Kapitel 5
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Der Freitagmorgen brachte einen Haufen Zweifel mit sich. Das war an sich nichts Neues. Jim war an diesen Ansturm gewöhnt, der immer auf die Abgabe eines Buches folgte. Neu war allerdings das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.
Hätte ich die Serie wirklich abschließen sollen? Oder sollte ich ein weiteres Buch schreiben?
Letzteres würde bedeuten, das Ende zu ändern, und das wäre keine leichte Aufgabe. So wie es jetzt war, hatte er keinen Raum dafür gelassen, um in der Zukunft auf die Reihe zurückkommen zu können, und vielleicht war das ein Fehler. Jim befand sich auf Neuland, und das ängstigte ihn zu Tode. Die Aussicht, seine Zehen – oder sollte man besser sagen Finger? – in eine völlig neue Welt einzutauchen, verunsicherte ihn und machte ihn nervös.
Mehr als das – er fühlte sich verloren.
Er setzte sich auf den Balkon, seine erste Tasse Kaffee des Tages in der Hand, und starrte auf die wunderschöne Landschaft, die ihn umgab. Das Ende zu ändern, war keine Option, das wusste er. Aber vielleicht war es möglich, einen Teil davon so umzuschreiben, dass eine Fortsetzung möglich war.
Nein. Nein. Du wolltest es so, schon vergessen? Außerdem hatte er genug von Gary und Mick und ihrer perfekten Beziehung. Kein Paar konnte so perfekt sein, oder? Aber Jim wusste, warum er sie so geschrieben hatte. Er hatte ein Paar erschaffen, dessen Beziehung ganz anders war als diejenigen, die er um sich herum sah. Im Grunde hatte er sie so geschrieben, wie er eine Beziehung haben wollte. Und Männer waren einfach nicht so.
Was ist mit Julian und Michael?
Jim erinnerte sich an ihr Geplänkel vom Vorabend, an die Zuneigung, die sie einander ganz offensichtlich entgegenbrachten. Er mochte die Art, wie sie zusammen waren, die Liebe, die sie teilten. Erst jetzt wurde ihm etwas klar. Julian und Michael kamen seinem idealen, fiktiven Paar näher als alle anderen Menschen, die er bisher getroffen hatte. Sie könnten Gary und Mick sein .
Das weißt du nicht. Du kennst sie nicht, nicht wirklich.
Aber er wollte es. Die Vorstellung, allein in seiner Hütte zu sitzen und auf Inspiration zu warten, hatte plötzlich ihren Reiz verloren. Er wollte Gesellschaft – ihre Gesellschaft.
Kurzerhand schlüpfte er in seine Stiefel, zog die Jacke an, warf sich den Schal über und verließ die Hütte. Die frische Morgenluft war belebend, als er durch den Wald schlenderte. Außer dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen der Bäume im Wind drang kaum ein Geräusch zu ihm durch. Er hätte meilenweit das einzige Lebewesen sein können.
Abgesehen von dem kleinen Hund, der auf ihn zu rannte.
„Buster!“ Jim lächelte und ging in die Hocke, um seinen neuen Freund zu begrüßen. Buster hatte seine Pfoten im Handumdrehen auf Jims Knien und leckte ihm eifrig das Gesicht. Jim lachte. „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“
„Buster Bear Ingram.“ Michael kam in Sicht, die Leine in der Hand. Buster ließ Jim im Stich, lief zu Michael und umkreiste ihn.
„Guten Morgen.“ Jim richtete sich auf. „Diesmal kein Speck, daher nehme ich an, er wollte nur Hallo sagen.“ In diesem Moment knurrte sein Magen, und er fluchte lautlos.
Michael reagierte jedoch nicht. „Ich glaube, du hast einen neuen Freund gefunden.“
Buster war wieder bei Jim, und er beugte sich hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. „Er ist jederzeit willkommen.“
„Ich hoffe, wir stören dich nicht.“
Jim schüttelte den Kopf. „Ich stecke lediglich in einer Zwickmühle.“
„Klingt schmerzhaft.“ Michael legte den Kopf schief. „Hast du schon gefrühstückt?“
Jim biss sich auf die Lippe. „Ich denke mal, dass das Donnergrollen in meinem Magen dir diese Frage beantwortet.“
„Nun, dann begleite doch mich und Buster. Julian macht gerade Frühstück, und es wird genug für uns alle sein, glaub mir.“ Michael sah ihm in die Augen. „Bitte, sag nicht Nein. Wir würden uns freuen, wenn du mit uns isst.“
Jim zögerte nicht. „Liebend gerne. Wenn du sicher bist, dass es keine Umstände macht.“ Es war ja nicht so, als gäbe es etwas, woran er arbeiten müsste, oder? Und er war wirklich gern mit dem Paar zusammen.
Michael strahlte. „Es macht überhaupt keine Umstände.“ Er schaute Buster an. „Hast du gehört, Buster? Dein neuer Freund kommt mit uns nach Hause.“
Buster war zu sehr damit beschäftigt, den Boden zu beschnüffeln.
Jim lachte. „Was auch immer er riecht, es ist viel interessanter als ich.“
Sie folgten dem Weg zu der schmalen Straße, wobei Buster den Stöcken hinterher sauste, die Michael für ihn warf. Als sie das Haus erreichten, seufzte Jim. „Ich liebe euer Haus. Es sieht aus, als wäre es dazu bestimmt, hier zu stehen.“
Michael schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Sehen wir auch so.“ Er führte Jim ums Haus herum zur seitlichen Veranda und stieß die Tür auf. „Julian? Wir haben einen Gast zum Frühstück.“
„Ach?“ Julian tauchte auf und Jim musste lachen, als er die Schürze sah, die er trug. Sie zeigte einen nackten Mann mit einem Sixpack und einem sehr langen Schwanz.
„Du musst den Geschmack meines Mannes entschuldigen“, sagte Michael schnell. „Und was es noch schlimmer macht: Es handelt sich um seinen Entwurf und ein Freund hat sie dann für ihn gemacht.“
„An meinem Geschmack gibt es nichts auszusetzen“, erklärte Julian entrüstet. „Du musst dir nur Michael ansehen, dann ist dir das klar.“ Seine Augen funkelten. Er schenkte Jim ein einladendes Lächeln. „So sieht man sich wieder. Zieh Jacke und Stiefel aus und komm rein. Ich brate noch mehr Speck.“ Dann verschwand er wieder in der Küche.
Jim tat wie ihm geheißen und stellte seine Stiefel auf der Matte neben der Tür ab. Michael führte ihn in die große Küche mit hoher Decke. Die hintere Wand bestand nur aus Fenstern, die auf den Garten hinausgingen. Er konnte die beiden Nebengebäude sehen, und der Anblick weckte seine Neugier.
„Was machst du, Michael? Beruflich, meine ich.“
Bevor Michael antworten konnte, sagte Julian: „Er ist Bildhauer und Holzschnitzer.“
Jim blinzelte. „Ihr seid beide kreative Menschen.“
Michael schaute ihn mit offensichtlichem Interesse an. „Das scheint dich zu überraschen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich hätte gedacht, dass es, wenn zwei Menschen mit künstlerischem Temperament so eng zusammenleben, häufig zu Konflikten kommt, aber ihr wirkt so...“
„Glücklich? Entspannt?“ Michael grinste. „Du dachtest, wir gehen einander an die Gurgel?“
Julian gluckste. „Du hättest uns sehen sollen, als wir Mitte zwanzig waren. Das war eine ganz andere Geschichte. Was du jetzt siehst, ist das Ergebnis von Jahren voller Geduld, Kompromissen und Routine. Ich halte mich aus seinem Bereich raus, er sich aus meinem.“
„Habe ich noch Zeit, Jim meine Werkstatt zu zeigen?“
Julian erstarrte. „Meine Güte. Fühl dich geehrt, Jim. Klar, du hast ungefähr fünfzehn Minuten, bis das Frühstück fertig ist. Wenn ihr euch verspätet, gebe ich Buster euer Frühstück.“
Als er seinen Namen hörte, spitzte Buster die Ohren und stieß ein leises Winseln aus.
„Ich schwöre, dieser Hund versteht jedes Wort, das wir sagen.“ Michael deutete in Richtung der Tür. „Hier lang.“
Jim zog seine Stiefel wieder an, folgte ihm aus dem Haus und den geräumten Weg entlang, vorbei an Julians Atelier, zu dem identischen Gebäude daneben. Jim brannte vor Neugier. Michael öffnete die Tür und ging hinein.
Jim hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Das Gebäude hatte die Größe einer Doppelgarage und die Wände des Raumes wurden von geschnitzten Bären gesäumt. Der größte war bestimmt eineinhalb Meter hoch, stand auf den Hinterbeinen und hatte die Vorderpfoten erhoben und das Maul aufgerissen. Jim konnte das Brüllen fast hören. Andere Schnitzereien waren kleiner, und die Details waren verblüffend. Aber was ihm besonders auffiel, war der Holzklotz, der in der Mitte des Raumes stand. Er war fast zwei Meter hoch und offensichtlich ein Baumstamm gewesen, aber die Rinde war entfernt worden, wodurch fein gemasertes Holz zum Vorschein kam.
„Was wirst du daraus schnitzen? Noch einen Bären?“ Jim ging zu dem Holzklotz und strich über die Oberfläche. Der Geruch war wunderbar.
„Nicht aus dem hier. Ich denke an einen männlichen Akt. Die Proportionen würden sich perfekt für dieses Stück eignen. Jetzt muss ich nur noch mein Modell finden.“
Jim lachte. „Sowas kann man nicht gerade bei Walmart bestellen.“
Michael lachte ebenfalls. „Genau. Aber ich werde ihn erkennen, wenn ich ihn sehe. Dann muss ich lediglich viele Fotos machen, und anhand derer werde ich dann arbeiten.“ Er strich über das Holz. „Ich habe noch nie einen Akt gemacht, und die Idee reizt mich. Es ist gut, von Zeit zu Zeit an seine Grenzen zu gehen.“
„An seine Grenzen zu gehen, ist auch höllisch beängstigend“, sagte Jim leise.
Michael antwortete nicht, aber Jim spürte, dass er näher kam. „Alles Neue ist beängstigend, aber wir müssen alle wachsen, richtig? Stagnation tötet die Kreativität.“
Jim sah sich um. „Ihr seid beide so ungemein talentiert.“
„Vielen Dank.“ Jims Magen knurrte wieder, und Michael gluckste. „Ich denke, das ist mein Stichwort, dich zu füttern.“
Jim folgte ihm aus der Werkstatt und sie gingen zurück zum Haus.
Sie haben alles. Gutes Aussehen, Talent, dieses wunderschöne Haus... Und was es perfekt machte, war das Glück, das sie offensichtlich miteinander gefunden hatten.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren wollte Jim auch das, was sie hatten.
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Michael schenkte Kaffee nach. „Ich muss es wissen. Wie geht es für Gary und Mick weiter? Ich hoffe, du hast einen wirklich spannenden Mordfall für sie zu lösen.“
Fuck. Jim wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte Michaels Liebe zu seinen Büchern nicht zunichtemachen, indem er ihm die Wahrheit sagte. „Im Moment habe ich nichts geplant.“
„Deshalb ist er hergekommen“, sagte Julian, während er eine Scheibe Toast mit Butter bestrich. „Er ist auf der Suche nach Inspiration.“ Er schaute Jim an. „Ich habe doch recht, oder? Du weißt nicht, was du als Nächstes schreiben sollst, und dem Ganzen zu entfliehen, schien die perfekte Lösung zu sein. Du willst Zeit haben, um den Kopf freizubekommen und ein paar tolle Ideen zu entwickeln.“
Jim nickte. Die Tatsache, dass Julian ihn durchschaut hatte, war keine Überraschung mehr. Julian verstand, wie Kreativität funktionierte. Das taten sie beide.
„Wie gut kennst du diese Gegend?“, erkundigte sich Michael.
„Kaum“, gestand Jim. „Ich habe die Hütte wegen ihrer Abgeschiedenheit gewählt.“
„Nun, wenn du nach Inspiration suchst, darf ich dir einen Vorschlag machen?“ Julian nippte an seinem Kaffee. „Schau dir den Yosemite Nationalpark an. Da gibt es so viel zu entdecken.“
Jim war sich da nicht so sicher. Er fühlte sich in der Hütte wohl, und der Gedanke, tiefer in den Park hineinzufahren, war ein wenig beängstigend.
„Wir leben schon so viele Jahre hier, wir kennen die Gegend gut.“ Michael warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Ich hab eine Idee. Warum zeigen Julian und ich dir nicht die Sehenswürdigkeiten?“
„Ja, das ist eine großartige Idee.“ Julian nickte enthusiastisch.
„Ich möchte euch nicht von der Arbeit abhalten“, protestierte Jim.
Julian schnaubte. „Vertrau mir, wir brauchen beide eine Pause. Du würdest uns einen Gefallen tun. Es wäre gut, einen Tag lang von hier wegzukommen. Und man weiß ja nie. Die Inspiration könnte zuschlagen. Ein Tapetenwechsel könnte genau das sein, was du brauchst. Was wir alle brauchen.“
„Julian hat recht. Können wir das bitte tun?“ Michaels intensiver Blick begegnete seinem.
Jim brachte es nicht übers Herz abzulehnen. „Okay. Wann?“
„Morgen“, sagte Julian prompt. „Wir können früh aufbrechen.“
Jim lachte. „Du verschwendest keine Zeit, was?“ In ihm summte es. Die Vorstellung, einen Tag in ihrer Gesellschaft zu verbringen, war sehr angenehm. Dann warf er einen Blick auf Buster. „Kommt er auch mit?“
„Natürlich. Buster hat auch einen Tag Auszeit verdient.“ Michael griff nach unten und streichelte Buster über den Kopf. „All diese neuen Gerüche, was, Buster?“
„Noch mehr Toast?“, fragte Julian.
Jim tätschelte seinen Bauch. „Ich könnte keinen Bissen mehr essen. Tatsächlich esse ich vielleicht den Rest des Tages nichts mehr.“
„Kommst du heute Abend auf einen Cocktail vorbei?“, erkundigte sich Michael. „Du musst noch Julians Mai Tai probieren.“
„Wenn er so schmeckt wie seine Margaritas, wird er fantastisch sein.“ Jim gefiel die Vorstellung, am Holzofen zu sitzen und Cocktails zu trinken.
„Super. Also um neunzehn Uhr.“ Julian strahlte. „Und dann zeigen wir dir einen Tag lang die Schönheit des Yosemite.“
Michael warf einen Blick in Richtung der Rückseite des Hauses, und Jim wusste sofort, was ihm durch den Kopf ging. „Du musst arbeiten“, sagte er. „Also verschwinde ich mal, nicht dass du noch anfängst, dir die Haare zu raufen.“
„Welche Haare?“ Julian gackerte.
Michael durchbohrte ihn mit einem Blick. „Das warst doch du letzte Woche, oder? Du hast mich gebeten sie abzurasieren, weil du Männer mit Glatze sexy findest?“
„Männer mit Glatze sind sexy“, erwiderte Julian. „Aber du bist sowieso schon sexy.“ Er sah Michael in die Augen, und die Härchen auf Jims Armen stellten sich auf. Er glaubte nicht, dass Michael es jetzt schon in seine Werkstatt schaffen würde. Den Blicken nach zu urteilen, die Julian seinem Mann zuwarf, würde Jim eher darauf wetten, dass sie nackt waren, bevor er das Ende des Weges erreichte.
Was würde ich dafür geben, dass mich jemand so ansieht.
Erst als er das Haus hinter sich ließ, wurde es ihm bewusst. Es war schon lange her, dass er das Objekt von jemandes Begierde hatte sein wollen. Dann kam ihm ein weiterer Gedanke, der ihn völlig durcheinanderbrachte.
Was würde ich dafür geben, dass mich einer von ihnen so ansieht?