Als Seth wiederkam, im Mantel, mit dem besten Hut, den er besaß, und einem Koffer in der Hand, gingen alle zur Tür. Mr Necks Wagen wartete im Hof auf ihn, und er hielt bei jedem Schritt Seths Arm fest umklammert, als befürchtete er, Seth könnte es sich anders überlegen.
Doch dazu bestand kein Grund. Seth hatte sein übliches gelassenes Gesicht aufgesetzt: einen Ausdruck dreister Selbstgefälligkeit. Natürlich würde er ein Filmstar werden. Sobald er den ersten Schock überwunden hatte, wollte er so wirken, als erschiene ihm all das völlig selbstverständlich. Er war zu eitel, sich die stürmische Freude anmerken zu lassen, die tief in ihm aufwallte. Und doch wallte sie auf, eine prunkvoll dunkelgolden glänzende Woge, tief unter der Kruste seiner selbstgefälligen Einwilligung.
Und so schien sich alles wunderbar zu fügen, und Flora klopfte Mr Mybug, der noch immer würgte, auf den Rücken, während alle um den Wagen standen und sich verabschiedeten, als man plötzlich hören konnte, wie über ihnen ein Fenster unheilverkündend aufgestoßen wurde, und noch bevor sie alle aufblicken konnten, drang schon eine Stimme hinaus in die stille Luft des Spätnachmittags. Sie bemerkte, sie hätte etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen.
Jeder blickte auf. Flora leicht entsetzt.
Natürlich, es war Aunt Ada Doom. Das Fenster ihres Zimmers, das genau über der Küche lag, stand offen, und sie hatte sich weit hinausgelehnt, wobei sie sich mit den Händen abstützte. In dem verstaubten Zimmer, hinter ihrer linken Schulter, stand eine Gestalt, die sich bemühte, an ihrer massigen Statur vorbei etwas zu erkennen. Nach den wirren Haaren zu urteilen, musste es Judith sein. Hinter ihrer rechten Schulter stand eine weitere Gestalt. Allein nach weiblicher Intuition zu urteilen, musste es Rennet sein.
»O Gott!«, sagte Flora hastig und mit einem gedämpften Unterton in ihrer Stimme zu Mr Neck. »Beeil dich und fahr los!«
»Wie … ist das etwa Großmama?«, erkundigte sich Mr Neck. »Und wer ist die Platinblonde im Hintergrund? Komm, Schätzchen« – er drängte Seth in den Wagen – »wir dürfen diesen Flieger nicht verpassen.«
»Seth … Seth … wohin fährst du?« Judiths Stimme überschlug sich vor Schmerz und Entsetzen.
»Ich habe etwas Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen!«, schrie Aunt Ada Doom und schlug mit irgendetwas um sich, bei dem es sich, wie Flora erkannte, um die Überreste aus dem Wochenmagazin des Milchproduzenten und Leitfaden für die Rinderhaltung handelte. »Mein Kleiner … mein Liebling. Du darfst mich nicht verlassen. Sonst werde ich verrückt!«
»Musst du aber«, murmelte Mr Neck, aber laut rief er Aunt Ada höflich zu: »Na, na, na, wie geht’s denn so, Mädchen?«
»Seth … du darfst nicht gehen!«, flehte Judith ängstlich aufjaulend. »Du darfst deine Mutter nicht verlassen. Außerdem steht die Lauchzwiebelernte ins Haus. Das ist Männerarbeit … du darfst nicht gehen.«
»Ich habe etwas im Holzschuppen gesehen!«
»Und hat es Sie gesehen?«, fragte Mr Neck, während er neben Seth in den Wagen kletterte. Der Chauffeur ließ den Motor an und begann mit dem Wagen rückwärts aus dem Hof zu stoßen.
»Ja, Madam, es ist hart, ich weiß«, rief Mr Neck. Er hatte den Kopf aus dem Wagenfenster gesteckt und schielte zu Aunt Ada hinauf. »Es ist bitter, ich weiß. Aber so ist nun mal das Leben, Mädchen. Sie leben heute, Schätzchen. All dieser Holzschuppenkram … das ist doch Jahre her! Young Woodley-Kram. Ja, natürlich respektiere ich die Gefühle einer Großmutter, Schätzchen, aber ich kann ihn einfach nicht aufgeben, ehrlich. Er wird Ihnen fünf Riesen schicken, sobald er seinen ersten Film gedreht hat.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Seth zu Flora, die sein herablassendes Lächeln mit einem freundlichen erwiderte.
Sie sah zu, wie der Wagen fortfuhr. Er fuhr nach Wolkenkuckucksheim, er fuhr ins Königreich des Kokains, er fuhr nach Hollywood. Nun würde Seth niemals wieder die Chance haben, ein netter, normaler junger Mann zu werden. Er würde eine weltberühmte, aufgeblasene Maske werden.
Das nächste Mal sah sie ihn ein Jahr später, und die Maske lächelte von einer großen Leinwand zu ihr in den dunklen Dämmerschlaf hinab: »Seth Starkadder in Kleinstadt-Cowboy.« Schon jetzt, als der Wagen sich entfernte, war er so unwirklich wie Achilles.
»Seth … Seth …«
Der Wagen bog um die Kurve und war verschwunden.
Noch immer wand sich das Weinen und Wehklagen der Frauen durch die Luft wie angerissene Drahtsaiten. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sterne mit ihrem idiotischen Tanz zwischen den Schornsteinköpfen begannen. In der Zwischenzeit konnte man nichts tun als wehklagen.
Aunt Ada hatte sich vom Fenster zurückgezogen. Flora hörte, wie Judith hysterisch wurde. Sie klopfte Mr Mybug, der noch immer würgte, gelassen weiter auf den Rücken, sagte immer wieder »na, na, na« und überlegte, ob sie vielleicht hinauf zu Aunt Adas Zimmer gehen und dort ein paar Tropfen des Höheren gesunden Menschenverstands versprengen sollte.
Doch nein. Die Zeit dafür war noch nicht reif.
Mr Mybug riss sie aus ihrer Träumerei. Gereizt entzog er sich ihrer Hand, rief zwischen zwei Würgeanfällen: »Es geht schon wieder, danke« und würgte in einiger Entfernung auf eine höchst unerfreuliche Art weiter.
Auf einmal würgte er nicht mehr. Er starrte zu Aunt Adas Fenster hinauf, wo unversehens Rennet erschienen war und bleich in den Abend blickte.
»Wer ist denn das?«, fragte Mr Mybug leise.
»Rennet Starkadder«, erwiderte Flora.
»Was für ein wundervolles Gesicht«, sagte Mr Mybug, der noch immer zu ihr hinaufstarrte. »Sie hat etwas Sprödes, Hasenähnliches … finden Sie nicht auch?« Er fuchtelte mit den Fingern durch die Luft. »Sie hat diesen ungezähmten Ausdruck, wie man ihn gelegentlich bei neugeborenen Häschen beobachten kann. Ich wünschte nur, Kopotkin könnte sie sehen. Er würde sie in Gips modellieren wollen.«
Rennet starrte ebenfalls zu ihm hinunter. Flora erkannte, dass sich hier etwas durchaus Bemerkenswertes abzeichnete. Oh, es wäre wunderbar, wenn er Rennet mit zum Fitzroy Square nehmen und eine neue Mode hasengesichtiger Schönheiten ins Leben rufen würde … nur dass sie, Flora, vor seiner und Rennets Abreise zunächst sicherstellen musste, dass er auch nett zu der armen Rennet und ihr ein fürsorglicher Ehemann sein würde. Vermutlich würde er das ja. Rennet war sehr häuslich. Sie würde Mr Mybugs Kleider flicken (was noch nie jemand für ihn getan hatte, denn all seine Freundinnen konnten zwar wunderschön sticken, dachten aber nicht im Traum daran, irgendetwas zu flicken) und köstliche, sättigende Mahlzeiten für ihn kochen und ihn einfach nur bewundern, und er würde es so bequem haben, dass er sich selbst nicht mehr wiedererkennen würde, und er würde ihr sehr dankbar sein.
Mr Mybug rüttelte sie aus diesen Plänen auf. Er ging quer über den Hof, bis er genau unter dem Fenster stand, und rief verwegen zu Rennet hinauf:
»Hallo! Kommen Sie mit auf einen Spaziergang?«
»Wie … jetzt?«, fragte Rennet schüchtern. Etwas Derartiges hatte sie noch nie jemand gefragt.
»Warum nicht?«, lachte Mr Mybug, warf den Kopf in den Nacken und sah mit einem jungenhaften Blick zu ihr hinauf. Flora fand, es war aber auch schade, dass er so dick war.
»Ich muss erst Cousine Judith fragen«, sagte Rennet und warf einen schüchternen Blick über die Schulter in das schattige Zimmer. Dann zog sie sich in das Halbdunkel zurück.
Mr Mybug war sehr zufrieden mit sich. Das hier entsprach, wie Flora deutlich erkannte, genau seiner Vorstellung von einer Romanze. Sie wusste aus Erfahrung, dass für die meisten Intellektuellen der richtige – nein, der einzige – Zeitpunkt, sich in jemanden zu verlieben, genau der Augenblick war, in dem man ihn oder sie sah. Man begegnete jemandem und dachte sich: Was für ein charmanter Mensch. So fröhlich und schlicht. Dann ging man gemeinsam von einer Party nach Hause (vorzugsweise etwa um drei Uhr morgens durch Hampstead Heath) und diskutierte darüber, ob man nun zusammen schlafen sollte oder nicht. Manchmal fragte man diesen anderen Menschen, ob man nicht gemeinsam nach Italien fahren wolle. Manchmal wurde man gefragt, ob man nicht gemeinsam nach Italien (vorzugsweise nach Portofino) fahren wolle. Man hielt Händchen, küsste sich und nannte sich »Mein allerliebster Schatz«. Man liebte sich acht Monate lang, und dann begegnete man jemand anders und begann wieder von vorn, fröhlich und schlicht zu sein, mit Spaziergang durch Hampstead am frühen Morgen, Einladung nach Portofino und alles Weitere.
Es war alles ganz schlicht, fröhlich und natürlich, irgendwie.
Jedenfalls bekam Flora langsam das Gefühl, dass sich die Dinge auf der Cold Comfort Farm ein wenig zu schnell entwickelten. Sie hatte sich von der Zählung in der letzten Nacht (war es wirklich erst letzte Nacht gewesen? – es schien schon einen Monat her zu sein) und von Amos’ Abreise noch nicht erholt; und schon war Seth weggegangen, und Mr Mybug war dabei, sich in Rennet zu verlieben, und hatte zweifellos vor, sie fortzuschleppen.
Wenn sich die Dinge in diesem Tempo weiterentwickelten, dann würde bald niemand mehr übrig sein auf der Farm.
Schlagartig fühlte sie sich unbeschreiblich müde. Sie wollte sich in ihren kleinen grünen Salon zurückziehen und bis zum Abendessen vor dem Feuer sitzen und lesen. Und so wünschte sie Mr Mybug einen angenehmen Spaziergang und fügte beiläufig hinzu, Rennets Leben sei im Großen und Ganzen ziemlich septisch verlaufen, und deutete an, ein wenig Fröhlichkeit und Schlichtheit à la Fitzroy Square würde sie vermutlich zu schätzen wissen.
Mr Mybug sagte, er hätte schon verstanden. Er versuchte außerdem, ihre Hand zu ergreifen, doch das wusste sie zu verhindern. Seit er Rennet am Fenster gesehen hatte, schien er das unbestimmte Gefühl zu haben, dass seine einseitige Affäre mit Flora zu Ende war und es nun an ihm lag, ein paar treffende Abschiedsworte zu sprechen.
»Wir sind doch Freunde, oder nicht?«, fragte er.
»Aber gewiss doch«, sagte Flora freundlich, denn sie wollte sich nicht erst die Mühe machen, ihm zu erklären, dass sie Leute, die sie erst seit fünf Wochen kannte, im Allgemeinen nicht als ihre Freunde bezeichnete.
»Wir könnten ja mal abends in der Stadt zusammen essen gehen?«
»Das wäre entzückend«, stimmte Flora zu und dachte, wie grauenhaft und langweilig es sein würde.
»Sie haben so eine Art …«, sagte Mr Mybug, starrte sie an und fuchtelte mit den Fingern durch die Luft. »Unnahbar, irgendwie, und nymphenhaft … seltsam unerwacht. Ich würde gern einen Roman über Sie schreiben und ihn Unberührt nennen.«
»Tun Sie das, wenn es Ihnen Spaß macht«, sagte Flora. »Ich muss jetzt leider gehen und ein paar Briefe schreiben. Auf Wiedersehen.«
Auf dem Weg zu ihrem Salon begegnete sie Rennet, die ausgehfertig die Treppe herunterkam. Flora fragte sich, wie sie es geschafft hatte, von Aunt Ada Doom die Erlaubnis für den Spaziergang zu erhalten, doch Rennet wartete nicht darauf, etwas gefragt zu werden. Sie flitzte mit einem entgeisterten Blick an Flora vorbei.
Flora war froh, in ihren Salon zurückzukehren und sich in einen bequemen, mit grünem Dekostoff bezogenen kleinen Sessel sinken zu lassen. Die herzerfrischende Mrs Beetle war da und räumte die Teesachen weg.
»Miss Elfine lässt Sie herzlich grüßen, Miss Flora; sie ist nach Howchiker Hall gefahren und wird die nächsten sechs Wochen dort verbringen. Mr Dick hat sie heute Mittag mit seinem Automobil abgeholt«, sagte Mrs Beetle. »Netter Junge, nicht wahr?«
»Sehr nett«, sagte Flora. »Sie ist also weggefahren, sagen Sie? Na, das ist ja großartig. Dann hat die Familie jetzt Zeit, zur Ruhe zu kommen und die Verlobung zu verdauen. Und wo ist Urk? Stimmt es, dass er Meriam ertränkt hat?«
Mrs Beetle prustete vor Lachen.
»Da müsst man schon ein bisschen stärker sein als er, wenn man sie ertränken wollte. Nein, er ist unten bei meiner Hütte, gesund und munter, und spielt mit den Kindern.«
»Wie … mit der Jazzband? Ich meine, mit Meriams Kindern?«
»Ja. Er lässt sie auf seinem Rücken reiten und tut, als wär er eine Wasserratte (grässliche Dinger). Oh, Sie hätten hören müssen, was Agony für einen Aufstand gemacht hat, als ich damit herauskam, dass Meriam einen von den Starkadders heiraten wird! Einen Aufstand! Ich dacht schon, wir müssten ihn von der Decke pflücken!«
»Sie wird ihn also tatsächlich heiraten?«, fragte Flora, die sich lässig in ihrem Sessel zurücklehnte und ihren Spaß an der kleinen Plauderei hatte.
Mrs Beetle warf ihr einen bedeutsamen Blick zu.
»Das will ich doch hoffen, Miss Poste. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass zwischen den beiden schon irgendetwas gewesen ist, was nicht sein sollte, aber da wird auch nichts sein, bis sie ordentlich verheiratet sind. Da ist Agony eisern.«
»Und was sagt die alte Mrs Starkadder dazu, dass Urk Meriam heiraten will?«
»Sie sagte, sie hätte etwas Grauenhaftes gesehen, wie üblich. Na, wenn ich bei all den grauenhaften Dingen, die ich gesehen hab, seit ich auf Cold Comfort arbeite, jedes Mal sechs Pence bekommen hätte, dann könnt ich die Farm aufkaufen (nicht, dass ich das wollte, davon mal ganz abgesehen).«
»Sie wissen wohl nicht zufällig«, fragte Flora beiläufig, »was sie da eigentlich gesehen hat?«
Mrs Beetle, die gerade dabei war, das Tischtuch zusammenzulegen, hielt einen Augenblick inne und sah Flora mit ernster Miene an. Doch das Einzige, was sie nach dieser Unterbrechung sagte, war, sie könne es nicht sagen, da sei sie sich sicher. Und so hakte Flora auch nicht weiter nach.
»Seth ist also auch fortgegangen, wie man hört«, war Mrs Beetles nächste Bemerkung. »Na, da wird sich seine Mutter nicht schlecht aufregen!«
»Ja, er ist nach Hollywood gegangen, um ein Filmstar zu werden«, sagte Flora schläfrig.
Mrs Beetle sagte, eher er als sie, und fügte hinzu, da hätte sie Agony ja einiges zu erzählen, wenn sie nach Hause käme.
»Agony hört also ganz gern ein bisschen Klatsch?«
»Wenn’s nicht gehässig ist, dann schon. Aber er macht zu Hause immer einen mordsmäßigen Aufstand, wenn ich ihm irgendetwas Gehässiges erzähle. Oh, jetzt muss ich aber los und mich um Agonys Abendessen kümmern. Gute Nacht, Miss Poste.«
Den restlichen Abend verbrachte Flora ruhig und angenehm. Ihre Zufriedenheit mit der Entwicklung der Dinge auf der Farm wurde durch eine Ansichtskarte abgerundet, die mit der Abendpost um neun Uhr kam. Sie zeigte die Kathedrale von Canterbury. Abgestempelt war sie in Canterbury. Auf der Rückseite stand:
Lobet den Herrn! Heute Morgen habe ich auf dem Marktplatz vor Tausenden das Wort des Herrn verkündet. Ich werde nun einen dieser Ford-Kleinlaster mieten. Sagen Sie Micah, wenn er damit fahren will, muss er mich aus Nächstenliebe begleiten. Ohne Lohn, meine ich. Lobet den Herrn! Schicken Sie meine Flanellhemden. Herzliche Grüße an alle.
A. Starkadder