Jim nutzte die Gelegenheit, seinen Gastgeber genauer anzusehen. Julian war kleiner als Michael, hatte kurzes graues Haar und einen gepflegten Bart und Schnurrbart.
Michaels Augen waren blau, Julians waren braun. Die Art und Weise, wie er seine Jacke ausfüllte, zeugte davon, dass er viel Zeit mit Gewichtheben verbrachte, und insgesamt vermittelte er einen Eindruck von Solidität und ruhiger Selbstsicherheit.
Jim musste zugeben, dass beide Männer gut aussahen.
Sie erreichten Jims Hütte, und anstatt die Holztreppe zu erklimmen, die zur Tür führte, ging Julian darunter zu einer anderen Tür, offensichtlich einer Art Keller. Er führte Jim hinein, und Buster folgte ihnen und schnüffelte an dem mit Brettern bedeckten Boden. Es gab nicht viel zu sehen, nur ein paar Trittleitern, Reinigungsmittel und ein paar Stühle.
„Der Raum ist nicht abgeschlossen.“ Julian zeigte auf ein Regal, in dem der Router stand. „Also, wenn das noch mal passiert, ziehen Sie dieses Kabel ab... dann das hier... dann stecken Sie sie wieder ein und drücken diesen Knopf hier oben auf dem Router. Warten Sie eine Minute und versuchen Sie es dann mit dem WLAN.“ Er seufzte. „Es kann ein wenig launisch sein. Man muss nur wissen, wie man es behandeln muss.“
Jim holte sein Handy heraus und warf einen Blick darauf. „Hey“, sagte er mit einem Lächeln.
Julian gluckste. „Ich schätze, es hat geklappt.“ Er ging Jim voran aus dem Raum und schloss die Tür. „Jetzt wissen Sie, was Sie beim nächsten Mal tun müssen. Und es
wird
ein nächstes Mal geben.“
„Danke“, sagte Jim aufrichtig. „Es tut mir leid, dass ich Sie von Ihrer Malerei weggeholt habe.“
Erneut winkte Julian ab. „Kein Thema. Wie ich schon sagte, war es ohnehin Zeit für eine Pause. Außerdem hatte Buster so die Gelegenheit, Stöcke zu jagen.“
Bei dem Wort Stöcke spitzte Buster die Ohren.
Julian lachte. „Okay, dann gehen wir mal noch ein paar mehr suchen.“ Er wandte sich an Jim. „Ich weiß, dass Michael Sie bereits auf einen Drink eingeladen hat, aber ich wiederhole die Einladung noch mal. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten. Jetzt kennen Sie ja den Weg.“ Seine Augen funkelten.
Bevor Jim höflich ablehnen konnte, schnippte Julian mit den Fingern. „Komm schon, Buster. Überlassen wir Jim seiner Arbeit.“ Sie entfernten sich von der Hütte, Buster lief fröhlich kläffend voraus.
Jim schaute ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren, und eilte dann ins Haus, um den Laptop aufzuklappen und das Manuskript abzuschicken. Die Verbindung wurde hergestellt, er hängte die Datei an und schon war sein kostbares letztes Buch im Äther verschwunden.
Jim war das Verlustgefühl gewohnt, das mit jeder Abgabe einherging. Es war immer so ein Tiefpunkt, und einen Moment lang wusste er nicht, was er als Nächstes tun sollte. Er wusste, dass ein Lektorat folgen würde, denn Valerie verschwendete nie Zeit, seine Manuskripte weiterzureichen, zumal der Verleger auf dieses bereits wartete.
Wäre es denn so schlimm, heute Abend einen Schluck mit ihnen zu trinken?
Es war ja nicht so, als hätte er etwas Besseres zu tun. Und wenn es bedeutete, dass er nicht über sein nächstes, bisher nicht existentes Projekt nachdenken musste, war es umso besser. Jim konnte es sich leisten, seine Routine zu unterbrechen, und die
beiden schienen freundlich und amüsant zu sein. Außerdem wollte er wissen, was Michael in diesem Nebengebäude tat.
Das gab den Ausschlag. Jim würde an diesem Abend einen Cocktail trinken gehen.
Michael konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er Julian dabei erwischte, wie er zum fünften Mal an diesem Abend auf die Uhr sah. „Er wird nicht kommen“, sagte er sanft.
Julian wandte sich ihm zu, um etwas zu erwidern, aber seine Augen funkelten, als er zum Fenster blickte. „Wer kommt dann gerade auf unsere Tür zu?“
Michael erstarrte. „Im Ernst?“ Es war fast eine Woche her, dass Jim angekommen war, und Michael hatte die Hoffnung aufgegeben, dass er bei ihnen auftauchen würde. Er eilte zur Tür. Jim stand davor, dick eingepackt zum Schutz vor der kalten Nachtluft.
Michael öffnete. „Rein mit dir, es ist eiskalt da draußen.“ Er wartete, während Jim seine Jacke, seinen Schal und die Handschuhe auszog und sie an einen Haken hängte und dann seine Handschuhe auf den Tisch legte. „Du kannst deine Stiefel auf der Matte stehen lassen. Dann komm rein und wärm dich
auf.“ Er ließ Jim, der seine Stiefel auszog, stehen und ging in den Wohnbereich.
Julian stand selbstgefällig grinsend vor dem Barschrank.
Siehst du?
, formte er mit den Lippen.
Jim betrat den Raum, und Julian begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln. „Hey, du bist ja doch gekommen. Setz dich an den Kamin und ich hole dir einen Drink.“ Er lachte leise, als Buster von seinem Hundebett aufstand und zu Jim hinüber trottete. „Dein Cocktail wird mit Buster serviert, denn er wird dir auf den Schoß springen. Schieb ihn einfach runter, wenn das nicht in Ordnung ist.“
Jim setzte sich auf das Sofa, und Buster sprang ihm auf den Schoß. „Ist schon okay.“ Er streichelte Busters Kopf, und Buster machte es sich bequem.
Michael lachte. „Du
hast
vor, die ganze Nacht dort sitzen zu bleiben, richtig? Also, was trinkst du? Julian ist ein großartiger Barkeeper, und wir haben ein umfangreiches Alkoholsortiment.“
Julian schnaubte. „
Jetzt
weißt du, warum er mich geheiratet hat, nur wegen meiner Fähigkeiten als Barkeeper.“
„Kann ich eine Margarita bekommen?“
Michael strahlte. „Großartige Wahl. Wird nur von seinem Mai Tai übertroffen, der phänomenal ist.“ Julian machte sich an die Arbeit, und Michael nahm Jim gegenüber Platz. „Also, war alles in Ordnung, nachdem das WLAN wieder funktioniert hat?“
Jim nickte. „Ich musste ein Manuskript einreichen. Alles erledigt.“
Michael konnte seine Neugierde keinen Moment länger zügeln. „Ich will ja nicht neugierig sein, aber... Was schreibst du eigentlich?“
„Bücher“, antwortete Jim prompt todernst.
Julian gluckste. „Der war gut. Wird das jetzt ein Fragespiel, oder ist es ein Geheimnis, was du schreibst?“
Jim schien einen Moment lang zu überlegen. „Ich schreibe Kriminalromane.“
Michael stockte der Atem, und Julian lachte. „Oh, jetzt hast du es geschafft. Du hast ausgerechnet sein Lieblingsgenre genannt.“
„Schreibst du schon lange?“, fragte Michael.
Jim zuckte mit den Schultern. „Ungefähr zehn Jahre.“
„Schreibst du über einen bestimmten Detektiv?“ Michael wollte wissen, ob Jims Bücher in seinem Regal standen. Als er Julian von Jims Beruf erzählt hatte, hatte Julian ihn gegoogelt und nichts gefunden. Michael hatte geschnaubt und Julian dann gefragt, ob er jemals von dem Konzept eines Pseudonyms gehört hatte.
„Zwei Detektive, um genau zu sein. Sie sind ein Ehepaar und heißen Gary und Mick Buchanan.“
Oh mein Gott.
Michael bekam Gänsehaut.
„Du bist... Du bist Dayton O’Connell.“
Jim blinzelte. „Öhm, ja.“
Michael zeigte auf sein Bücherregal. „Ich habe alle deine Bücher.“
Julian lachte. „Das, Jim, ist der Moment, in dem du die Flucht ergreifen solltest, bevor er sich wie Kathy Bates aufführt und dir sagt, dass er dein größter Fan ist.“ Seine Augen weiteten sich. „Oh mein Gott. Verschneite Landschaft. Ein abgelegener Ort.“ Seine Augen blitzten. „Sieh nicht hin, Jim, aber du bist auf dem Set von
Misery
gelandet.“ Er blickte Michael mit einem bösen Funkeln in den Augen an. „Wenn er einen Hammer und einen Holzklotz anschleppt, würde ich loslaufen. Solange du noch kannst.“
Zu Michaels Freude brach Jim in Gelächter aus. „Ich denke, wir sind sicher. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in
Misery
einen Hund gab. Und Buster wird mich retten, nicht wahr, Buster?“
Beim Klang seines Namens hob Buster den Kopf und ließ ihn dann wieder sinken.
Julian gackerte. „Nur wenn es Leckerlis gibt.“ Buster spitzte daraufhin die Ohren, und Julian stöhnte. „Verdammt. Ich habe das L-Wort gesagt.“ Er schnappte sich ein großes Glas von einem Regal, öffnete es und nahm einen knochenförmigen Keks heraus. Buster verputzte ihn in Sekundenschnelle.
Michael hatte ungefähr tausend Fragen, aber er dachte sich, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, wenn er wollte, dass Jim an einem anderen Abend wiederkam. „Würdest du morgen Abend wieder auf einen Drink kommen? Ich würde zu gerne mit dir über deine Bücher sprechen. Ich liebe sie. Ich bin schon seit dem ersten ein Fan.“
Jim errötete. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin das nicht gewohnt. Ich bin ein wenig... überwältigt.“
Michael konnte das verstehen. Er wusste aus seinen Recherchen, dass Dayton O’Connell nicht öffentlich in Erscheinung trat und auch in den sozialen Medien nicht präsent war. Und nachdem er Jim kennengelernt hatte, konnte er nachvollziehen, warum.
Vielleicht ist er kein geselliger Mensch.
Aber er schrieb unglaubliche Bücher.
„Du bist herzlich eingeladen, solange du hier bist, jeden Abend mit uns etwas zu trinken“, sagte Julian. „Glaub mir, so lange wird es dauern, bis Michael all seine Fragen losgeworden ist und aufhört, dich anzuhimmeln.“
Michael warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. „Ich himmle ihn
nicht
an.“
Julian verdrehte die Augen. „Oh,
bitte
. Ich erwarte jeden Moment einen Hundeblick. Ich wette, es juckt dich in den Fingern, Jim dazu zu bringen, jedes Exemplar in deinem Besitz zu signieren, habe ich recht?“ Er grinste. „Und dann kommen die Selfies dran.“
Michael drehte sich zu Jim um. „Hör nicht hin. Ich habe keine derartigen Absichten. Und Julian muss ganz still sein. Er hat schon mehr als genug Schwärmereien hinter sich, glaub mir.“
Jim sah von Michael zu Julian und wieder zurück zu Michael, dann brach er erneut in Gelächter aus. „Ihr zwei müsst schon eine Weile zusammen sein.“
Michael gluckste. „Merkt man, hm?“
Sie verbrachten die nächste halbe Stunde damit, Jims erstes Buch zu diskutieren, und Michael sah erfreut, dass Jim sich ein wenig entspannte. Als er seine zweite Margarita ausgetrunken hatte, seufzte Jim. „Es wird Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Ich muss morgen früh aufstehen.“
„Ein neues Buch für Gary und Mick?“, fragte Michael, der seine Neugier nicht unterdrücken konnte.
Jim biss sich auf die Lippe. „Weißt du, Julian war mit seinen
Misery
-Scherzen näher dran, als er ahnen konnte. Wie wäre es, wenn ich dir morgen Abend sage, warum?“
Michael lächelte. „Dann kommst du wieder?“
Jim nickte. „Ja. Ich habe den Abend wirklich genossen. Gute Gesellschaft, großartige Cocktails und ein Heizkissen für meinen Schoß.“ Er kraulte Buster hinter den Ohren, bevor er ihn sanft neben sich auf das Sofa schob. Jim nickte Julian zu. „Nochmals vielen Dank für die Einladung.“
„Gern geschehen.“ Julian erhob sich, und sie begleiteten Jim zur Tür. Er wünschte ihnen eine gute Nacht und trat hinaus in die Nachtluft.
Michael beobachtete ihn durch das Fenster.
Tja, das hatte ich nicht erwartet.
Er war begeistert, dass Jim vorbeigekommen war, und das Versprechen, dass noch weitere Gespräche folgen würden, löste in ihm eine gewisse Vorfreude aus.
Julian gesellte sich zu ihm. „Er ist nicht schwul.“
Michael blinzelte. „Er schreibt über zwei schwule Detektive. Ist dir das entgangen?“
„Das tut er wahrscheinlich, weil es gerade im Trend liegt, über LGBT-Protagonisten zu schreiben.“
Michael sah ihn an. „Protagonisten, über die er schon seit zehn Jahren schreibt. Das scheint mir nicht gerade ein Trend zu sein.“
„Nun, erzähl mir von seinen Büchern. Wie sind sie? Sind sie sexy? Muss ich sie lesen?“ Ihr Büchergeschmack war einer der wenigen Bereiche, in denen sie nicht übereinstimmten.
Michael gluckste. „Es gibt keinen Sex. Gary und Mick sind ein liebevolles Paar, aber jedes Mal, wenn es eine Andeutung auf mehr gibt, wird einfach ausgeblendet.“
Julian erwiderte seinen Blick. „Siehst du? Er ist nicht schwul. Wenn er schwul wäre, würde er sie ficken lassen wie die Karnickel.“
Michael verbiss sich ein Lächeln. „Darauf hab ich nur ein Wort zu sagen – Marco.“
Julian funkelte ihn an. „Ach, komm schon.“
„Nichts komm schon. Er war eine Woche lang hier. Ich habe dir immer wieder gesagt, dass ich dachte, er sei schwul, aber du?
Nee, der ist nicht schwul
...“ Michael grinste. „Wie oft haben wir in der letzten Nacht seines Aufenthalts gefickt? Also verzeih mir, wenn ich deinen Äußerungen keine Beachtung schenke. Dein Schwulenradar funktioniert nicht.“
Julian warf ihm einen Seitenblick zu. „Aber was hältst du von Jim?“
Das war einfach. „Ich mag ihn.“ Ihm gefiel das ganze Paket – braunes Haar, kurz genug, um oben ein wenig stachelig zu sein; Vollbart und Schnurrbart; warme braune Augen und dieses Lächeln... Es hatte eine Weile gedauert, Jim dazu zu bringen, dieses Lächeln zu zeigen, aber das war es auf jeden Fall wert.
In Julians Augen lag ein vertrautes Glitzern. „Ich auch.“
Michael kannte diesen Ausdruck. Julians Interesse war definitiv geweckt. Und er war nicht allein. Julians Schwulenradar mochte fehlerhaft sein, aber Michael vertraute seinem eigenen.