Leah hatte sich gerade in die Schlange gestellt, als ihr jemand von hinten auf die Schulter tippte. Noch vor einem Monat hätte man das mit ihr nicht machen können. Nach dem Überfall hatte sie bei jedem kleinen Geräusch oder jeder Berührung fast einen Herzinfarkt bekommen. Es war sogar passiert, dass sie unkontrolliert zitterte oder weinte. Sie hatte sich furchtbar deswegen geschämt, aber die Therapeuten hatten ihr versichert, dass dies ganz normal war. Sie fanden sogar, dass sie erstaunlich tapfer und mutig mit der ganzen Situation umging, denn sie kannten auch Patienten, die sich in so einem Fall gar nicht mehr aus dem Zimmer hinaustrauten und sich vollkommen in sich zurückzogen. Einige auf dieser Station hatte Leah deshalb noch gar nicht kennengelernt, obwohl sie mittlerweile schon zwei Monate hier war. Sie nahmen nicht an Gruppengesprächen teil, weshalb die Psychologen bei ihnen sozusagen „Hausbesuche“ machten.
Leah drehte sich um und entdeckte Thomas direkt hinter ihr.
„Na, auch zur täglichen Medikamenten-Einnahme hier?“, fragte sie.
Thomas nickte. „Ich bekomme zum Glück nur eine leichte Dosis Antidepressiva. Ich möchte auf keinen Fall so werden wie er.“ Thomas zeigte auf einen Mann weiter vorne in der Schlange. Er saß in einem Rollstuhl und starrte in die Ferne. Egal wer vorbeiging, sein Blick folgte demjenigen nicht, er ging einfach so durch ihn hindurch. „Er ist so abgeschossen, er bekommt gar nichts mehr mit.“
„Aber er spürt auch keine Schmerzen mehr. Vielleicht hat er etwas sehr Schlimmes durchlebt, ist körperlich und geistig verletzt und die Medikamente schützen ihn davor, es spüren zu müssen.“
Thomas wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. „Es schützt ihn vielleicht, aber so lebt er nicht mehr. Ja, er existiert und er atmet, aber Gefühle machen einen Menschen doch erst aus. Niemand möchte Schmerz fühlen. Glaube mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünschte, einfach vergessen zu können, was mir passiert ist. Aber all der Schmerz gehört doch dazu, umso mehr wissen wir dann die Freude und das Glück zu schätzen. Natürlich ist es der bequemere Weg, sich mit Medikamenten abzuschießen, bis man vollkommen abgestumpft ist, aber das ist der falsche Weg. So heilen wir unsere Seele nicht, sondern kleben nur ein riesengroßes Pflaster auf den Riss, der mitten hindurchgeht. Und irgendwann wird dieses Pflaster nicht mehr halten und dann wird unsere Seele zersplittern und nicht mehr zu reparieren sein. Deshalb ertrage ich den Schmerz lieber und kämpfe mit aller Kraft, die ich noch habe, dagegen an und versuche mein Innerstes heilen zu lassen. Es wird für immer eine große Narbe geben, die uns an das erinnert, was wir erlebt oder verloren haben, aber mit der Narbe können wir irgendwann weiterleben, mit einer in Millionen Teile zersplitterten Seele nicht.“
Leah schloss die Augen und schluckte schwer. Thomas hatte so recht, aber sie war sich nicht sicher, ob sie selbst genauso stark wie er wäre. Hätte sie Maik oder ihr Baby tatsächlich verloren, wüsste sie nicht, ob sie die Kraft dazu hätte, sich dem schwarzen Abgrund in ihr zu stellen.
„Ich glaube, so viel Mut wie du hätte ich nicht.“
Thomas sah ihr tief in die Augen. „Doch, den hast du. Du musst nur an dich glauben. Es gibt so vieles, wofür es sich zu leben lohnt.“
„Ich bin mir da nicht so sicher und hoffe, dass ich es nie herausfinden muss. Wenn ich bedenke, wie lange ich an dem Überfall zu knabbern hatte, und dabei ist alles letzten Endes gut ausgegangen. Und ich habe Maik, mit dem ich das zusammen durchstehen kann. Niemanden zu haben, der das Ganze mit einem teilt, ist noch furchtbarer. Ich bewundere dich deshalb für deine Stärke.“
Thomas’ Blick verdunkelte sich. „Ich bin selbst schuld daran, dass ich es allein durchstehen muss. Und ich habe den Schmerz, den ich jetzt durchleide, mehr als verdient. Würde ich tauschen können, würde ich das mit Freuden tun“, sagte er mit brechender Stimme.
Leah war schockiert … würde sie jetzt erfahren, was mit Thomas geschehen war? Was sollte sie auf so etwas antworten? Sie wollte auf keinen Fall etwas Falsches sagen.
„Der Nächste!“, rief plötzlich die Krankenschwester hinter der Glasscheibe. Leah drehte sich nach vorn und sah, dass sie tatsächlich dran war. Sie war so in das Gespräch mit Thomas vertieft gewesen, dass sie alles um sich herum ausgeblendet hatte und unwillkürlich Schritt für Schritt in der Schlange aufgerückt war.
„Entschuldige, Thomas, wir reden gleich weiter.“ Leah ärgerte sich über diese Störung. Wenn sie Pech hatte, war der Moment der Offenheit gleich wieder vorbei und Thomas würde sich wieder wie eine Auster verschließen.
Es war keine Sensationslust, weshalb sie wissen wollte, was mit Thomas geschehen war. Okay, vielleicht doch ein kleines bisschen. Aber der Hauptgrund war, dass er ihr so unglaublich leidtat, und sie hoffte, dass sie ihm besser helfen konnte, wenn sie wusste, was er hatte durchmachen müssen.
„Meine Schwangerschaftsvitamine, bitte“, sagte sie nun an die Krankenschwester gewandt, die ihr gar nicht bekannt vorkam. „Ach, und wissen Sie, ob ich die Dosis jetzt im fortgeschrittenen Stadium noch erhöhen muss?“
Die Krankenschwester warf ihr einen fragenden Blick zu und suchte nach Leahs Akte. Offensichtlich war sie neu und kannte sich deshalb mit der Medikation der einzelnen Patienten nicht aus.
Sie warf ihr noch einmal einen Blick zu und sagte dann: „Einen Moment, bitte, ich muss kurz mit einer Kollegin darüber sprechen.“
Leah seufzte leise. Musste das wirklich genau jetzt passieren, wo Thomas kurz davor gewesen war, sich mir zu öffnen? Als die Schwester im Hinterzimmer verschwunden war, spielte sie kurz mit dem Gedanken, sich umzudrehen und das Gespräch fortzuführen, aber nochmals innerhalb kürzester Zeit unterbrochen zu werden, wäre bestimmt noch schlimmer, als ein paar Minuten zu warten. Sie hatte den Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, da erschien die Schwester auch schon wieder und setzte sich hinter die Plexiglasscheibe. „Entschuldigen Sie, ich habe erst gestern hier angefangen und war mir bezüglich Ihrer Medikamente unsicher, deshalb dachte ich, ich frage lieber schnell nach.“ Mit diesen Worten schob sie Leah einen Becher mit mehreren Pillen und ein Glas Wasser durch die Aussparung im Glas zu.
Pflichtbewusst nahm Leah ihre Vitamine und trat dann beiseite, damit Thomas sein Medikament in Empfang nehmen konnte.
Als er den leeren Becher an die Schwester übergeben hatte, wandte sich Leah ihm sofort zu. „Hast du Lust, noch ein bisschen spazieren zu gehen?“
Thomas zögerte kurz, nickte dann aber. Sie überlegte, sich bei ihm unterzuhaken, um ihm ein Gefühl der Nähe zu vermitteln, aber vielleicht war das genau das Falsche und er würde sich zurückziehen. Also ging sie einfach dicht neben ihm her.
Als sie die Tür fast erreicht hatten, kam eine Mitarbeiterin auf sie zu. „Gut, dass ich Sie erwische. Am Montag um 14 Uhr kommt die Polizei noch einmal hierher und möchte Sie sehen. Nur damit Sie Bescheid wissen, Dr. Reynolds hat Ihre Sitzung deshalb extra auf den frühen Abend um 17.30 Uhr verschoben.“
„Okay, danke“, entgegnete Leah und ging mit Thomas weiter.
Hoffnung kam in ihr auf. Vielleicht hatte die Polizei gute Neuigkeiten für sie. Vielleicht hatten sie endlich eine Spur. Wobei sie wahrscheinlich nicht so hohe Erwartungen haben sollte, denn umso enttäuschter wäre sie, wenn die Polizisten nichts Neues zu berichten hätten.
Draußen war es wunderschön. An das Therapiezentrum schloss sich ein kleiner Garten an, der durch hohe Mauern eingegrenzt war. Vermutlich waren diese zum Schutz der Privatsphäre gebaut worden, da aufgrund der Preisklasse bestimmt auch einige prominentere Leute hier zu Gast waren, die in einer schwierigen Situation nicht auch noch mit Paparazzi und deren Auswirkungen kämpfen wollten. Sie warf einen unauffälligen Blick auf die Uhr im Gang. Maik würde noch mindestens eine Stunde in der Reha-Gruppe sein. Sie hätte also genug Zeit, in Ruhe mit Thomas zu reden.
Sie drückten die Glastüren auf und traten hinaus in die Sommerhitze. Anschließend spazierten sie den Kiesweg entlang und setzten sich auf eine Bank, die von der Sonne beschienen wurde.
Leah schloss die Augen und genoss die hellen Strahlen, die ihr Gesicht erwärmten. Sie war froh, endlich dem immer gleich temperierten Gebäude entkommen zu sein, denn sie liebte den Sommer. Sie lauschte nach ihrem Baby, aber es strampelte nicht, sondern schien sich in der Sonne zu entspannen.
Sie sah zu Thomas hinüber. „Was du gerade gesagt hast … dass du selbst schuld warst, was meintest du damit? Ich würde es gern hören, aber wenn es zu schwer ist, darüber zu reden, kann ich das natürlich auch verstehen. Du sollst dich nicht gezwungen fühlen, es mir zu erzählen.“
Sie sah, dass Thomas mit sich kämpfte. Er schluckte mehrmals hastig und verkrampfte die Hände so sehr ineinander, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er wich ihrem Blick aus und starrte so angestrengt auf den Boden zwischen seinen Füßen, als gäbe es dort etwas unglaublich Spannendes zu sehen.
Leah legte die Hand daraufhin sanft auf seine, schwieg aber. Sie würde ihm die Zeit geben, die er brauchte, doch er tat ihr so unfassbar leid, und sie wünschte sich, sie könnte ihm helfen.
Sie wollte gerade etwas sagen und ein anderes Thema anschneiden, als Thomas stockend erzählte: „Ich hatte ein halbes Jahr zuvor erst meine eigene Firma eröffnet, einen Haus-Reparatur-Service, und wir hatten unsere gesamten Ersparnisse darin investiert. Da ich noch neu im Geschäft war, und mir einen Namen machen musste, nahm ich jeden Job an, den ich kriegen konnte, und ich meine wirklich jeden. Ich arbeitete an den Wochenenden, um fünf Uhr morgens oder auch mitten in der Nacht, wenn eine Toilette oder ein Wasserhahn plötzlich kaputt ging. Ich bot einen Rund-um-die-Uhr-Service an, um Kunden zu gewinnen. Es war ein Knochenjob und die willkürlichen Arbeitszeiten machten mich fertig. Schon längst bereute ich es, meine Stelle gekündigt zu haben, um diesen Wahnsinn umsetzen zu können. Ich wusste, dass es irgendwann besser werden würde, wenn ich einen festen Kundenstamm und vernünftige Arbeitszeiten hätte und wir wieder ein bisschen Geld verdient und zurückgelegt hätten. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich einfach nur hundemüde, gereizt und fühlte die ständig an mir nagende Furcht, dass ich die Zukunft unserer Familie aufs Spiel gesetzt hatte. Wenn ich versagte, würde ich meine Frau und meine zwei Kinder nicht mehr ernähren können, und das lastete wie ein zentnerschwerer Sandsack auf mir. Ich wollte meinen beiden kleinen Mädchen alles ermöglichen und wollte nicht, dass wir eines Tages von Hartz 4 leben und jeden Cent zwei Mal umdrehen mussten, nur weil ich eine falsche Entscheidung getroffen hatte.
An diesem Tag hatte ich bereits um zwei Uhr nachts einen Auftrag gehabt und einen weiteren um fünf Uhr morgens. Normalerweise legte ich mich tagsüber kurz hin, aber dieser Tag war wie verhext gewesen. Sobald ich auch nur versucht hatte, mich auf die Couch zu setzen, hatte das Telefon geklingelt. Um achtzehn Uhr schien endlich ein bisschen Ruhe einzukehren und ich wollte nichts mehr, als mich ins Bett zu legen, denn ich wusste, die nächsten Tage würden nicht besser werden. Da kam meine wütende Frau um die Ecke, denn an diesem Tag hatte unsere Kleinste, Leonie, ihren allerersten Ballettauftritt. Ich hatte es komplett vergessen. Die letzten Wochen waren so stressig gewesen, dass ich dafür einfach keinen Kopf mehr gehabt hatte. Und obwohl ich den Auftritt meiner Kleinen natürlich gern gesehen hätte, konnte ich mir an diesem Tag alles vorstellen, aber nicht, mich fein anzuziehen, mich ins Auto zu setzen und stundenlang eine Ballettaufführung anzuschauen. Ich schlief ja schon jetzt auf der Couch ein, mir fielen andauernd die Augen zu, wie sollte ich da so eine lange Veranstaltung durchhalten? Meine Nerven waren aufgrund des Schlafmangels zum Zerreißen gespannt und gefühlt nicht dicker als ein Haar. Und so brüllten Kathrin und ich uns kurze Zeit später auch schon an. Wir sagten unschöne Sachen zueinander, wie das eben so ist. Ich glaube, wenn ich nicht so furchtbar erschöpft gewesen wäre, wäre das Ganze nicht so eskaliert.
Sie warf mir vor, dass mir die Arbeit wichtiger als die Familie geworden sei, ich warf ihr vor, dass ich diesen Scheißjob überhaupt nur wegen ihr machen würde … und so ging es weiter. Ein Gutes hatte die ganze Sache jedoch, durch das ganze Rumgebrülle war ich plötzlich nicht mehr müde. Wir hielten erst inne, als wir Geräusche an der Wohnzimmertür hörten. Es war Leonie, die bereits ihr Ballettkostüm trug und der dicke Tränen die Wangen hinunterliefen.
Sofort packte mich das schlechte Gewissen. Was war ich nur für ein Vater? Ich hatte mir geschworen, dass ich niemals so werden würde wie meine Eltern, die sich ständig offen vor uns gestritten haben. Das hatte ich meinen Kindern nie zumuten wollen, vor allem nicht, wenn es dabei um sie selbst ging. Leonie war noch zu klein, um zu verstehen, dass es nichts mit ihr zu tun hatte und es nicht darum ging, dass ich nicht zu ihrem Auftritt gehen wollte. Doch genau das war geschehen, sie blickte mich mit ihren verweinten Augen an und sagte schluchzend: ‚Du musst nicht zu meinem Auftritt kommen, wenn du nicht willst, Papa.‘
Meine Frau warf mir einen Da-siehst-du-was-du-angerichtet-hast-Blick zu, doch ich ignorierte sie und ging hastig zu meiner Tochter hinüber. Ich ließ mich vor ihr in die Hocke sinken und schlang die Arme um sie. ‚Papa war nur gerade ganz furchtbar müde. Natürlich möchte ich deinen Auftritt sehen. Kannst du denn deine Pirouetten noch?‘
Meine Tochter lächelte durch ihre Tränen hindurch und drehte sich vor mir im Kreis. Ich klatschte begeistert und gab ihr einen dicken Kuss.
Als ich mich fertiggemacht hatte, standen alle drei schon an der Tür. Hannah war gerade mitten in der Pubertät und strafte uns meistens mit Nichtachtung. So auch heute. Sie kam zwar mit zum Auftritt ihrer Schwester, hatte aber Kopfhörer auf den Ohren und ein Gesicht aufgesetzt, als müsse sie zu einer Wurzelbehandlung zum Zahnarzt. Es kam mir irgendwie wie gestern vor, als sie so klein wie Leonie gewesen war und stundenlang mit mir hatte kuscheln wollen. Jetzt war es ihr schon peinlich, wenn ich sie auf der Straße grüßte.
Wir gingen zum Auto und fuhren los. Meine Frau strafte mich mit Schweigen und ich sah nicht ein, mich zu entschuldigen, denn ich fühlte mich im Recht. Natürlich hätte ich sie nicht so anbrüllen dürfen, aber ich arbeitete ja nicht zum Spaß so hart, sondern damit es uns finanziell gut ging und wir solche Sachen, wie die teuren Ballettstunden, bezahlen konnten.
Es war schon dunkel und im Wagen war es vollkommen still. Hannah hörte immer noch Musik, Leonie schaute sich ebenfalls mit Kopfhörern auf dem Tablet eine Kinderserie an und Kathrin starrte so gebannt aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, als gäbe es dort ein seltenes Naturschauspiel zu sehen. Mittlerweile war mein Adrenalin komplett verpufft und die Müdigkeit übermannte mich mit unfassbarer Heftigkeit. Ich hatte das Gefühl, dass kleine Gewichte an meinen Augenlidern hingen und es kostete mich immense Kraft, die Augen offen zu halten. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus und bohrte mir sogar die Fingernägel in die Handflächen, doch all das half nur für wenige Sekunden. Ich überlegte, das Radio auf einen lauten Rock-Sender einzustellen, doch das kam mir bei dem Streit mit Kathrin irgendwie falsch vor, so als ob ich bewusst auf gute Laune machen wollte. Die Aufführung war noch dazu zwei Städte weiter, sodass wir bestimmt eine dreiviertel Stunde lang unterwegs sein würden. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist ein gleißend helles Licht. So unfassbar hell, dass ich die Augen schließen musste … und kurz darauf ein ohrenbetäubender Knall. Das Licht verschwand und ich wurde in die Dunkelheit gerissen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich an Monitoren und Schläuchen angeschlossen im Krankenhaus.
Später erfuhr ich, dass ich wohl hinterm Steuer eingeschlafen sein musste und unser Wagen dadurch auf die Gegenfahrbahn geraten war. Das grelle Licht waren die Scheinwerfer eines LKWs gewesen und der Knall war entstanden, als der Lastwagen uns auf der Beifahrerseite erwischt hatte. Anschließend waren wir noch von einem weiteren Auto gerammt worden, das nicht mehr rechtzeitig hatte bremsen können.
Der Aufprall schleuderte mich gegen das Lenkrad und ich wurde ohnmächtig. Deshalb hatte ich nicht mitansehen müssen, was die immense Kraft des LKWs mit der anderen Seite des Wagens angerichtet hatte. Unser Auto hatte sich wie eine Blechdose eingedellt. Meine Frau war durch die schiere Wucht durch die Windschutzscheibe geschleudert worden. Sie hätte vielleicht mit schweren Schnittwunden überleben können, aber der LKW versuchte immer noch zu bremsen und der Fahrer hatte selbst die Kontrolle über seinen Wagen verloren, er hat sie einfach …“ Thomas’ Stimme kippte zuerst und brach dann ganz. Tränen strömten über sein Gesicht und er beugte sich vornüber, um es in den Händen zu vergraben. Seine Schultern bebten, als er laut schluchzte. Leah hatte ebenfalls Tränen in den Augen und ihr Magen hatte sich verkrampft. Sie strich ihm beruhigend über den Rücken und fragte sich, was sie jetzt machen sollte.
Sie fühlte sich so unfassbar hilflos in diesem Moment. Nur zu hören, was er durchgemacht hatte, ließ ihr Herz schmerzen. Sie wollte ihm so sehr helfen. Ihm diese furchtbare Last irgendwie erleichtern.
Aber Leah war keine Therapeutin … wenn sie jetzt das Falsche sagte, machte sie vielleicht alles noch viel schlimmer. Sie sah sich unauffällig um, ob irgendwo jemand vom Personal herumstand, aber natürlich war jetzt keiner in Reichweite.
Leah streichelte deshalb weiter Thomas’ Rücken. „Bitte rede nicht weiter. Diese Erinnerung schmerzt dich zu sehr. Vielleicht solltest du lieber mit Dr. Reynolds darüber reden, sie weiß bestimmt besser, wie sie dir helfen kann.“
Doch Thomas schüttelte den Kopf. „Du bist die Erste, der ich das erzähle. Bei Dr. Reynolds fühle ich mich immer wie in der Schule damals. Ich habe Angst, dass sie mich verurteilt und ich etwas Falsches sagen könnte, deshalb sage ich einfach gar nichts. Aber zu dir habe ich irgendwie Vertrauen, ich weiß, dass du mich verstehst. Du fühlst diesen unglaublichen Schmerz auch, du hast auch etwas Schreckliches erlebt“, meinte er leise.
Aber doch nicht im Ansatz so etwas, wie du .
„Es ist komisch. Obwohl es mich innerlich fast zerreißt, an diesen Abend zurückzudenken und alles wieder vor mir zu sehen, so erleichtert es mich auf gewisse Weise auch, endlich mit jemandem darüber sprechen zu können. Verstehst du das?“
Leah nickte und nahm seine Hand, als er sich wieder aufrichtete. Sie hoffte, dass Maik jetzt nicht gleich um die Ecke kam und sie händchenhaltend auf einer Parkbank sah. Er würde garantiert die falschen Schlüsse ziehen, und eine hässliche Szene war das Letzte, was Thomas jetzt brauchte. Anhand des Schmerzes in seinen Augen ahnte sie, dass der Tod seiner Frau nicht das Ende gewesen war.
Thomas wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und räusperte sich mehrmals. Seine Augen blieben geschlossen, als er stockend weitererzählte: „Meine kleine süße Ballerina wurde von den Trümmern des Wagens zerquetscht, da sie genau auf der Aufprallseite gesessen hatte und Hannah … wurde von einem … einem Metallstück durchboh… Die Feuerwehr war unheimlich schnell am Unfallort, wurde mir später erzählt, aber für alle drei kam jede Hilfe zu spät. Kathrin und Leonie starben noch am Unfallort und Hannah auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich selbst war die ganze Zeit ohnmächtig, und habe nichts davon mitbekommen. Ich habe ihnen in den letzten Minuten ihres Lebens nicht zur Seite stehen können. Doch das Schlimmste war, dass ich so gut wie gar nicht verletzt wurde. Mein Bein war gebrochen und zwei Rippen und ich hatte einige Blutergüsse, das war alles. Ich war schuld an diesem Unfall … ich hatte meine gesamte Familie ausgelöscht und bin dennoch der Einzige, der überlebt hat. Warum? Warum bin ich verschont worden? Ich würde alles dafür geben, mit einem der drei tauschen zu können. Meine Kinder haben mir vertraut, dass ich sie sicher zum Ziel bringen würde. Und Kathrin … sie ist gestorben, bevor ich mich mit ihr habe versöhnen können. So ein dummer und nichtiger Streit ist das Letzte gewesen, was wir miteinander erlebt haben. Wie kann ich ein normales Leben führen, wenn ich ihres durch diesen grauenvollen Fehler beendet habe?“, schluchzte er abgehackt.
Leah drückte seine Hand. „Du hast es doch gerade selbst gesagt, es war ein Fehler. Du kannst dir dafür nicht die Schuld geben, es war ein Unfall. Du hast dich nicht betrunken hinters Steuer gesetzt oder ihnen mutwillig Schaden zugefügt. Ganz im Gegenteil, du hast doch nur so hart gearbeitet, um deiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen, und statt dich zu Hause auszuruhen, hast du deiner kleinen Tochter eine Freude machen wollen, obwohl du am Ende deiner Kräfte warst. Ja, vielleicht hättest du nicht übermüdet fahren sollen, das war ein Fehler, aber du hast es doch von Herzen gut gemeint. Du musst dir verzeihen, Thomas, und dein Leben weiterleben, so schwer es dir jetzt vielleicht auch fällt. Es war ein Wahnsinns-Schritt, dass du mir von dieser grauenvollen Sache erzählt hast, dazu gehört unendlich viel Kraft und Mut. Vor allem dazu, seine eigenen Fehler einzugestehen. Du wirst sehen, schon bald kannst du auch mit Dr. Reynolds oder einem anderen Therapeuten darüber sprechen, und die können dir bestimmt Tipps geben, wie du das Ganze besser bewältigen kannst. Als Allererstes musst du dir selbst vergeben, das ist unglaublich wichtig. Vielleicht sprichst du irgendwann sogar vor Menschen und warnst sie davor, übermüdet Auto zu fahren und rettest auf diese Weise ein paar Leben.“
Leah war über sich selbst erstaunt. Als Thomas geendet hatte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte, doch dann waren all diese Worte plötzlich aus ihr herausgeströmt. Sie drehte sich zur Seite, nahm Thomas in den Arm und drückte ihn kurz an sich. Er erwiderte die Umarmung und sah sie mit tränenverschleiertem Blick an. „Ich danke dir dafür, dass ich dir mein Herz ausschütten durfte. Es kommt mir so vor, als sei plötzlich eine riesige Last von mir abgefallen. Und ich danke dir außerdem, dass du mich nicht verurteilst und denkst, ich sei ein Monster. Morgen werde ich zur Therapiestunde gehen und Dr. Reynolds von der Nacht erzählen, und das habe ich nur dir zu verdanken.“
Leah sah ihn mit warmem Blick an. „Ich habe doch gar nichts gemacht, sondern dir nur zugehört. Aber es freut mich unglaublich für dich, dass du jetzt mit anderen darüber reden willst. Das wird dir bestimmt helfen, da bin ich mir sicher.“
„Wirst du denn auch mit Dr. Reynolds reden, damit du wieder ganz gesund wirst?“, fragte Thomas daraufhin.
Dass er sich trotz dem, was er Unvorstellbares durchgemacht hatte, um sie sorgte, zeigte ihr, was für ein gutherziger Mensch er war. Das, was er ihr erzählt hatte, hatte ihr kein Monster, sondern einen Mann gezeigt, der bis über seine Grenzen hinausgewachsen war, um seine Familie gut zu versorgen. Und dass er so sehr unter dem Verlust litt, zeigte ihr, was für ein großes Herz er besaß.
„Das ist wirklich lieb von dir, aber es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, bis wir entlassen werden.“
„Aber wenn dich der Überfall doch noch quälen sollte, dann komm bitte zu mir und rede mit mir. Manchmal wirkt es so, als wenn es einem gut geht, und dann treten plötzlich unliebsame Erinnerungen zutage oder man bekommt Albträume. Ich kenne das nur zu gut von mir selbst“, meinte Thomas ernst.
Sie hatte das Gefühl, dass es ihm half, wenn er jemand anderem helfen konnte, deshalb versprach sie ihm, sofort zu ihm zu kommen, wenn sie jemanden zum Reden brauchte.