Der zeitlose, bleierne Tag neigte sich unmerklich dem Abend zu. Nach dem kargen Mittagsmahl wies Judith Adam an, Viper, den bissigen Wallach, vor den Buggy zu spannen und damit sechsmal nach Howling und zurück zu fahren, um seine Kenntnisse in der Kunst des Kutschierens aufzufrischen. Sein Versuch, dieses Ereignis während des kargen Mahls durch einen Anfall abzuwenden, wurde seiner vollen Wirkung leider dadurch beraubt, dass Meriam, die Magd, einen Zusammenbruch erlitt, als sie gerade im Begriff war, Seth eine Schüssel mit Gemüse zu reichen.
Ihre Stunde war weitaus früher gekommen, als man erwartet hatte, und in der sich anschließenden Szene erfolgte Adams Anfall, den er mit Rücksicht auf seine persönliche Sicherheit und Bequemlichkeit im Kuhstall inszeniert hatte, beinahe unbemerkt und allenfalls als eine Art griechischer Chor für das eigentliche Drama.
So verblieb Adam ohne Entschuldigung, und er verbrachte den Nachmittag damit, zwischen Howling und der Farm hin- und herzufahren, was bei den Starkadders Empörung auslöste, die ihn von ihrem Platz neben dem Brunnen beobachten konnten, an dem sie weiterarbeiten sollten; sie hielten ihn für einen arbeitsscheuen, alten Mann und sagten das auch.
»Wie soll ich das kleine Mädchen denn erkennen?«, flehte Adam Judith an, während sie beieinanderstanden und er die seitlich an dem Buggy befestigte Laterne anzündete. Ihre trübe Flamme entfaltete sich langsam unter der weiten, ungerührten Kuppel des sich verfinsternden Himmels und hing schwer, wie ein grüblerisches Totenlicht, in der windstillen Abenddämmerung. »Robert Poste war wie ein junger Stier, ein stämmiger Kerl, spielte ständig mit Schlägern und Bällen. Glauben Sie, seine Tochter wird so sein wie er?«
»In Beershorn gibt es nun wirklich nicht so viele Reisende«, entgegnete Judith ungeduldig. »Warte einfach, bis alle den Bahnhof verlassen haben. Robert Postes Tochter wird die Letzte sein; sie wird warten, um zu sehen, ob jemand sie abholt. Sieh zu, dass du loskommst.« Und sie versetzte dem Wallach einen leichten Schlag auf die Sprunggelenke.
Das große Tier machte einen Satz nach vorn ins Halbdunkel hinein, bevor Adam es zügeln konnte. Sie waren verschwunden. Die Finsternis senkte sich herab wie eine trübe Glocke aus dunklem Glas und legte sich über die aufgeweichte Landschaft.
Als der Buggy schließlich Beershorn erreichte, gut sieben Meilen von Howling entfernt, hatte Adam vergessen, weshalb er dorthin gefahren war. Die Zügel lagen zwischen seinen starren Fingern, und sein Gesicht war mit leerem Blick dem dunklen Himmel zugewandt.
Aus den zähen, verflochtenen Schichten seines Unterbewusstseins sickerten die Gedanken in sein dämmriges Bewusstsein: nicht als wesentlicher Bestandteil dieses Bewusstseins, sondern eher als eine undeutliche Ausstrahlung, eine fahle Beigabe des ewig wachen Lebens in den rastlosen Bäumen und Feldern, die ihn umgaben. Unter dem Leintuch der Dunkelheit, die keinen Frieden brachte, lag das Land über Meilen hinweg qualvoll gärend im alljährlichen Wachstum des Frühjahrs; Wurm rieb gegen Wurm und Saatkorn gegen Saatkorn. Farnwedel sprang auf Wurzelgemüse und Feldhase auf Feldhase. Käfer und Taufliege blieben nicht verschont. Die Forellensamen in der schlammigen Mulde unter dem Wehr von Nettle Flitch waren außer sich, und sie hatten allen Grund dazu. Die lang gezogenen Schreie der jagenden Eulen zerrissen die Nacht, scharlachrote Linien vor einem schwarzen Hintergrund. In den Pausen, etwa alle zehn Minuten, paarten sie sich. Es wirkte chaotisch, aber es war etwas methodischer arrangiert, als man vermutet hätte. Doch Adams Taubheit und Blindheit rührten von innen her und von außen; eine irdische Stille drang aus seinem Unterbewusstsein empor und traf auf die sich neigende Stille seines Bewusstseins. Zweimal wurde der Buggy von einem vorbeikommenden Farmarbeiter aus der Hecke gezogen, und einmal sägte er um ein Haar den Pastor um, der vom Tee im Herrenhaus nach Hause zurückkehrte.
»Wo bist du, mein Vöglein?« Adams blinde Lippen fragten die stumme Dunkelheit und die ungeschlachten Gestalten der Bäume, die noch nicht ausgeschlagen hatten. »Hab ich dich dafür als kleines Bündel auf dem Schoß gewiegt?«
Er wusste, dass Elfine draußen auf den Downs war und auf ihren wackligen Fohlenbeinchen aufs Herrenhaus zuhielt, auf die fröhlichen, sardonischen Hände von Richard Hawk-Monitor. Adams Gedanken, von einem seltsam beklemmenden Schmerz erfüllt, spielten unruhig mit dem Bild seines Schoßkindes zwischen jenen beiläufigen Fingern …
Doch schließlich erreichte der Buggy Beershorn, und zwar wohlbehalten: Dort gab es nur eine einzige Straße, und die führte zum Bahnhof.
Gerade als Viper in leichtem Galopp durch den Eingang in den Schalterraum stürmen wollte, zerrte Adam den Wallach hoch auf die Hinterbeine und knotete die Zügel an dem Pfosten neben der Pferdetränke an.
Dann verließen ihn seine Lebensgeister wie einen ausgesaugten Strohhalm. Sein Körper fiel in die jahrtausendealte Pose eines gedankenüberwältigten Mannes. Er war ein Baumstamm, eine Kröte auf einem Stein, eine Schleiereule auf einem Zweig. Alles Menschliche verließ ihn unvermittelt.
Eine Zeit lang grübelte er noch vor sich hin, doch die Zeit gab ihm nichts von sich preis. Sie drehte sich endlos um einen hellen Punkt im Raum und wiederholte die Namen Elfine und Richard Hawk-Monitor. Falls die Zeit verstrich (und das tat sie vermutlich, denn ein Zug fuhr ein, und Reisende stiegen aus und wurden abgeholt), gab es doch keine Zeit für Adam.
Schließlich wurde er durch einen rätselhaften Tumult aufgerüttelt, der sich auf dem Boden des Buggys abzuspielen schien.
Das Stroh, das die letzten fünfundzwanzig Jahre auf dem Boden gelegen hatte, wurde von einem kleinen Fuß, der in einem festen, aber fein geschnittenen Schuh steckte, energisch auf die Straße gekickt. Darüber gab der Schein der Laterne nichts frei außer einer schlanken Fessel und einem grünen Rock, der durch die Bewegung des Beins, das er bedeckte, erheblich aufgewirbelt wurde.
Aus der Dunkelheit über seinem Kopf ließ sich eine Stimme vernehmen: »Wie ekelerregend!«
»He … he«, brummelte Adam und schielte blind in die schummrige Luft jenseits des Laternenschimmers. »Nein, tun Sie das nicht, gute Seele. Dieses Stroh war gut genug für Miss Judiths Hochzeitsreise nach Brighton, und es muss weiter taugen. Stroh oder Spreu, Blatt oder Frucht, so gehen wir alle dahin.«
»Ich nicht, solange ich es verhindern kann«, versicherte ihm die Stimme. »Und ich kann fast alles über Sussex und Cold Comfort glauben, aber nicht, dass Cousine Judith je nach Brighton gefahren ist. Und wie steht’s nun, wollen wir uns auf den Weg machen, wenn Sie mit Ihrem Grübeln fertig sind? Mein Schrankkoffer wird morgen mit dem Speditionswagen auf die Farm gebracht. Nicht, dass es Sie« (fuhr die Stimme in einem etwas herben Tonfall fort) »kümmern würde, nehme ich an, wenn er eine Woche hier unten bliebe und Wurzeln schlüge.«
»Robert Postes Tochter«, murmelte Adam, während er auf das Gesicht starrte, das er nun undeutlich hinter dem Schein der Laterne erkennen konnte. »Und mich hat man hierhergeschickt, um Sie abzuholen, und dabei hab ich Sie doch nie zuvor gesehen.«
»Ich weiß«, sagte Flora.
»Kind, Kind …«, begann Adam, und seine Stimme nahm einen klagenden Ton an.
Doch Flora hatte anderes im Sinn. Sie reizte ihn, indem sie ihn fragte, ob er es vorzöge, Viper von ihr lenken zu lassen, und verletzte seinen männlichen Stolz damit so sehr, dass er die Zügel von dem Pfosten losband und der Wagen sich unverzüglich in Bewegung setzte.
Flora hatte sich ihre Pelzjacke eng um den Hals gelegt, um sich vor der kühlen Luft zu schützen. Das kleine Köfferchen, das ihr Nachthemd und ihre Toilettenartikel enthielt, wiegte sie auf den Knien. Sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können, ihr innig geliebtes Exemplar der Pensées des Abbé Fausse-Maigre im letzten Augenblick noch mit in das Köfferchen zu stecken; ihre anderen Bücher würden morgen mit dem Schrankkoffer kommen, doch sie hatte das Gefühl gehabt, es würde leichter sein, den Starkadders in einer kultivierten und korrekten geistigen Verfassung gegenüberzutreten, wenn sie ihre Pensées (zweifellos das klügste Buch, das je für einen wahrhaft kultivierten Menschen als Leitfaden verfasst wurde) griffbereit hatte.
Das andere, bedeutendere Werk des Abbé, Der höhere gesunde Menschenverstand, welches ihm im Alter von fünfundzwanzig Jahren die Doktorwürde der Pariser Universität eingebracht hatte, befand sich in ihrem Schrankkoffer.
Sie dachte an die Pensées, während der Buggy die Lichter von Beershorn links liegen ließ und die Straße bergan nahm, die zu den unsichtbaren Downs führte. Ihr war ein wenig unbehaglich zumute. Sie fror, und sie fühlte sich schmutzig (auch wenn man es ihr keineswegs ansah) von den Strapazen der Reise. Die Aussicht auf das, was sie auf Cold Comfort vorfinden würde, trug nicht dazu bei, ihre Stimmung aufzuheitern. Sie musste an die Warnung des Abbé denken: »Triff niemals einen Feind am Ende einer Reise, es sei denn, es ist seine Reise«, und sie fand keinen Trost darin.
Adam sprach während der Fahrt kein Wort mit ihr. Aber das war in Ordnung so, denn sie wollte es gar nicht anders; mit ihm konnte sie sich später befassen. Die Fahrt dauerte nicht so lange, wie sie befürchtet hatte, da Viper ein recht gutes Pferd zu sein schien und in einem flotten Tempo lief (Flora nahm an, dass er sich noch nicht sehr lange im Besitz der Starkadders befand), und nach weniger als einer halben Stunde tauchten in der Ferne die Lichter eines Dorfes auf.
»Ist das Howling?«, fragte Flora.
»Ja, Robert Postes Tochter.«
Mehr schien es nicht zu sagen zu geben. Sie kam auf etwas tröstlichere Gedanken und fragte sich, was es mit ihren Rechten auf sich hatte, jenen Rechten, die Cousine Judith in ihrem Brief erwähnt hatte, und wer die Postkarte mit der Anspielung auf eine Generation von Vipern geschrieben hatte, und was es für ein Unrecht gewesen war, das Judiths Mann ihrem Vater, Robert Poste, angetan hatte.
Inzwischen hatte der Buggy Howling hinter sich gelassen und begann, einen Hügel bergan zu fahren.
»Sind wir jetzt bald da?«
»Ja, Robert Postes Tochter.«
Und fünf Minuten später hielt Viper von allein an einem Tor, das Flora in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Adam versetzte ihm einen Peitschenhieb. Er rührte sich nicht vom Fleck.
»Ich glaube, wir sind da«, bemerkte Flora.
»Nein, sagen Sie das nicht.«
»Aber ich sage es trotzdem. Sehen Sie mal – wenn wir hier weiterfahren, stoßen wir mitten in eine Hecke.«
»Ist alles einerlei, Robert Postes Tochter.«
»Für Sie ist das vielleicht in Ordnung und einerlei, aber für mich nicht. Ich werde aussteigen.«
Sie tat es, und dann tastete sie sich langsam durch die Dunkelheit, erhellt allein vom fahlen Licht des winterlichen Sternenhimmels, zwischen Hecken einen schaurig schlammigen Pfad entlang, der für eine Durchfahrt mit dem Buggy zu schmal war.
Adam ließ Viper am Tor zurück und folgte ihr mit der Laterne.
Bald konnten sie die Farmgebäude erkennen, einen Ton dunkler als der Himmel, ein Stück vor sich in der Finsternis, und als Flora und Adam sich langsam näherten, ging plötzlich eine Tür auf, und ein Lichtstrahl fiel hinaus. Adam stieß einen Freudenschrei aus.
»Es ist der Kuhstall! Es ist unsre Nutzlos, die mir die Tür aufmacht!« Und Flora sah, dass er recht hatte; die Stalltür, die eine Laterne erhellte, wurde von der eifrigen Nase einer ausgemergelten Kuh aufgestoßen.
Das sah nicht sehr vielversprechend aus.
Doch im nächsten Augenblick ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen: »Bist du’s, Adam?«, und eine Frau trat aus dem Stall, eine Laterne in der Hand, die sie hoch über den Kopf hielt, um die Ankömmlinge zu mustern. Flora erkannte undeutlich ein übertrieben rotes und voluminöses Tuch um ihre Schultern und eine Fülle von zerzausten Haaren.
»Oh, guten Abend«, rief sie. »Sie müssen meine Cousine Judith sein. Ich freue mich so, Sie kennenzulernen. Wie nett von Ihnen, bei dieser Kälte herauszukommen. Und wie schrecklich nett von Ihnen, mich aufzunehmen. Ist es nicht merkwürdig, dass wir uns noch nie begegnet sind?«
Sie streckte die Hand aus, doch diese wurde nicht sogleich ergriffen. Die Laterne wurde etwas angehoben, während Judith sie mit unverwandtem Blick schweigend ansah. Die Sekunden verstrichen. Flora überlegte, ob ihr Lippenstift vielleicht die falsche Schattierung hatte. Dann fiel ihr ein, dass es für das eingetretene Schweigen und den unverwandten Blick, mit dem ihre Cousine ihr begegnete, einen weniger frivolen Grund gab. Zum ersten Mal sah eine Starkadder ein kultiviertes Wesen.
Doch selbst das konnte man leid werden; und bald wurde Flora es leid. Sie fragte Judith, ob Judith sie für schrecklich unhöflich hielte, wenn sie die restliche Familie an diesem Abend nicht kennenlernte. Ob sie, Flora, vielleicht nur einen Happen auf ihrem Zimmer essen könnte?
»Da ist es aber kalt«, ließ sich Judith schließlich schleppend vernehmen.
»Oh, ein Feuer wird es rasch aufwärmen«, erwiderte Flora mit Bestimmtheit. »Es ist wirklich zu nett von Ihnen, sich so um mich zu kümmern.«
»Meine Söhne, Seth und Reuben« – bei diesen Worten verschluckte sich Judith, schöpfte neu Atem und fuhr dann leiser fort – »meine Söhne warten schon darauf, ihre Cousine kennenzulernen.«
Das klang Flora, in Verbindung mit diesen unheilverkündenden Namen, dann doch zu sehr nach einem Viehmarkt, und so lächelte sie unverbindlich und meinte, das sei sehr nett von ihnen, sie wolle sie jedoch trotzdem erst am nächsten Morgen sehen.
Judiths prächtige Schultern hoben und senkten sich gemächlich zu einem bauschigen Achselzucken, das ihre Brüste erbeben ließ.
»Wie Sie wünschen. Der Kamin raucht vielleicht ein wenig …«
»Das halte ich für nur zu wahrscheinlich«, entgegnete Flora lächelnd. »Aber um all das können wir uns morgen kümmern. Wollen wir nicht hineingehen? Aber erst«, sie öffnete ihre Tasche und entnahm ihr einen Bleistift und riss ein Blatt aus einem kleinen Notizbuch, »will ich, dass Adam dieses Telegramm für mich abschickt.«
Sie bekam ihren Willen. Eine halbe Stunde später saß sie in ihrem Zimmer neben einem rauchenden Feuer und aß nachdenklich zwei weich gekochte Eier. Das war in ihren Augen die sicherste Mahlzeit, die sie sich erbitten konnte; der Speck bei den Starkadders, vor allem wenn Adam ihn briet, würde sich womöglich störend auswirken auf die lange Nachtruhe, die sie sich gönnen wollte und für die sie sich wenig später zurechtzumachen begann.
Sie war wirklich zu müde, um noch viel von ihrer Umgebung wahrzunehmen, und zu gelangweilt. Sie fragte sich, ob es klug von ihr gewesen war, hierherzukommen. Sie dachte über die Länge, den verwahrlosten Eindruck und die verschlungenen Windungen der Korridore nach, über die Judith sie zu ihrem Zimmer gebracht hatte, und sie kam zu dem Schluss, dass, wenn das restliche Haus genauso aussah und Judith und Adam typisch für die restlichen Bewohner waren, eine ausgesprochen langwierige und schwierige Aufgabe vor ihr lag. Doch sie war entschlossen, sich in die Riemen zu werfen, es gab für sie kein Zurück, denn andernfalls würde Mrs Smiling eine ganz bestimmte Miene aufsetzen, die bei einer anderen, altmodischeren Frau bedeutet hätte: »Ich hab’s dir ja gleich gesagt.«
Und tatsächlich las in diesem Augenblick, weit weg am Mouse Place, Mrs Smiling mit einer gewissen Genugtuung ein Telegramm, dessen Inhalt lautete:
»schlimmste befürchtungen bewahrheitet darling seth und reuben ebenfalls bitte gummistiefel schicken.«