»Hell erleuchtet« ist vielleicht ein wenig zu viel gesagt. Es lag vielmehr ein Hauch von Leichenhaus oder Bahnhofswartesaal in den Lichtern, die aus den Fenstern von Cold Comfort drangen. Doch verglichen mit der schweren, drückenden Dunkelheit der Nacht, in die das Land getaucht war, wirkten die Lichter ausgesprochen fröhlich.
»Ach du meine Güte!«, sagte Flora.
»Das ist Großmama!«, flüsterte Elfine, die leichenblass geworden war. »Sie muss sich ausgerechnet diesen Abend ausgesucht haben, um nach unten zu kommen und ihre Familienfeier abzuhalten.«
»Unsinn! An einem Ort wie Cold Comfort hält man keine Feiern ab«, sagte Flora, während sie ein paar Geldscheine aus ihrer Handtasche zog, um den Chauffeur zu bezahlen. Sie stieg aus und streckte sich ein wenig, atmete die frische, süßliche Nachtluft ein und drückte ihm dann die Scheine in die Hand.
»Hier, bitte sehr. Haben Sie vielen Dank. Wir waren mit allem sehr zufrieden. Gute Nacht.«
Und nachdem der Chauffeur sich höflich für sein Trinkgeld bedankt hatte, stieß er mit dem Wagen rückwärts aus dem Hof und nahm den Weg zurück zur Straße.
Die Scheinwerfer glitten über die Hecken und tauchten das Gras in ein bleiernes Grün.
In der toten, unheimlichen Stille und Finsternis hörten sie, wie er in den höchsten Gang schaltete.
Dann begann das freundliche Geräusch des Motors allmählich zu verebben, bis es sich schließlich in der tiefen Lautlosigkeit der Nacht verlor.
Sie wandten sich um und blickten zum Haus.
Die Lichter in den Fenstern hatten einen anzüglich grinsenden, wartenden Blick, wie der auf den Gesichtern alter Zuhälter, die in den Cafés von Holborn Viaduct sitzen und beiläufig ihr Gewerbe betreiben. Ein dünner Wind heulte um die morschen Schober von Cold Comfort und legte sich wie eine Schicht fließenden Schalls über die bemoosten Dachziegel. Die Dunkelheit begleitete jaulend den lautlosen Wachstumsdrang in den Hecken, doch das half ihnen auch nichts.
»Ja, es ist Großmutter«, sagte Seth düster. »Sie hält ihre Zählung ab. O ja, sie ist es.«
»Was in aller Welt«, sagte Flora gereizt, während sie begann, quer über den Hof zu staksen, »ist die Zählung, und warum sollte sie ausgerechnet morgens um halb zwei, zu dem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, abgehalten werden?«
»Es ist die Zählung der Familie, die Großmutter einmal im Jahr abhält. Wissen Sie – wir sind ein hitzköpfiges Völkchen, wir Starkadders. Manche von uns stoßen sich gegenseitig in den Brunnen. Manche sterben, wenn sie ein Kind zur Welt bringen. Andere saufen sich zu Tode oder werden verrückt. Und es gibt eine ganze Menge von uns. Es ist nicht leicht, die Übersicht über uns zu behalten. Und deshalb hält Großmutter einmal im Jahr eine Versammlung ab, das ist die Zählung, und dann rechnet sie nach, wie viele von uns übers Jahr gestorben sind.«
»Mit mir braucht sie jedenfalls nicht zu rechnen«, entgegnete Flora und hob die Hand, um an die Küchentür zu klopfen.
Doch dann durchzuckte sie ein Gedanke.
»Seth«, flüsterte sie, »hatten Sie etwa eine Ahnung, dass Ihre Großmutter diese verteufelte Zählung heute Abend abhalten würde?«
Im Halbdunkel sah sie seine Zähne aufblitzen.
»Ich nehm’s an«, sagte er gedehnt.
»Dann sind Sie wirklich ein Ekel«, ereiferte sich Flora, »und ich hoffe, dass Ihre Wasserratten sterben. So, Elfine, und nun mach dich auf etwas gefasst. Ich fürchte, jetzt sind wir dran. Du sagst am besten gar nichts. Ich übernehme das Reden.«
Und sie klopfte an die Tür.
Die Stille, die von innen schwankend zu ihnen nach außen drang, um sie zu begrüßen, hatte etwas Greifbares. Sie war schallend. Sie formte und bezwang. Sie bedrängte und bedrückte ehrfurchteinflößend.
Sie wurde von schweren Schritten durchbrochen. Irgendjemand in Nagelschuhen stapfte quer über den Küchenfußboden. Eine Hand machte sich an den Riegeln zu schaffen. Dann wurde die Tür langsam geöffnet, und Urk stand vor ihnen und blickte sie an. Sein Gesicht hatte sich zu einer japanischen Nō-Maske aus Wollust, Wut und Schmerz verzerrt. Flora hörte hinter sich in der Dunkelheit Elfine angstvoll atmen und streckte tröstend ihre Hand aus. Sie wurde ergriffen und krampfhaft umklammert.
Die große Küche war voller Leute. Alle schwiegen, und alle wurden von dem flackernden Schein des Feuers mit einem höllischen Glutrot überzogen. Flora erkannte Amos, Judith und Meriam, die Magd, Adam, Ezra und Harkaway, Caraway, Luke und Mark sowie einige der Farmarbeiter. Sie hatten sich alle etwa im Halbkreis um eine Person versammelt, die in einem hohen Lehnstuhl am Feuer saß. Das trübgoldene Licht der Lampe und der unruhige Schein des Feuers warfen Rembrandt-Schatten in die hinteren Ecken der Küche und die riesen- und gnomenhaften Schatten der Starkadders über die Decke.
Ein stechender Geruch quoll der einströmenden Nachtluft entgegen. Er war scheußlich süß und sonderbar, wie Flora fand. Dann sah sie, dass die Hitze der Flammen die langen, rosafarbenen Knospen der Wildrauke hatte aufplatzen lassen; das Gebinde, das sich um Fig Starkadders Porträt rankte, war mit großen Blüten übersät, deren Blätter wie verhedderte Krallen zurücksprangen, um das schamlose Herz bloßzulegen, das diese süßen Ströme aussandte.
Alle starrten zur Tür. Die Stille war unheimlich. Die Luft schien unter ihrem Druck zu bersten, und das lodernde Licht und die feurige Glut auf den Gesichtern der Starkadders flackerten so fieberhaft, dass sie die seltsame Stille ihrer Körper unterstrichen. Flora versuchte zu ergründen, woran genau die Küche sie erinnerte, und kam zu dem Schluss, dass es das Schreckenskabinett bei Madame Tussaud’s war.
»Na so etwas«, sagte sie liebenswürdig, während sie über die Türschwelle trat und ihre Handschuhe abstreifte, »heute ist ja die ganze Bande versammelt, wie? Ist das Big Business, den ich dort hinten in der Ecke sehe? Oh, Verzeihung, nein, das ist ja Micah. Es gibt wohl nicht zufällig ein paar Sandwichs?«
Damit war das Eis gebrochen. Anzeichen von Leben machten sich bemerkbar.
»Auf dem Tisch steht etwas zu essen«, sagte Judith leblos und kam langsam vor, wobei sie ihren glühenden Blick auf Seth richtete, »aber zuerst, Robert Postes Tochter, müssen Sie Ihre Tante Ada Doom begrüßen.«
Und sie nahm Floras Hand (Flora war heilfroh, dass sie ihre sauberen Handschuhe abgestreift hatte) und führte sie zu der Gestalt, die in dem Lehnstuhl am Feuer saß.
»Mutter«, sagte Judith, »das ist Flora, Robert Postes Tochter. Ich habe dir von ihr erzählt.«
»Guten Abend, Aunt Ada«, sagte Flora freundlich und streckte die Hand aus. Doch Aunt Ada machte keine Anstalten, sie zu ergreifen. Sie faltete ihre Hände ein wenig fester über dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung, das sie auf dem Schoß hielt, und bemerkte mit leiser, tonloser Stimme:
»Ich habe etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen.«
Flora wandte sich zu Judith um und zog fragend die Augenbrauen hoch. Ein Murmeln kam von den übrigen Anwesenden, die alles genau beobachteten.
»Sie hat eine ihrer schlimmen Nächte«, sagte Judith, deren Blick immer wieder erbärmlich in Seths Richtung wanderte (er schlang in einer Ecke Rindfleisch hinunter). »Mutter«, sagte sie etwas lauter, »erkennst du mich denn nicht? Ich bin es, Judith. Ich bringe dir Flora Poste, die dich kennenlernen möchte – Robert Postes Tochter.«
»Nein … ich habe etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen«, sagte Aunt Ada Doom, während sie unruhig mit ihrem großen Kopf hin und her wackelte. »Es war an einem glühend heißen Mittag … vor neunundsechzig Jahren. Und ich war nicht größer als ein Zaunkönig. Und ich habe etwas Grau…«
»Nun, vielleicht ist es ihr lieber so«, meinte Flora beschwichtigend. Sie hatte Aunt Adas festes Kinn, ihre klaren Augen, ihren schmalen, kleinen Mund und den festen Griff bemerkt, mit dem sie ihr Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung hielt, und sie kam zu dem Schluss, wenn Aunt Ada verrückt war, dann war sie, Flora, einer der Marx Brothers.
»Hab etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen!!!«, schrie Aunt Ada plötzlich auf, wobei sie Judith mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung schlug, »etwas Grauenhaftes! Nehmt es weg! Ihr seid alle grausam und gemein. Ihr wollt fort von hier und mich im Holzschuppen allein lassen. Aber das werdet ihr niemals. Keiner von euch. Niemals! Es hat immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben. Ihr müsst alle hier bei mir bleiben, alle: Judith, Amos, Micah, Urk, Luke, Mark, Elfine, Caraway, Harkaway, Reuben und Seth. Wo ist Seth? Wo ist mein Liebling? Komm – komm hierher, Seth.«
Seth, den Mund voller Brot und Fleisch, bahnte sich seinen Weg durch die Versammlung der Verwandten. »Hier, Großmama«, säuselte er beschwichtigend, »hier bin ich. Ich werde dich nie verlassen – niemals.«
(»Sieh Seth nicht so an, Frau«, flüsterte Amos Judith drohend ins Ohr. »Ständig siehst du ihn an.«)
»Das ist mein guter Junge … mein Nesthäkchen … mein kleiner Spatz …«, murmelte die alte Frau und tätschelte Seth mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung über den Kopf. »Und wie fein er heute Abend aussieht! Was ist das? Was ist das alles?« Und sie zerrte an Seths Smokingjacke. »Was hast du gemacht? Erzähl’s deiner Großmama.«
Aunt Adas auffallend schlaue Augen unter den schweren Lidern musterten Seth mit einem Blick, der Flora erkennen ließ, dass sie ihren kleinen Ausflug durchschaut hatte. Es blieb ihnen nur noch Zeit, ihr Gesicht zu wahren, bevor die Sintflut kam. Und so atmete Flora einmal tief durch und sagte laut und deutlich:
»Er war in Godmere auf dem Ball zu Richard Hawk-Monitors einundzwanzigstem Geburtstag. Ich ebenfalls. Und Elfine auch. Und ein Freund von mir namens Claud Hart-Harris, den keiner von Ihnen kennt. Und außerdem, Aunt Ada, haben sich Elfine und Richard Hawk-Monitor verlobt und werden in etwa einem Monat heiraten.«
Ein erschütternder Schrei gellte aus dem Schatten vor dem Ausguss. Alle zuckten heftig zusammen und wandten sich in die Richtung um, aus der der Schrei kam. Es war Urk – Urk, der mit dem Gesicht nach unten in den Rindfleischsandwichs lag und in qualvoller Agonie eine Hand auf sein Herz gepresst hielt. Meriam, die Magd, legte ihre raue Hand auf seinen gesenkten Kopf und tätschelte ihn schüchtern, doch er schüttelte sie mit einer Bewegung ab wie ein Wiesel in einer Falle.
»Meine kleine Wasserratte«, hörten sie ihn jammern. »Meine kleine Wasserratte.«
Ein Tumult brach los, in dem man undeutlich erkennen konnte, wie Aunt Ada auf jeden mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung einschlug und dazu lauthals schrie: »Ich habe es gesehen … ich habe es gesehen! Ich werde verrückt … Ich kann es nicht ertragen … Es hat immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben. Ich habe etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen … etwas Grauenhaftes … Grauenhaftes … Grauenhaftes …«
Seth nahm ihre Hände und legte sie in seine, kniete vor ihr nieder und redete beruhigend auf sie ein, als sei sie ein krankes Kind. Flora hatte Elfine aus all dem Durcheinander in eine Ecke gezogen und an einen Tisch in der Nähe des Feuers gezerrt und versorgte sie beide nachdenklich mit etwas Brot und Butter. Sie hatte alle Hoffnung aufgegeben, in dieser Nacht noch ins Bett zu kommen. Es war kurz vor halb drei, und der Sonnenaufgang schien nicht mehr lange auf sich warten zu lassen.
Sie bemerkte einige ihr unbekannte Frauen, die missmutig in der Düsterkeit hin und her schlichen, Teller mit Brot und Butter auffüllten und gelegentlich in den Ecken weinten.
»Wer ist denn das?«, fragte sie Elfine und deutete interessiert auf eine mit einer völlig flachen Brust und einem Gesicht wie ein frisch geschlüpftes Vögelchen, mit Kulleraugen und einer schnabelartigen Nase. Sie hing halb in einem Schuhschrank und weinte.
»Das ist die arme Rennet«, sagte Elfine schläfrig. »Oh, Flora, ich bin ja so glücklich, aber ich wünschte, wir könnten zu Bett gehen.«
»Ja, gleich. Das ist also die arme Rennet. Und warum (falls es nicht taktlos ist, diese Frage zu stellen) sind ihre Kleider alle triefend nass?«
»Oh, sie ist so gegen elf Uhr in den Brunnen gesprungen, hat mir Meriam, die Magd, erzählt. Großmama hat sich die ganze Zeit über sie lustig gemacht, weil sie eine alte Jungfer ist. Sie sagte, Rennet hätte ja nicht einmal Mark Dolour halten können, als sie ihn hatte, und die arme Rennet wurde richtig hysterisch, und Großmama sagte immer weiter solche Dinge über – über flache Brüste und so, und dann lief Rennet hinaus und sprang in den Brunnen. Und Großmama bekam einen Anfall.«
»Geschieht ihr recht, der alten Gans«, murmelte Flora gähnend. »He, was ist denn nun schon wieder los?« Denn inmitten der Menge, die sich um Aunt Ada versammelt hatte, war erneut ein Tumult ausgebrochen.
Durch das verwirrende Flackern des Feuers und des Lampenlichts hindurch konnten Flora und Elfine, die sich auf den Tisch gestellt hatten, Amos erkennen, der sich über Aunt Ada Dooms Stuhl beugte und mit Donnerstimme auf sie einredete. Micah, Ezra, Reuben, Seth, Judith, Caraway, Harkaway, Susan, Letty, Prue, Adam, Jane, Phoebe, Mark und Luke machten ihrerseits einen solchen Höllenlärm, dass man kaum hören konnte, was er sagte, doch plötzlich steigerte er seine Stimme zu einem Brüllen, und die anderen verfielen in Schweigen:
»… Und so muss ich gehen, wohin die Arbeit des Herrn mich ruft, und das Wort Gottes draußen in der Welt, in fremden Gegenden, verbreiten. Ja, es ist schrecklich, fortzumüssen, aber ich muss es tun. Ich habe mit mir gerungen und gebetet und gegrübelt, und jetzt weiß ich die Wahrheit. Ich muss in einem dieser Ford-Kleinlaster in die Welt hinaus und überall im Lande Predigten halten. Ja, wie in alten Zeiten die Apostel, so habe auch ich meinen Ruf vernommen, und ich muss ihm folgen.« Er riss die Arme weit auseinander, und der Schein des Feuers spielte eine scharlachrote Phantasie auf seinem entrückten Gesicht.
»Nein … nein!«, schrie Aunt Ada Doom mit einer hohen Stimme, die vor Agonie fast überschnappte. »Ich kann es nicht ertragen. Es hat immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben. Ihr dürft nicht von hier fort … keiner von euch darf fort … sonst werde ich verrückt! Ich habe etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen … Ah … ah …«
Gestützt von Seth und Judith, rappelte sie sich mühsam hoch und schlug kraftlos mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung (das inzwischen ein wenig mitgenommen aussah) auf Amos ein. Sein großer Körper zuckte vor dem Schlag zurück, doch er stand noch immer stocksteif da und hatte den Blick triumphierend weit in die Ferne, auf irgendeine ekstatische Vision, gerichtet, während das rötliche Licht über sein Gesicht flackerte und flimmerte.
»Ich muss fort …«, wiederholte er in einem seltsamen, sanften Tonfall. »Noch heute Nacht muss ich fort. Ich höre die frohen Stimmen der Engel, die mich rufen, über die gepflügten Felder hinweg, wo die kleinen Sämlinge betend die Hände falten; und außerdem habe ich auch schon mit Agony Beetles Bruder abgesprochen, dass er mich um halb vier mit dem Milchauto von Lunnon abholt, ich habe also keine Zeit zu verlieren. Ja, jetzt heißt es, von euch allen Abschied zu nehmen. Mutter, mithilfe der Engel und Gottes Wort habe ich deine Ketten schließlich gesprengt. Wo ist mein Hut?«
Schweigend reichte Reuben ihn seinem Vater (er hatte ihn die letzten zehn Minuten bereitgehalten).
Aunt Ada Doom hockte zusammengekauert in ihrem Stuhl; sie atmete schwach und schnell und schlug kraftlos mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung durch die Luft. Ihre Augen, zwei schmerzverzerrte Schlitze in ihrem grauen Gesicht, hatte sie auf Amos gerichtet. Sie loderten vor Hass, wie flackernde Kerzen, die drückende Dunkelheit rings um sich spüren und vor Angst umso heller aufleuchten.
»Ja …«, flüsterte sie. »Ja … so gehst du also fort und lässt mich im Holzschuppen zurück. Es hat immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben … aber das bedeutet dir nichts. Ich werde verrückt … ich werde hier sterben, allein, im Holzschuppen, mit grauenhaften – Dingen« – ihre Stimme wurde belegter; sie rang zerstreut die Hände, als wollte sie sie aus irgendeinem ekelerregenden geistigen Sirup befreien – »die mich bedrängen … allein … allein …«
Ihre Stimme erstarb. Ihr Kopf sank auf die Brust. Ihr Gesicht war blutentleert: grau, gebrochen.
Amos bewegte sich mit großen, bedächtigen Schritten in Richtung Tür. Niemand bewegte sich. Die Stille, die den Raum erstarren ließ, wurde nur durch den leise wiegenden Tanz der Flammen durchbrochen. Amos riss die Tür auf, und da lag das weite, gleichgültige Antlitz der Nacht und schielte herein.
»Amos!«
Der Schrei kam aus dem Innersten ihres Herzens. Er bohrte sich tief in Amos’ Nervengeflecht. Doch er wandte sich nicht mehr um. Er stolperte hinaus in die Dunkelheit – und war verschwunden.
Plötzlich schallte ein wilder Schrei aus der finsteren Ecke hinten am Ausguss. Urk kam nach vorn getorkelt, mit Meriam, der Magd, im Schlepptau.
(Flora weckte Elfine auf, die, den Kopf auf ihre Schulter gelegt, eingeschlafen war, und machte sie darauf aufmerksam, dass es gleich noch mehr Spaß geben würde. Es war erst Viertel nach drei.)
Urk war kalkweiß. Eine Blutspur sickerte an seinem Kinn hinunter. Seine Augen waren zwei schmerzverzerrte Pfützen, in denen seine beschädigten Gedanken umherflitzten und wie gequälte Fische schnappten. Er lachte närrisch, lautlos. Meriam wich vor ihm zurück, aschfahl vor Angst.
»Ich und meine Wasserratten … wir haben versagt«, brabbelte er mit leiser, tonloser Stimme. »Wir sind geschlagen. Wir hatten ein Nest für sie geplant, oben am Brunnen von Ticklepenny’s Corner, als die Auberginen blühten. Und jetzt hat sie sich an ihn hergegeben, diesen dreckigen, hochnäsigen, verlogenen …« Er musste husten und einen Augenblick lang nach Luft schnappen. »Als sie eine Stunde alt war, da habe ich mit dem Blut der Wasserratten ein Zeichen auf ihre Milchflasche gemalt. Sie hat mir gehört, versteht ihr? Mir! Und ich hab sie verloren … Oh, warum hab ich je geglaubt, dass sie mir gehört?«
Er wandte sich zu Meriam um, die erschrocken vor ihm zurückwich.
»Komm her – du. Dann nehm ich stattdessen eben dich. Ja, so dreckig, wie du bist, werd ich dich nehmen, und wir werden zusammen in den Schlamm sinken. Es hat immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben, und jetzt wird es hier eben auch noch eine Beetle geben.«
»Und das nicht zum ersten Mal, was du wüsstest, wenn du je einmal die Speisekammer geputzt hättest«, bemerkte eine schnippische Stimme. Es war Mrs Beetle selbst, die hinten in einer Ecke der langen Küche, bislang von Flora unbemerkt, eifrig Brot und Butter in Stücke geschnitten und die Gläser der Farmarbeiter gefüllt hatte. Sie trat jetzt vor in den Kreis, der um das Feuer stand, und baute sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor Urk auf.
»Nun … wer redet hier von Dreck? Weiß der Himmel, du müsstest wissen, wovon du redest, in dieser Jacke und dieser Hose. Deinen kostbaren Wasserratten müsst schon schlecht werden bei deinem Anblick. Ein Jammer, dass du nicht etwas weniger Zeit mit deinen alten Wasserratten verbringst und ein bisschen mehr mit Seife und Waschlappen!«
An dieser Stelle erhielt sie unerwartet Unterstützung von Mark Dolour, der in einem teilnahmsvollen Ton vom anderen Ende der Küche her rief:
»Ja, das stimmt.«
»Nimm ihn bloß nicht, mein Liebes, es sei denn, du willst ihn wirklich«, wandte sich Mrs Beetle an Meriam. »Du bist noch blutjung, und er hat die Vierzig schon überschritten.«
»Das macht mir nichts aus. Ich nehm ihn, wenn er mich will«, sagte Meriam freundlich. »Ich kann ihm immer noch sagen, er soll sich ein bisschen waschen, wenn mir danach ist.«
Urk lachte wild auf. Er ließ eine Hand auf ihre Schulter fallen, zog sie an sich und drückte ihr einen ungebärdigen Kuss mitten auf den offenen Mund. Aunt Ada Doom, die vor Wut fast erstickte, schlug mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung nach den beiden, verfehlte sie jedoch. Sie ließ sich zurückfallen, japsend, erschöpft.
»Komm, meine Schöne – meine Handvoll Dreck. Ich muss dich hinauf nach Ticklepenny’s tragen und dich den Wasserratten zeigen.« Urks Gesicht glühte vor Begeisterung.
»Was denn – zu dieser nachtschlafenden Stunde?«, rief Mrs Beetle empört.
Urk legte einen Arm um Meriams Taille und zerrte sie hoch, doch es gelang ihm nicht, sie in die Luft zu stemmen. Er fluchte laut und kniete sich hin, legte ihr beide Arme um den Bauch und versuchte erneut, sie hochzustemmen. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Dann schlang er die Arme um ihre Schultern und unten um die Knie. Sie stürzte auf ihn, und er taumelte und ging unter ihr zu Boden. Mrs Beetle machte ein Geräusch, das wie »t-t-t-t-t« klang.
Mark Dolour hörte man murmeln, mit dem Feuerwehrgriff müsste es seines Wissens am besten gelingen.
Jetzt stellte Urk Meriam in der Mitte auf den Fußboden und lief mit einem leisen, leidenschaftlichen Schrei auf sie zu.
»Komm, meine Schöne.«
Allein das animalische Gewicht des Mannes warf sie in seine Arme, die sie sogleich umklammerten. Mark Dolour (der für ein bisschen Spaß immer sehr zu haben war) hielt die Tür auf, und Urk stürzte mit seiner Last hinaus in die Dunkelheit und die erdigen Gerüche der jungen Frühlingsnacht.
Schweigen trat ein.
Die Tür blieb offen und schwang in dem schleichenden, kalten Wind, der sich erhoben hatte, träge hin und her.
Wie angewurzelt stand die Gruppe in der Küche und wartete auf das laute Poltern in der Ferne, das ihnen verraten würde, dass Urk gestürzt war.
Es kam recht bald, und Mark Dolour schloss die Tür.
Inzwischen war es vier Uhr. Elfine war wieder eingeschlafen. Die Farmarbeiter, bis auf Mark Dolour, hatten es ihr gleichgetan. Das Feuer war zu einem lüsternen roten Kohlenbett zusammengesunken, das schon zu erlöschen schien und dann, in dem trägen Wind, der unter der Tür hindurchblies, wieder ein wenig aufflackerte.
Flora war entsetzlich müde; sie hatte das Gefühl, in einem Stück von Eugene O’Neill zu sitzen – in einem dieser Stücke, die Stunden und aber Stunden dauern, bis das Publikum die Türen des Theaters einschlägt und entschieden nach einer Teepause verlangt.
Zweifellos ließ der Spaß allmählich etwas nach. Judith hatte sich in eine Ecke zusammengekauert und blickte hinter vorgehaltener Hand grübelnd zu Seth hinüber. Reuben grübelte in einer anderen Ecke. Die Blüten der Wildrauke verblichen. Seth hatte sich in eine Ausgabe von Foto-Impressionen vertieft, die er aus der Tasche seiner Abendgarderobe gezogen hatte.
Allein Aunt Ada Doom saß aufrecht, den Blick fest in die Ferne gerichtet. Sie saß stocksteif. Ihre Lippen bewegten sich leise. Von dem Tisch aus konnte Flora erkennen, was sie sagte, und es klang nicht allzu feierlich.
»Zwei von ihnen … gegangen. Elfine … Amos … und nun bin ich allein im Holzschuppen … Wer hat sie mir genommen? Wer hat sie mir genommen? Ich muss es wissen … ich muss es wissen … Dieses junge Ding. Diese Göre. Robert Postes Tochter.«
Das große rote Kohlenbett, das sich langsam auf seinen letzten Schlaf vor dem Erlöschen einrichtete, warf einen flackernden Schein auf ihr altes Gesicht, sodass sie aussah wie ein Holzschnitt in einer gotischen Kathedrale. Rennet war nach vorn gekrochen, bis sie sich etwa einen Meter vor ihrer Großmutter befand (denn so war die Beziehung zwischen Rennet und Ada Doom), und starrte sie mit einem zornigen Blick aus ihren bleichen Augen an.
Mit einem Mal schlug Aunt Ada, ohne sich umzuwenden, mit dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung nach ihr, und Rennet flüchtete sich zurück in ihre Ecke.
Eine welke Blüte fiel aus dem Wildrauken-Gebinde auf die Kohlen.
Es war halb fünf.
Auf einmal verspürte Flora einen Zug im Rücken. Gereizt drehte sie sich um – und starrte in Reubens Gesicht, der die kleine, versteckte Tür hinter der gewaltigen Ausbuchtung des Kaminsimses geöffnet hatte, die hinaus in den Hof führte.
»Kommen Sie«, flüsterte Reuben tonlos, »es wird Zeit, dass Sie ins Bett kommen.«
Dankbar und erstaunt zugleich weckte Flora Elfine leise auf, und mit angehaltenem Atem glitten sie vorsichtig vom Tisch und schlichen auf Zehenspitzen zu der kleinen Tür. Reuben zog sie behutsam hindurch und schloss geräuschlos die Tür.
Sie standen draußen im Hof, in einem bitterkalten Wind, während die ersten Strahlen kühlen Lichts über dem tiefvioletten Himmel erschienen. Der Weg zu ihren Betten lag klar vor ihnen.
»Reuben«, sagte Flora, die zu schlaftrunken war, um sich deutlich ausdrücken zu können, ihre guten Umgangsformen jedoch nicht vergessen hatte, »Sie sind ein absoluter Engel. Warum haben Sie das getan?«
»Sie haben für mich den alten Teufel aus dem Weg geräumt.«
»Ach … das«, gähnte Flora.
»Ja … das vergess ich Ihnen nie. Na, dann wird die Farm jetzt wohl mir gehören.«
»Mit Sicherheit«, sagte Flora liebenswürdig. »Da können Sie sich wirklich freuen.«
Auf einmal brach hinter ihnen in der Küche ein entsetzliches Getöse aus. Die Starkadders legten wieder los.
Doch Flora erfuhr nie, worum es diesmal ging. Sie schlief schon fast im Stehen. Wie ein Roboter ging sie auf ihr Zimmer, blieb gerade noch lang genug wach, um sich auszuziehen, und fiel ins Bett wie ein Stein.