Floras Stimmung war für gewöhnlich ausgeglichen, doch am nächsten Tag, um die Mittagszeit, hatten der anhaltende Regen, die erschreckende Art und Weise, auf die das Farmhaus und seine Nebengebäude vor ihren Augen verfielen, sowie das Erscheinungsbild und der Charakter ihrer Verwandten mit vereinten Kräften ein bedrückendes Gefühl in ihr hervorgerufen, das sie als ebenso ungewohnt wie unangenehm empfand.
So geht es nicht weiter, dachte sie, während sie von ihrem Fenster auf die vom Regen durchweichte Landschaft hinausblickte. Sie hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, um ein paar Blumen und Zweige, die sie von ihrem Morgenspaziergang mitgebracht hatte, in eine Vase zu stellen. Wahrscheinlich bin ich hungrig, ging es ihr durch den Kopf, ein Mittagessen wird meine Lebensgeister wieder wecken.
Bei genauerer Überlegung erschien es jedoch als sehr wahrscheinlich, dass ein Mittagessen, von einem der Starkadders gekocht und in aller Einsamkeit zu sich genommen, ihre Stimmung nur noch verschlechtern würde.
Gestern hatte sie die Mahlzeiten erfolgreich bewältigt. Judith hatte ihr um ein Uhr ein Schnitzel und etwas Dickmilch gebracht, und zwar in einen kleinen Salon mit einer verblichenen grünen Tapete, in dem ein Feuer rauchte, gleich neben der Milchkammer. Hier hatte Flora auch den Tee und das Abendbrot verzehrt. Diese beiden Mahlzeiten hatte ihr Mrs Beetle serviert – eine angenehme Überraschung. Offensichtlich kam Mrs Beetle immer dann auf die Farm und erledigte die Arbeit ihrer Tochter, wenn Meriam gerade ein Kind bekam. Floras Ankunft war mit einem solchen Ereignis zusammengefallen, das ja, wie wir wissen, nicht selten stattfand. Mrs Beetle kam außerdem jeden Tag, um die Mahlzeiten für Aunt Ada Doom zuzubereiten.
Flora war es also bislang nicht gelungen, Seth oder Reuben oder irgendeinen anderen männlichen Starkadder kennenzulernen. Judith, Adam, Mrs Beetle und ein gelegentlicher flüchtiger Blick auf Elfine – das war ihr gesamtes Wissen von den Bewohnern und Bediensteten der Farm.
Doch damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie wollte ihre jungen Vettern, ihre Tante Ada Doom und Amos kennenlernen. Wie sollte sie die Dinge auf Cold Comfort denn in Ordnung bringen, wenn sie keinen der Starkadders kennenlernte? Und doch schreckte sie davor zurück, sich dreist in die Küche vorzuwagen, wenn die Familie an der Futterkrippe saß, und sich vorzustellen. Ein solcher Schritt wäre ihrer Würde abträglich und damit ihrer künftigen Einflussnahme. Es war alles nicht so einfach. Vielleicht hatte Judith ja gar nicht die Absicht, zu verhindern, dass Flora die Bekanntschaft der restlichen Familie machte, aber bis jetzt hatte sie genau das erreicht.
Doch heute, das hatte Flora sich fest vorgenommen, würde sie ihre Vettern Seth und Reuben kennenlernen. Die Teestunde, so ihre Überlegung, bot eine günstige Gelegenheit, um ihr Vorhaben durchzuführen. Wenn die Starkadders keinen Tee zu sich nahmen (und vermutlich taten sie es nicht), dann würde sie ihn selbst kochen und den Starkadders erklären, dass sie beabsichtigte, dies – mit ihrer nominellen Erlaubnis – für die Dauer ihres Besuchs jeden Nachmittag zu tun.
Doch mit diesem Punkt konnte sie sich später befassen. Im Augenblick wollte sie erst einmal nach Howling, um zu sehen, ob es dort einen Gasthof gab, in dem sie ein Mittagessen bekommen konnte. In jedem anderen Haushalt hätte ein solches Unternehmen genügt, um ihren Aufenthalt zu beenden. Hier würde man ihre Abwesenheit vermutlich nicht einmal bemerken.
Und so stand Flora also um ein Uhr im »Gehenkten Mann«, dem einzigen Gasthof von Howling, und fragte die Wirtin, Mrs Murther, ob sie einen Mittagstisch anbot.
Ein Lächeln, das eine Mischung aus Schaudern und Dankbarkeit verriet, als spähe man in eine Fallgrube, in die andere gestürzt sind, während man selbst ihr ausweichen konnte, huschte über Mrs Murthers Gesicht, als sie die Frage verneinte.
»Höchstens für zwei Tage im August, und auch dann nicht immer«, fügte sie gut gelaunt hinzu.
»Könnten Sie nicht so tun, als hätten wir jetzt August?«, fragte Flora, die ein schrecklicher Hunger plagte.
»Nein«, entgegnete Mrs Murther schlicht.
»Nun, und wenn ich mir beim Fleischer ein Steak besorge, würden Sie es dann für mich braten?«
Wider Erwarten sagte Mrs Murther, das würde sie tun, und fügte zu Floras noch größerem Erstaunen hinzu, Flora könne auch gern etwas von dem haben, was es bei ihnen selbst zu essen gab, ein Angebot, das Flora etwas vorschnell annahm.
Was es bei ihnen selbst zu essen gab, das war, wie sich herausstellte, Apfeltorte und Gemüse, sodass Flora es recht gut traf. Sie bekam ihr Steak, nachdem es beim Fleischer, der sie für verrückt hielt, eine kleine Verzögerung gab; und nach dem Kauf dieses Steaks schien erstaunlich wenig Zeit zu verstreichen, bis es braun gebraten und köstlich duftend in der Gaststube des »Gehenkten Mannes« vor ihr auf dem Teller lag.
Auch die ständig um sie kreisende Mrs Murther trübte die Stimmung nicht so sehr, dass es ihr den Appetit verdarb. Mrs Murther machte einen eher resignierten als verzweifelten Eindruck. Ihre Art und ihre Miene erinnerten Flora an den Cockney-Ausdruck, den sie aus London kannte: »Ach, man darf nicht nörgeln« – auch wenn Flora sehr wohl wusste, dass sie nicht erwarten durfte, diesen Satz in Howling zu hören, wo jeder glaubte, nörgeln zu müssen, und das auch noch die ganze Zeit.
»So, ich muss jetzt los und mich um das Essen meines anderen Herrn kümmern«, sagte Mrs Murther, als sie Flora lange genug umkreist hatte, um ihr Salz und Pfeffer, Brot, Gabeln und alles andere, was sie wollte, hinzustellen.
»Haben Sie noch einen anderen Herrn?«, fragte Flora.
»Ja. Er hat sich hier einquartiert. Ein Schriftsteller«, erwiderte Mary Murther.
»Das war ja zu erwarten«, murmelte Flora. »Wie heißt er denn?« (Denn sie fragte sich, ob sie ihn vielleicht kannte.)
»Mybug«, lautete die unwahrscheinliche Antwort.
Das konnte Flora einfach nicht glauben, aber sie war zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt, um sich auf eine lange und ermüdende Diskussion einzulassen. Sie entschied, dass Mr Mybug ein Genie sein musste. Ein Mann mit einem bloßen Talent hätte sich kleinmütig mittels einer einseitigen Absichtserklärung umbenannt.
Wie langweilig, dachte sie. Hatte sie denn auf Cold Comfort nicht schon genug zu tun, auch ohne ein Genie namens Mybug, der eine Meile von der Farm entfernt wohnte und sich voraussichtlich in sie verlieben würde? Denn sie wusste aus Erfahrung, dass Intellektuelle und Genies nur selten für Frauen schwärmten, die vom gleichen Schlag waren wie sie und nur Schuhe und Frisuren im Kopf hatten, sondern sich lieber auf normale und anständig angezogene Leute wie Flora selbst konzentrierten, die sich von den zielstrebigen Annäherungsversuchen besagter Genies und Intellektueller ebenso abgestoßen wie beunruhigt (um nicht zu sagen gelangweilt) fühlten.
»Ach – was für Bücher schreibt er denn?«, erkundigte sie sich.
»Im Augenblick schreibt er eines über einen anderen jungen Mann, der Bücher schrieb, und dann behaupteten seine Schwestern, sie hätten sie geschrieben, und dann starben sie alle an der Schwindsucht, die armen, jungen Dinger.«
Ha! Eine Biographie von Branwell Brontë, dachte Flora. Das hätte ich mir gleich denken können. Die männlichen Intellektuellen sind schon seit geraumer Zeit zunehmend unzufrieden angesichts der Vorstellung, dass eine Frau Sturmhöhe geschrieben hat. Ich dachte mir schon, dass früher oder später einer von ihnen mit etwas in dieser Richtung kommen würde. Nun, ich muss ihm eben einfach aus dem Weg gehen, das ist alles.
Und sie machte sich über ihre Apfeltorte her und schlang sie etwas schneller hinunter, als es bekömmlich war, denn sie befürchtete, dass Mr Mybug hereinschneien und sich in sie verlieben könnte.
»Sie haben keinen Grund zur Eile; er ist nie vor halb drei zurück«, beschwichtigte Mrs Murther, die ihre Gedanken mit einer beunruhigenden Leichtigkeit erraten hatte. »Er ist bei jedem Wetter draußen in den Downs, und jedes Mal bringt er mir eine ordentliche Ladung Schlamm ins Haus. Hat es Ihnen geschmeckt? Das macht dann einen Shilling und sechs Pence, bitte.«
Auf dem Weg zurück zur Farm fühlte Flora sich schon besser. Sie beschloss, den Nachmittag damit zu verbringen, ihre Bücher zu ordnen.
Als sie den Hof überquerte, bemerkte sie Anzeichen von Leben. Im Kuhstall schepperten Eimer, und das heisere Brüllen des Bullen drang aus seiner dunklen Behausung. (Ich glaube kaum, dass sie ihn bei schönem Wetter je auf die Weiden hinauslassen, dachte Flora und nahm sich vor, sich um ihn zu kümmern und um die Starkadders ebenfalls.) Kampflustiges Krakeelen gellte aus dem Hühnerstall, doch niemand war zu sehen.
Um vier Uhr kam sie herunter, um nach etwas Tee Ausschau zu halten. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, einen Blick in ihren kleinen Salon zu werfen, um festzustellen, ob dort vielleicht der Tee für sie auf dem Tisch stand. Sie begab sich direkt in die Küche.
Natürlich konnte keine Rede davon sein, dass in der Küche irgendjemand Tee kochte; und als sie die Asche über dem Feuer sah und die Krümel und Karottenreste, die noch vom Mittagessen auf dem Tisch lagen, wurde ihr klar, dass es reichlich optimistisch von ihr gewesen war, überhaupt mit dieser Möglichkeit zu rechnen.
Doch sie ließ sich nicht entmutigen. Sie füllte den Teekessel, legte etwas Holz aufs Feuer und stellte den Kessel darüber; dann wedelte sie mit Adams Geschirrtuch (das sie mit spitzen Fingern anfasste) die Essensreste vom Tisch und stellte rings um die verbeulte Zinnkanne ein paar Tassen und Untertassen auf. Sie fand einen Laib Brot und etwas Butter, aber natürlich keine Marmelade oder ähnliches weibisches Zeug.
Just in dem Augenblick, als das Wasser kochte und sie hinstürzte, um es vom Feuer zu nehmen, verdunkelte ein Schatten die Tür, und da stand Reuben, der Floras stilvolle Vorbereitungen mit einer leidgeprüften Miene beäugte, in der eine Mischung aus Erstaunen und Zorn lag.
»Hallo«, ergriff Flora die Initiative. »Sie müssen Reuben sein. Ich bin Flora Poste, Ihre Cousine, Sie wissen schon. Wie geht es Ihnen? Ich freue mich so, dass jemand kommt, um einen Tee zu trinken. Setzen Sie sich doch. Nehmen Sie Milch? (Keinen Zucker … natürlich nicht … oder doch? Ich selbst nehme schon welchen, aber die meisten meiner Freundinnen nicht.)«
Der große Körper des Mannes, der sich bedrohlich vor dem kalten Licht abzeichnete, das durch die niedrigen Fenster eindrang, rührte sich nicht vom Fleck. Hinter den durchweichten grauen Furchen seines Gesichts wirbelten seine Gedanken wie ein Wildbach im Hochwasser. Eine Frau … Verdammt! Verdammt! Kam hierher, um ihm das Land zu entreißen, dessen Liebe in seinen Adern gärte wie langsame Hefe. Eine typische Frau. Jung, zartgesichtig, unverschämt. Auf einmal nahm sein starrer Blick eine fleischige Färbung an. Brechen muss man sie. Brechen. Das Land halten, im Griff behalten, ganz fest. Das Land, die eisernen Furchen der frostigen Erde unter der Wollust des Regens, die fruchtbaren Regenruten, das anschwellende, langsame Aufbrechen der Saatscheiden, der langsame Geruch von Kühen und Schrei von Kühen, der trampelnde Brautpfad des Stiers zu seiner Stunde. Alles seins, seins …
»Möchten Sie vielleicht etwas Brot mit Butter?«, fragte Flora und reichte ihm eine Tasse Tee. »Ach, lassen Sie die Stiefel. Adam kann den Schmutz später zusammenfegen. Kommen Sie doch herein.«
Reuben gab sich geschlagen und trat ein.
Er stand Flora gegenüber am Tisch, blies kräftig auf seinen Tee und starrte sie an. Flora machte es nichts aus. Es war eigentlich ganz interessant: als tränke man Tee mit einem Rhinozeros. Außerdem tat er ihr ziemlich leid. Von allen Starkadders sah er aus, als hätte er am wenigsten Spaß am Leben. Schließlich hatten die meisten Mitglieder der Familie ihren Spaß an irgendetwas. Amos hatte ihn an seiner Religion, Judith an ihrem Seth, Adam an seinen Tieren, die er liebkosen konnte, und Elfine hatte ihren Spaß daran, im Nebel auf den Downs in einem seltsamen grünen Kostüm herumzutanzen, während Seth seinen daran hatte, sich auf Abwege zu begeben. Aber Reuben schien einfach an nichts Spaß zu haben.
»Ist er zu heiß?«, fragte sie und reichte ihm lächelnd die Milch.
Der weiße Strahl säuselte sanft hinab in die Tiefen der Tasse. Er blies weiter hinein und starrte Flora dabei an. Flora wollte ihm seine Befangenheit nehmen (konnte er denn unbefangen sein?), und so trank sie in aller Gelassenheit weiter an ihrem Tee und wünschte sich, es gäbe ein paar Gurkensandwichs.
Nach einem Schweigen, das – einem verstohlenen Blick auf Floras Armbanduhr zufolge – sieben Minuten dauerte, kam es zu einer Reihe deutlich erkennbarer Zuckungen, die über die ganze Breite von Reubens Gesicht huschten, und einer Reihe leiser, vorbereitender Laute, die aus seiner Kehle herrührten, was Flora davon überzeugte, dass er demnächst zu ihr zu sprechen gedachte. Vorsichtig wie ein Kameramann, der eine vierzehnköpfige Löwenfamilie filmen will, verharrte Flora bewegungslos.
Ihre Beherrschung wurde belohnt. Nach einer weiteren Minute brachte Reuben den folgenden Satz hervor:
»Seit heute Morgen um fünf hab ich unten am Hügel zweihundert Ackerfurchen gepflügt.«
Es war eine Bemerkung, fand Flora, auf die sich nicht leicht etwas erwidern ließ. Wollte er sich beklagen? Wenn ja, dann könnte man sagen: »O nein, Sie Ärmster! Wie furchtbar!« Aber vielleicht wollte er damit auch prahlen, und dann müsste man korrekterweise entgegnen: »Junge, Junge!« oder vielleicht einfach nur: »Aber das ist ja großartig.« Kleinmütig wich sie auf eine relativ unbedenkliche Bemerkung aus:
»Tatsächlich?«, sagte sie in einem hellen, interessierten Tonfall.
Sie sah sofort, dass sie das Falsche gesagt hatte. Reubens Augenbrauen senkten sich, und sein Kiefer schob sich nach vorn. O wie entsetzlich! Er glaubte, dass sie an seinen Worten zweifelte!
»Ja, tatsächlich. Zweihundert. Zweihundert von Ticklepenny’s Corner bis Nettle Flitch. Ja, und ohne dass mir irgendjemand dabei geholfen hätte. Hätten Sie das gekonnt?«
»Nein, gewiss nicht«, entgegnete Flora mit Bestimmtheit, und ihr Schutzengel (der, wie sie im Nachhinein fand, Überstunden gemacht haben musste) nötigte sie noch zu der Bemerkung: »Aber wissen Sie, dazu hätte ich auch gar keine Lust.«
Dieses vermeintlich unschuldige Eingeständnis hatte eine erstaunliche Wirkung auf Reuben. Er knallte die Tasse auf den Tisch, streckte den Kopf nach vorn und starrte ihr unverwandt ins Gesicht.
»Ach nein, hätten Sie also nicht? Ja, Sie würden wahrscheinlich einem Mann gutes Geld dafür bezahlen, dass er es für Sie macht, möcht ich wetten – und so alles, was die Farm einbringt, wieder zum Fenster hinauswerfen.«
Jetzt erkannte Flora allmählich, worum es überhaupt ging. Er glaubte, sie hätte es auf die Farm abgesehen!
»Nein, das würde ich wirklich nicht«, entgegnete sie prompt. »Es wäre mir völlig gleichgültig, ob Ticklepenny’s Corner überhaupt umgepflügt wird. Ich will auch nichts mit Nettle Flitch zu tun haben. Ich würde« – sie lächelte freundlich zu Reuben hinauf – »ich würde das alles stattdessen Sie machen lassen.«
Doch zu ihrer Bestürzung erwies sich dieser Versuch als Fehlschlag.
»Lassen!«, brüllte Reuben und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Lassen! Ein böses, lügnerisches Wort einem Mann gegenüber, der eine Farm wie einen kranken Säugling gehätschelt hat – einem Mann, der jeden Zentimeter des Bodens und jedes Fleckchen Wildrauke hier kennt. Lassen … ah, ein schönes Wort …«
»Ich glaube wirklich, wir sollten eines klarstellen«, unterbrach ihn Flora. »Das wird uns die Sache um einiges erleichtern. Ich will die Farm nicht. Wirklich nicht. Dieser Gedanke« – sie zögerte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie sich kaum vorstellen konnte, dass überhaupt jemand sie haben wollte, entschied jedoch, dass dies ebenso unhöflich wie unfreundlich wäre – »dieser Gedanke ist mir überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Ich weiß nichts über Farmarbeit, und ich will auch nichts darüber wissen. Das würde ich viel lieber den Leuten überlassen, die etwas davon verstehen, Leuten wie Ihnen zum Beispiel. Überlegen Sie doch mal, was ich mit der Wildraukenernte und allem anderen anrichten würde. Es muss Ihnen doch klar sein, dass ich wirklich der letzte Mensch auf Erden bin, der zum Pflügen zu gebrauchen ist.«
Wieder huschten eine Reihe von Zuckungen, allerdings ein wenig verworrener als beim ersten Mal, über Reubens Gesicht. Er schien etwas sagen zu wollen, tat es aber schließlich doch nicht. Er knallte die Teetasse auf den Tisch, starrte Flora ein letztes Mal kurz an und stapfte aus der Küche.
Damit hatte die Unterredung, die so gut begonnen hatte, ein unbefriedigendes Ende genommen, aber Flora ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es war offensichtlich, dass er, selbst wenn er ihr nicht glauben konnte, es doch gerne wollte, und damit war schon viel gewonnen. Er war schon drauf und dran gewesen, ihr Glauben zu schenken, als sie die glückliche Bemerkung machte, dass sie mit dem Umpflügen nichts zu tun haben wollte, und nur seine naturbedingte rüpelhafte und misstrauische Art hatte ihn davon abgehalten. Das nächste Mal, wenn sie ihm versicherte, dass sie es nicht auf die Cold Comfort Farm abgesehen hatte, würde Reuben überzeugt sein, dass sie die Wahrheit sprach.
Inzwischen loderte ein helles Feuer im Kamin. Flora zündete eine Kerze an, die sie aus ihrem Zimmer mit nach unten gebracht hatte, und begann eine Näharbeit, mit der sie sich die Zeit vertreiben wollte, bis sie in ihrem Zimmer zu Abend essen würde. Sie nähte an einem Petticoat, den sie mit geklöppelten Spitzen verzieren wollte.
Wenig später, während sie friedlich bei ihrer Näharbeit saß, kam Adam vom Hof herein. Um sich gegen den Regen zu schützen, trug er einen Hut, der – seit weiß Gott welch düsterer Vorzeit – die üblichen Attribute von Farbe, Form und Größe sowie die etwas feineren Gedankenassoziationen, mit denen im Allgemeinen Hüte als Hüte identifiziert werden, eingebüßt hatte und der nun einem obskuren, natürlichen Gewächs glich, einer Art Moos oder Schwamm oder Pilz, das sich an eine Wirtspflanze angeschmiegt hatte.
Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ein paar Dornbuschzweige, die er, wie Flora vermutete, soeben von einem der Büsche im Hof abgebrochen hatte; wie eine Taschenlampe trug er sie demonstrativ vor sich her.
Er schielte unter seiner Hutkrempe hervor, als er die Küche durchquerte, und warf Flora einen gehässigen Blick zu, sagte jedoch nichts. Während er die Zweige behutsam auf dem Brettchen über dem Spülbecken ablegte, wandte er den Blick zu ihr um, doch sie nähte weiter vor sich hin und sprach kein Wort. Und so legte er die Zweige noch ein- oder zweimal neu zurecht, hustete und murmelte dann:
»So, die müssten nun bis Michaelis reichen, um das Geschirr sauber zu machen – es geht doch nichts über einen Dornbuschzweig, um das Geschirr sauber zu machen. Ja, ja, ’n Strick ist so gut wie ’n Halfter, wenn das Pferd nur will. Flüche fliegen wie die Raben in die Herzen und die Hütten.«
Es war klar zu erkennen, dass er Floras Empfehlung, das Geschirr mit einem kleinen Mopp sauber zu machen, durchaus nicht vergessen hatte. Während er davonschlurfte, nahm Flora sich fest vor, einen für ihn zu kaufen, wenn sie das nächste Mal nach Howling fuhr.
Flora hatte kaum Zeit gehabt, sich von dieser Szene zu erholen, als sie draußen auf dem Hof Schritte vernahm und gleich darauf ein junger Mann eintrat, bei dem es sich nur um Seth handeln konnte.
Mit einem kühlen Lächeln blickte Flora auf.
»Guten Tag. Sind Sie Seth? Ich bin Ihre Cousine, Flora Poste. Zum Tee kommen Sie leider etwas zu spät – es sei denn, Sie möchten sich selbst einen neuen kochen.«
Mit der Anmut eines schleichenden Panthers kam er zu ihr herüber und lehnte sich gegen das Kaminsims. Flora erkannte sofort, dass er nicht zu der Sorte gehörte, die man mit einer Tasse Tee abspeisen konnte. Jetzt war es an ihr.
»Was machen Sie’n da?«, fragte er. Flora wusste, dass er hoffte, es würde ein Schlüpfer sein. In aller Gelassenheit faltete sie den Petticoat auseinander und erwiderte, es sei ein Geschirrtuch für nachmittags.
»Ach … Weiberkram«, sagte Seth sanft. (Flora fragte sich, weshalb er es für nötig befunden hatte, seine Stimme um eine halbe Oktave zu senken.) »Die Frauen sind doch alle gleich – machen ein Getue um ihren Flitterkram und verdrehen einem Mann die Augen, und was sie wirklich wollen, das ist sein Blut und das Herz in seiner Brust und seine Seele und sein Stolz …«
»Tatsächlich?«, sagte Flora und suchte in ihrem Nähkästchen nach einer Schere.
»Ja.« In seiner tiefen Stimme waren klirrende Laute, die zu einer seltsam animalischen Harmonie verschmolzen, wie die natürlichen Schreie eines Wiesels oder Hermelins. »Das ist alles, was die Frauen wollen – das Leben eines Mannes. Und dann, wenn sie ihn eingelullt haben mit ihrem Flitterkram und ihrer Weichheit und ihren Schmeicheleien und er sich nicht mehr rühren kann, weil sein Verlangen nach ihnen ihm das Blut in den Adern wallen lässt – wissen Sie, was sie dann tun?«
»Leider nein«, erwiderte Flora. »Würden Sie bitte so freundlich sein und mir die Garnrolle reichen, die auf dem Kaminsims liegt, genau in Ihrer Augenhöhe? Vielen Dank.« Seth reichte sie ihr mechanisch und fuhr fort.
»Dann fressen sie ihn auf, genau wie das Spinnenweibchen das Spinnenmännchen. Das machen sie, die Frauen – wenn ein Mann sie lässt.«
»Tatsächlich«, bemerkte Flora.
»Ja – aber ich sagte, ›wenn‹ ein Mann sie lässt. Aber ich – ich lass mich von keiner Frau auffressen. Ich fress sie lieber selbst.«
An dieser Stelle hielt Flora ein beifälliges Schweigen für die beste Strategie. Sie empfand es als ausgesprochen schwierig, ihm in Worten etwas entgegenzusetzen, denn diese Art der Konversation, an der sie sich früher schon (auf Partys in Bloomsbury und in Salons in Cheltenham) beteiligt hatte, war im Grunde hauptsächlich eine Rangelei um die besten Plätze, ein Hin- und Herschieben von Figuren auf dem Brett, bevor das eigentliche Spiel begann. Und wenn, wie in ihrem Fall, eine Spielerin sich bei all dem lediglich ein wenig langweilte und überlegte, ob sie sich wohl vor dem Zubettgehen noch eine heiße Milch würde machen können, dann hatte es nicht viel Sinn, überhaupt zu spielen.
Natürlich, in Cheltenham und in Bloomsbury ließen sich die Gentlemen nicht ganz so wortreich darüber aus, dass sie in Notwehr Frauen fraßen, doch sie meinten zweifellos dasselbe.
»Das schockiert Sie jetzt, was?«, missdeutete Seth ihr Schweigen.
»Ja, und ich finde es entsetzlich«, kam ihm Flora gutmütig auf halbem Weg entgegen.
Er lachte. Es klang grausam, wie das Zischen eines Hermelins, das seine Krallen in den Nacken eines Kaninchens bohrt.
»Entsetzlich … ja! Ihr seid doch alle gleich. Sie sind genau wie alle anderen auch, trotz Ihrer ganzen Londoner Art. Alles nur Schöntuerei. Ich möcht wetten, Sie haben nicht mal die Hälfte von dem verstanden, was ich gesagt habe, stimmt’s? … Kleines Unschuldslamm.«
»Ich habe Ihnen leider gar nicht die ganze Zeit zugehört«, entgegnete Flora, »aber ich bin sicher, es war hochinteressant. Sie müssen mir irgendwann einmal alles über Ihre Arbeit erzählen … Und was machen Sie eigentlich an den Abenden, an denen Sie nicht gerade – äh – Menschen fressen?«
»Ich fahr nach Beershorn«, erwiderte Seth ein wenig schmollend. Die dunkle Flamme seines männlichen Stolzes hegte den leisen Verdacht, man wolle sich über sie lustig machen.
»Um Darts zu spielen?« Flora kannte ihren Alan Patrick Herbert.
»Nein … ich soll mit einem Haufen alter Männer dieses Kinderspiel spielen? Das ist wirklich ein guter Witz. Nein, ich geh ins Kino.«
Und in dem Tonfall, in dem Seth das letzte dieser Worte aussprach, lag irgendetwas, ein so sehnsüchtiger, wehmütiger, fast schon gurrender Klang, der in seine seltsam animalische Stimme eindrang, dass Flora ihr Nähzeug in den Schoß legte und zu ihm aufsah. Ihr Blick ruhte nachdenklich auf seinen ungleichmäßigen, aber hübschen Zügen.
»Ach, ins Kino gehen Sie? Das gefällt Ihnen also?«
»Das ist das Beste überhaupt«, sagte er bewegt. »Besser als meine Mutter oder diese Farm oder Violet unten im Pfarrhaus oder sonst irgendetwas.«
»Tatsächlich«, murmelte seine Cousine, die noch immer nachdenklich sein Gesicht studierte. »Das ist ja interessant. Wirklich sehr interessant.«
»Ich hab vierundsiebzig Fotos von Lotta Funchal«, bekannte Seth, der, während er von seiner Leidenschaft sprach, fast einem jener Affen ähnelte, die man als »fast menschlich« bezeichnet. »Ja, und vierzig von Jenny Carrol und fünfundfünfzig von Laura Vallee und zwanzig von Carline Heavytree und fünfzehn von Sigrid Maelstrom. Ja, und zehn von Panella Baxter. Mit Autogramm.«
Mit einem Kopfnicken bekundete Flora höfliches Interesse, verriet jedoch nichts von dem Plan, der ihr plötzlich in den Sinn gekommen war; und als Seth ihr einen misstrauischen Blick zuwarf, merkte er auf einmal, dass er sich hatte beschwatzen lassen, mit einer Frau über etwas anderes als über Liebe zu reden, und ärgerte sich.
Und so murmelte er nur noch, dass er nach Beershorn wolle, um sich Süße Sünder anzusehen (offensichtlich hatte ihn das Gespräch über seine Leidenschaft entflammen lassen), und verzog sich.
Der restliche Abend verlief ruhig. Flora aß ein Omelett und trank einen Kaffee, den sie sich in ihrem privaten Wohnzimmer kochte. Nach dem Abendessen nähte sie auf ihrem Petticoat noch das Muster über der Brust zu Ende, las ein Kapitel aus Macaria oder Opferaltäre und ging um zehn Uhr zu Bett.
Das war doch alles recht erfreulich. Und während sie sich auszog, fand sie, dass ihre Kampagne zur Ordnung des Lebens auf Cold Comfort eigentlich gute Fortschritte machte, wenn man bedachte, dass sie erst seit zwei Tagen hier war. Sie hatte mit Reuben Tuchfühlung aufgenommen. Sie hatte Meriam, die Magd, in die Kunst der Verhütung eingewiesen, und sie hatte sich ihre Schlafzimmervorhänge waschen lassen (sie leuchteten kräftig und purpurrot im Kerzenschimmer). Sie hatte entdeckt, was Seths grande passion war, und es waren nicht die Frauen, sondern das Kino. Sie hatte einen Plan ersonnen, wie man das Beste aus Seth machen konnte, doch den konnte sie später noch im Detail ausarbeiten. Sie blies die Kerze aus.
Aber (dachte sie, während sie ihre kühle Stirn auf das kalte Kissen legte) diese Angewohnheit, ihre Abende friedlich und allein in ihrem eigenen Wohnzimmer zu verbringen, durfte nicht dazu führen, dass sie ihre Strategie vergaß. Sie musste unbedingt einige ihrer Mahlzeiten mit den Starkadders einnehmen und sie kennenlernen.
Sie seufzte und schlief ein.