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G arrett warf einen Blick auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass es wirklich schon Nachmittag war, bevor er ein Whisky-Cola bestellte. Es gab bestimmte Regeln, an die er sich immer hielt, und nie am Vormittag Alkohol zu trinken war eine davon. Gewiss war Garrett kein Trinker, aber aus irgendeinem Grund hatte ihn die Szene im Büro des Geschäftsführers vorhin negativ beeinträchtigt. Es war nicht die Tatsache, dass er diesen Wichser zum Teufel gejagt hatte. Es ging um das Gefühl, das durch ihn hindurchwälzte, als der Mann Hand an Maria gelegt hatte – und zwar nur, um ihr Schmerz zuzufügen und sie einzuschüchtern.

Am liebsten hätte Garrett ihn an Ort und Stelle dafür getötet.

Den Kerl stattdessen zu feuern war für ihn nur bedingt befriedigend, denn das hätte er sowieso früher oder später getan.

Allerdings war er fest davon ausgegangen, dass er ein oder zwei Tage Zeit haben würde, um einen neuen Geschäftsführer an Bord zu holen. Der Typ war jedoch Gift für das Hotel und musste schleunigst entfernt werden. Doch was sollte er jetzt verflucht nochmal tun? Garrett selbst wusste so wenig über die Hotelbranche, dass er die Leitung nicht übernehmen konnte, nicht einmal vorübergehend. Kaufen und weiterverkaufen für den schnellen Gewinn? Zur Hölle, das beherrschte er mittlerweile so gut, dass er es mit geschlossenen Augen hätte tun können.

Was zum Teufel war nochmal der Grund dafür, dass er dieses Hotel unbedingt behalten wollte? Das Gebäude war okay, wenn auch ein bisschen unscheinbar. Es war anständig gelegen, und mit den richtigen Modernisierungen und einem guten Management stand es außer Frage, dass es eine attraktive Rendite abwerfen würde. Bei anderen Immobilien, die er verkaufte, hatte er allerdings bessere Chancen gehabt. Was hatte ihn also dazu veranlasst, dieses eine Hotel in das Portfolio der Rule Corporation mit aufzunehmen?

Mit dieser Frage im Hinterkopf, nahm er einen Schluck von seinem Longdrink und beobachtete, wie Maria das Restaurant betrat und ihre Augen aufmerksam durch den Raum gleiten ließ. Er bemerkte, dass sie sich nicht nur nach ihm umsah, sondern das gesamte Geschehen und den Betrieb betrachtete. Sie sah alles , was um sie herum passierte. Ihr Blick wanderte zur Bar und weiter zu jedem Angestellten, der gerade dort arbeitete. Es schien, als würde sie sie in ihrem Kopf nacheinander abhaken. Während sie dem einen freundlich zulächelte, blieb ihr Ausdruck beim nächsten verhältnismäßig neutral. In diesem Moment wurde ihm klar, dass das Mädchen wirklich alles sah. Sie hatte den Überblick. Sie kannte die Hotelbranche in- und auswendig, und besonders dieses Hotel wie niemand anderes.

Als sie ihm gegenüber Platz nahm, brachte der Kellner zwei Speisekarten und ein Glas Eistee für Maria, ohne auf ihre Bestellung zu warten. Der junge Mann stellte es vor ihr ab, und sie sagte lächelnd: »Danke, Mario«, bevor sie die Speisekarte zur Seite schob.

»Ich gebe Ihnen etwas Zeit, sich zu entscheiden«, sagte Mario und ging.

Garrett klappte die Speisekarte auf, blickte jedoch nicht nach unten. Er studierte die Frau, die ihm gegenübersaß, und suchte nach Anzeichen von Kummer in ihren Zügen. Zum Glück entdeckte er keine. »Es scheint, als hätten Sie die Situation gut verkraftet«, stellte er fest.

»Sie haben gerade ein Stück Abschaum gefeuert, das es nicht anders verdient hatte. Eigentlich bin ich sogar verdammt zufrieden.«

Er beobachtete sie weiterhin, während sie einen kleinen Schluck ihres Getränks nahm und ihn anschließend zur Seite stellte. Bevor die Stille zwischen ihnen bedrückend wurde, sprach sie: »Hören Sie, wieso tun Sie nicht einfach, was Sie tun müssen, sodass Sie für immer Ihre Ruhe vor mir haben.«

Einen kurzen Moment spürte er etwas wie Betroffenheit. »Raten Sie mir etwa, Sie ebenfalls zu feuern?«

»Es scheint angebracht zu sein.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie gehen lassen möchte?«

»Wollen Sie nicht?«

Er ignorierte ihre Frage und stellte ihr stattdessen eine Gegenfrage: »Wie lange führen Sie diesen Laden schon alleine?«

Verwirrt runzelte sie die Stirn und brach den Blickkontakt ab. Sie schien den Barbereich kurz zu betrachten und wandte sich ihm dann wieder zu. »Ich führe ihn nicht alleine. Es gibt hier eine Menge hart arbeitender Mitarbeiter.«

»Weichen Sie der Frage nicht aus. Ich verlange eine klare Antwort.«

»Sie schürzte ihre Lippen. »Eine lange Zeit schon.«

Als Reaktion hob er eine Augenbraue. »Nennen Sie mir eine Zahl.«

»Drei Jahre.«

Garretts Stirn legte sich verwundert in Falten. »Wie alt sind Sie?«

Sie stieß einen Atemzug aus und rollte mit den Augen, als ob er verrückt wäre. »Diese Frage dürfen Sie mir nicht stellen.«

»Ich könnte in Ihrer Akte nachsehen und auf diese Weise an die Informationen kommen, die ich haben will.«

Sie lächelte schief und schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht, nicht mehr.«

Er spürte, wie sich sein Gemüt bei ihren Worten erhitzte. »Was zum Teufel soll das denn heißen?«

»Sie wissen wirklich nicht viel über diesen Ort, oder?«

»Vorsichtig, Maria«, mahnte er.

Sie schien einen tiefen Atemzug zu nehmen, bevor sie fortfuhr: »Okay, hören Sie, ich arbeite nicht für Sie …«

»Was meinen Sie? Für wen zur Hölle arbeiten Sie denn sonst?«

»Genau genommen arbeite ich für die Verwaltungsgesellschaft aus New Jersey. Zumindest ist das momentan der Fall, da Frau Duncan sie gleich nach dem Tod ihres Mannes damit beauftragt hat. Und dort befindet sich auch meine Akte.«

»Das interessiert mich nicht. Wie alt sind Sie?«

Sie hielt seinen Blick fixiert, während sie langsam den Kopf schüttelte. »Sie verstoßen gegen das Gesetz, wenn Sie mir diese Frage stellen.«

»Haben Sie wirklich ein Problem damit, es mir zu verraten?«

»Wie alt sind Sie?«, fragte sie, anstatt ihm zu antworten.

»Neunundzwanzig«, feuerte er blitzschnell zurück. »Wie alt sind Sie?«, fragte er erneut.

Fünf Sekunden lang starrten sie sich schweigend an. Er sah das Feuer in ihren Augen. »Ich bin fünfundzwanzig.«

»Sie sehen jünger aus.«

»Danke«, schnauzte sie.

Er verengte die Augen. »Das war kein Kompliment. Unreif ist kein Attribut für eine Position wie diese …«

»Von welcher Position reden wir?«

»Das haben Sie noch nicht herausgefunden? Ich führe ein Bewerbungsgespräch mit Ihnen für die Position als Geschäftsführerin. Jetzt gerade

»Ein Bewerbungsgespräch? Ich dachte, Sie wollten mich rausschmeißen.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Ernsthaft? Ihre blonde Freundin …«

»Okay. Lassen Sie uns das direkt einmal klarstellen. Ich habe es Ihnen gestern Abend schon gesagt – und ich wiederhole mich nur sehr ungern –, sie ist nicht meine Freundin. Nicht, dass es Sie etwas angehen würde, wenn sie es wäre.« Er wandte den Blick nicht von ihr ab. »War das der Grund, warum Sie ihr auf den Schlips getreten sind? Sind Sie eifersüchtig?« Scheiße, er musste zugeben, dass ihm dieser Gedanke gefiel.

»Eifersüchtig?«

Er zuckte mit der Schulter und versuchte, nicht zu viel zu verraten. »Nun ja, Sie müssen zugeben, dass das durchaus eine berechtigte Frage ist. Ihre Taten ergeben keinen Sinn. Sie haben es mit einem Arschloch ausgehalten, das, so wie es aussah, den ganzen Tag nichts anderes getan hat, als an seinem Computer zu zocken, während Sie seine Arbeit erledigt haben.«

»Er ist erst hier, seit Herr Duncans Frau beim Gedanken an richtige Arbeit in Panik geriet …«

Garrett fuhr fort, als hätte sie ihn nicht unterbrochen: »Und nachdem der Kauf abgeschlossen war, kam Courtney für ein paar Wochen hierher … und sie ist die netteste und ruhigste Person, die ich kenne. Wieso sollte Sie eine weibliche Angestellte der Rule Corporation also so frustrieren, wenn nicht aus Eifersucht? Sie sollten wissen, dass sie mir erzählt hat, wie Sie versucht haben, die Renovierungsarbeiten zu sabotieren.«

Ihr Tonfall wurde hitzig, während sie ihn mit Verachtung in den Augen ansah … und mit etwas anderem, was sie jedoch nicht preisgeben wollte. »Ich war nicht eifersüchtig«, stieß sie leise hervor und schaute sich um, als ob sie prüfen wollte, ob jemand das Gespräch mithören konnte, bevor sie zu ihm zurücksah. »Und ich habe auch nichts getan, das dem Hotel geschadet hat. Ich würde nie etwas tun, was dem Hotel schadet. Ich habe ihr lediglich ein paar kleine Unannehmlichkeiten beschert, nichts weiter.«

»Warum?«

»Ich war nicht eifersüchtig«, behauptete sie stur und weigerte sich, die Frage zu beantworten.

»Wenn Sie den verdammten Job wollen, will ich eine Antwort, eine sinnvolle Antwort.«

Ihre Züge wurden hart, sie starrte ihn unnachgiebig an. Ihr Blick verfinsterte sich und sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, als sie es schließlich ausspuckte: »Ich mache mir eben nichts aus Vetternwirtschaft. Und ich hatte den Eindruck, als hätte sie den Job nur wegen der Beziehung zu Ihnen bekommen, den Job, den ich verdiene

Sobald dieses Bekenntnis ihre Lippen verlassen hatte, konnte Garrett das pure Lodern des Feuers in ihren Augen sehen. Doch als er das Gesagte verdaut und sich wieder gesammelt hatte, traf ihn ihre Anschuldigung wie ein Schlag in die Magengrube. Vetternwirtschaft? Er wurde der Vetternwirtschaft beschuldigt? Ehrlich gesagt hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht.

Obwohl seine Beziehung zu Courtney nicht die Art Beziehung war, die Maria andeutete, gab es nichtsdestotrotz eine Beziehung zwischen ihnen. Einen Moment lang fühlte er sich deswegen fast schuldig, aber nur fast. Warum sollte er auch? Ihm und seinen Brüdern gehörte das gesamte Unternehmen. Sie konnten einstellen, wen auch immer sie wollten. Also ja, sowohl Erin als auch Courtney hatten sie direkt eingestellt, nachdem die beiden ihren Collegeabschluss in der Tasche hatten. Warum auch nicht? Beide Mädchen waren extrem klug, und sie waren Familienmitglieder, die dem Unternehmen gegenüber ohne Frage immer loyal sein würden, also was zur Hölle …? Es stand ihm und seinen Brüdern frei, zu tun, was immer sie wollten … sie besaßen hundert Prozent der Unternehmensanteile. Es wurde nicht öffentlich gehandelt, es war privat . Und sie konnten private Entscheidungen treffen, wie sie es für richtig hielten.

Doch wenn er es aus Sicht des Mädchens betrachtete, konnte er verstehen, wieso sie die ganze Sache verärgert hatte. Garrett fasste seine Gedanken zusammen und beantwortete ihre Frage nach bestem Wissen und Gewissen … allerdings lediglich zu seiner Zufriedenheit. »Courtney ist nicht meine Freundin – und ich werde das nicht noch einmal sagen –, aber sie ist ein Mitglied meiner Familie. Ich werde mit Ihnen nicht über Vetternwirtschaft diskutieren, also lassen Sie das am besten einfach gut sein.« Er nahm sein Glas in die Hand und trank einen weiteren Schluck, bevor er es etwas zu abrupt wieder abstellte. »Also, Folgendes kann ich Ihnen im Hinblick auf die Position als Geschäftsführerin anbieten: Aus meiner Sicht ist es offensichtlich, dass Sie das Hotel ohnehin bereits führen, also verdienen Sie für Ihre Arbeit auch eine angemessene Bezahlung. Sie können ihn auf Probe haben, bis ich mir sicher bin, dass Sie dem wirklich gewachsen sind …«

Sie unterbrach ihn. »Ich habe einen Abschluss in Hotel- und Restaurantmanagement.«

»Gut zu wissen. Nur fürs Protokoll, ich kann es wirklich nicht leiden, unterbrochen zu werden. Um ehrlich zu sein, gibt es fast nichts, das ich mehr hasse. Sie müssen wirklich lernen, das zu unterlassen, verstanden?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem flachen Lächeln, das keinerlei Freundlichkeit enthielt. »Zur Kenntnis genommen, Herr Rule«, stieß sie in zuckersüßem Ton hervor.

Er starrte sie unbeeindruckt an, doch sie zuckte nicht einmal. Als er ihr das Gehalt nannte – das etwa dreimal so hoch war wie das, was sie momentan verdiente –, wurden ihre Augen deutlich größer.

»Ich darf trotzdem meine Suite behalten und hier direkt vor Ort wohnen?«

»Sie dürfen nicht, Sie müssen. Der Bereitschaftsdienst ist ein Teil des Grundes, weshalb ich bereit bin, Ihnen dieses Angebot zu unterbreiten. Ich werde allerdings noch eine Weile hierbleiben, nur um sicherzugehen, dass der Übergang reibungslos verläuft, okay?« Klar, Rule, das ist ganz bestimmt der Grund, weshalb du hierbleibst .

Sie nickte mit dem Kopf und schien entschlossen.

* * *

»Ich brauche die Akte über die Sanderson-Akquisition.«

Maria blickte von ihrem Computer auf und straffte sofort ihre Miene, als sie Garrett in der Tür stehen sah, die sein Büro von der Außenstation trennte, in der sie gerade arbeitete, und von wo aus sie knappe und ungeduldige Worte bellte.

Du schaffst das. Bleib cool, Maria . Auch wenn der innere Zuspruch durch ihr Gehirn hallte, fiel es ihr schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Mit jedem Tag, verabscheute sie Garrett Rule mehr und mehr. Je öfter sie mit ihm zu tun hatte, desto größer wurde ihre Abneigung gegen ihn und seine arrogante Art, und seinen verdammten Kontrollzwang, den er bei jeder noch so belanglosen Sache hatte. Sie hasste seinen brillanten Intellekt und die Tatsache, dass er immer, wirklich immer recht hatte.

Sie hasste sein Temperament, sein gutes Aussehen, seine pure Selbstgefälligkeit. Sie hasste die Art, wie penibel er sein Privatleben geheim hielt, als wäre es wichtiger, als das von irgendjemand anderem. Sie hasste die Frauen, die zu seltsamen Zeiten im Hotel anriefen und mit ihm sprechen wollten … und noch mehr hasste sie, wie er die Annäherungsversuche der Frauen immer zurückwies, als ob sie ihm vollkommen egal wären … als ob sie unter seiner Würde wären.

Sie hasste die Tatsache, dass sie irgendwie, irgendwann, zu nicht mehr als seiner überqualifizierten Sekretärin geworden war. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit Angelegenheiten der Rule Corporation, und nicht mit Dingen, die das Hotel betrafen. Außerdem hatte sie keine Zeit, ihm wie ein braves Hündchen auf Schritt und Tritt zu folgen. Sie hasste es, so nah mit ihm zusammenarbeiten zu müssen … und sie hasste es, dass sich die verfluchten Schmetterlinge in ihrem Bauch immer weiter vermehrten, je länger sie ihn kannte.

Aber vor allem hasste sie seinen völligen Mangel an Höflichkeit … und die Tatsache, dass er sie ständig ignorierte, als würde sie nicht existieren.

Saftsack.

Sie lächelte süß, als könnte sie sich nichts Schöneres im Leben vorstellen, als ihm zu dienen. »Ja, natürlich. Sie liegt auf Ihrem Schreibtisch«, antwortete sie in demselben ruhigen und beschwichtigenden Tonfall, den sie in den letzten Wochen immer bei ihm angeschlagen hatte … ein Tonfall, den sie heute aus irgendeinem Grund nur mit viel Mühe traf.

Der Blick, mit dem er sie durchbohrte, hätte jede andere Frau abschrecken und erblassen lassen. Doch Maria zuckte nicht einmal mit der Wimper und starrte zurück, während sie auf seine Erwiderung wartete, die sie sich mit Sicherheit gleich anhören durfte.

Er betrachtete sie mit starrem Blick und sagte mit leiser, gedämpfter Stimme: »Ich habe sie dort nicht gesehen.«

»Sie ist dort«, gab sie sanft zurück.

Sein Blick wurde spitz, und eine subtile Spannung schien seine große Gestalt zu erfüllen. »Sie ist nicht dort.«

In dieser Stimme lag wieder diese verdammte Arroganz, die sie so verabscheute. Arschloch . Sie blinzelte zu ihm auf und bemühte sich um einen Ausdruck der Geduld, die sie allerdings in keiner Weise spürte. Dennoch versuchte sie ihr Bestes, es nicht so klingen zu lassen, als würde sie einen Sechsjährigen belehren. »Sie ist im Manila-Folio unter dem roten Briefbeschwerer.« Sie hasste den kristallenen Briefbeschwerer, der eines Tages plötzlich auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Sie hasste die blutroten Linien, die ihn durchzogen. Er war protzig und viel zu zerbrechlich für den täglichen Gebrauch.

Sein Mund verzog sich zu einer harten Linie. »Sie ist nicht unter dem Briefbeschwerer.«

Sie holte tief Luft und klebte ein so breites Lächeln auf ihr Gesicht, dass ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden. Warum würde er bei so einer Sache lügen? Sie wusste ganz genau, wo sie die Mappe hingelegt hatte. Mit vollkommener Selbstbeherrschung schaffte sie es, ihre Stimme neutral zu halten. »Ich habe sie bereits heute Morgen dorthin gelegt, nicht erst vor dreißig Minuten.«

Es war offensichtlich, dass ihm nicht nach einer Diskussion zumute war. Er verlagerte sein Gewicht, und die Muskeln unter seinem Anzug spannten sich an. Seine lässige Haltung verschwand vollständig, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. »Sie müssen sich irren. «

Sie atmete tief durch, stand – ohne ein weiteres Wort zu verlieren – mit einer fließenden Bewegung auf und strich erst einmal den Stoff ihres grauen Rockes glatt. Sie vermied es, Augenkontakt mit ihm aufzunehmen, und ging, den Blick stur auf den Türrahmen gerichtet – in Richtung seines Büros … das Büro, das schon längst ihres hätte sein sollen. Wann zum Teufel wird er zurück nach St. Louis fahren und mich in Ruhe lassen?

Als sie an ihm vorbei und durch die Bürotür gehen wollte, stoppte er ihre Vorwärtsbewegung, indem er seine Hand an ihren Arm legte.

Diese kleine Berührung lähmte sie sofort.

Er hatte sie bisher nie berührt.

Niemals . Es war eine ungeschriebene Regel zwischen ihnen.

Doch nun berührten seine Finger den fleischigen Teil ihres nackten Oberarms, und egal, wie sehr sie sich dagegen wehrte, bei der ersten Berührung seiner schwieligen Finger, versteifte sie sich sofort vor Nervosität, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Als sie seinen männlichen Duft vernahm und sie ein Feuersturm sexueller Hitze traf, die sie mit aller Mühe zu ignorieren versuchte , begannen ihre Beine leicht zu zittern.

Als er nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt stand und auf sie hinunterblickte, erfüllte ein gefährliches Knistern die Luft. Sie versuchte mit aller Macht, unbeeindruckt zu wirken, ließ ihre Augen an ihm auf und ab wandern und sammelte all ihre Selbstbeherrschung, die sie besaß, um abweisend zu wirken, wusste jedoch, dass sie dabei kläglich versagte. Es war unbestreitbar, dass er ziemlich einschüchternd sein konnte, wenn er es wollte. Sein Designeranzug saß wie immer perfekt an seinem großen, kräftigen Körper und verstärkte seine autoritäre Haltung. Seine Augen waren heiß und dunkel, als er in die ihren hinabstarrte. »Bedrückt Sie heute etwas? Hat Ihnen eine Katze heute Morgen in die Cornflakes gepinkelt?«

Ihr Atem stockte. Er war so nah, dass sie die goldenen Schlieren sehen konnte, die sich durch seine Pupillen zogen. »Sie wissen genau, dass ich keine Katze habe.«

»Das war nur eine rhetorische Frage. Mir gefällt Ihre Einstellung nicht, Maria. Sie müssen sie ändern, pronto. Capisce

Maria schürzte ihre Lippen. Halt deine Klappe. Halt einfach deine verdammte Klappe, Maria. Ein Streit mit ihm wird zu nichts Gutem führen. Bald ist er wieder weg, und dann hast du den Job, den du schon immer haben wolltest und musst dich nicht mehr mit ihm rumschlagen … zumindest nicht mehr so oft. Als seine Hand fester zupackte, dann wieder lockerer wurde und dann wieder fester an ihrem Arm pulsierte, nahm sie einen stabilisierenden Atemzug nach dem anderen. Als auch das nicht zu ihrer Beruhigung beitrug, schloss sie für einen Moment die Augen und zählte bis zehn. Sie öffnete sie wieder und sah, wie er sie mit einem erbarmungslosen Ausdruck beobachtete, der vor Vergeltung nur so strotzte.

Jeder Muskel an ihrem Körper spannte sich an. Sie weigerte sich, ihm eine Antwort zu geben, also schwieg sie, und seine Gesichtszüge wurden bedrohlich. Sie konnte regelrecht spüren, wie er langsam seine Selbstbeherrschung verlor. Die primitiven Merkmale, die ihn als Mann so sehr auszeichneten, waren noch nie so offensichtlich gewesen wie jetzt, als er sie in einem unnachgiebigen Griff keine sechs Zentimeter von seinem Oberkörper entfernt hielt. Oh ja. Er war ein Mann wie kein anderer, diese Tatsache war nicht zu übersehen. Sie konnte sich selbst belügen, so viel sie wollte, aber Garrett Rule war durch und durch ein echter, unverfälschter Mann.

Der Blickkontakt blieb ungebrochen. Sein intensiver Blick verengte sich, und die heidnische, dominante Persönlichkeit, die er sonst zu verbergen versuchte, trat in den Vordergrund. Der Atem stockte ihr in der Lunge. Er war gefährlich . Sie wusste das von dem Moment an, als sie ihn das erste Mal traf … verdammt, nein, von dem Moment an, als sie ihn das erste Mal am Telefon hatte.

Jetzt, als eine Welle der Wut ihn zu ergreifen schien, beugte er sich hinunter, bis sein Mund an ihrem Ohr war und er eine Antwort verlangte. »Sie wollen mit mir spielen? Bisher waren Sie nie so leichtsinnig gewesen, sich mit mir anzulegen. Ich warne Sie, jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt, damit anzufangen. Verstehen Sie mich, Maria?«

Maria versuchte, ihm eine besänftigende Bestätigung zukommen zu lassen, während sie um die Beherrschung kämpfte, die sie schließlich verlor.

Herausforderung angenommen, Vollidiot.

Mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand, zog sie sich von ihm zurück und blickte ihn an, wobei sie nicht einmal versuchte, ihren grimmigen Gesichtsausdruck zu verbergen. Bei der glühenden Warnung in seinen Augen, schlug ihr Magen wilde Purzelbäume, doch ein Rückzug war keine Option. Sie hatte etwas zu beweisen.

Denn sie war im Begriff, diesem Mistkerl einen kräftigen Arschtritt zu verpassen, sie würde ihn lehren, in Zukunft nicht mehr auf die Idee zu kommen, sie einschüchtern zu wollen.

Er dachte, er könnte sie mit seiner geballten Männlichkeit unterwerfen? Abwarten … Wie würde der Wichser wohl reagieren, wenn er mit ihrer unverhüllten Weiblichkeit konfrontiert würde? Sie nahm einen stärkenden Atemzug und ließ ihre Gesichtszüge bewusst weicher werden, sodass sogar ihre Augen feucht wurden. Sie neigte den Kopf zur Seite und ließ ihr Haar nach vorne fallen. Sie hatte ihn schon öfter beim Starren auf ihre Haare ertappt, als sie zählen konnte, und nutzte ihre dicken Strähnen nun für sich. Sie hielt seinem Blick unter ihren Wimpern stand, befeuchtete ihre Unterlippe und nahm sie dann zwischen die Zähne. Nicht zu offensichtlich. Nicht zu unschuldig. Genau richtig .

Ein flüchtiger, wilder Blick huschte über seine Züge, und sein Kiefer spannte sich bei ihrer verführerischen Aktion an.

Sie hatte nun all seine Aufmerksamkeit, und sie nutzte sie zu ihrem Vorteil. Sie senkte ihren Blick und schaute für zwei lange Sekunden auf seinen Mund, bevor sie ihn zu der Beule in seiner Hose hinuntergleiten ließ. Da sie das nicht erwartet hatte und es dennoch schaffte, nicht rot zu werden, hob sie ihr Gesicht und ließ ihren Blick mit seinem kollidieren, bevor sie die Bombe mit ihrer künstlichen Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, zündete. »Herr Rule , ich verspreche Ihnen, ich würde es nicht wagen, mit Ihnen zu spielen. Und wenn ich es jemals tun würde, versichere ich Ihnen, würden Sie es wissen

Ihre Worte schienen ihn mit voller Wucht zu treffen und hielten ihn für einen Moment gelähmt. Maria nutzte die Gelegenheit, die sich ihr dadurch bot, ignorierte den Tumult in ihrem Kopf und schob sich an ihm vorbei, um in sein Büro zu gehen.

Als sie sich kurz umsah, entdeckte sie die verlorene Akte unter einem Dokumentenstapel, nicht weit von der Stelle entfernt, wo sie sie ursprünglich abgelegt hatte. Da sie nicht wusste, wer sie dorthin gelegt hatte, und es ihr eigentlich auch egal war, holte sie sie aus dem Stapel hervor und legte sie wieder unter den Briefbeschwerer.

Ohne ihrem Chef – der offensichtlich seinen Rausch abgeschüttelt hatte und ihr in sein Reich gefolgt war – einen weiteren Blick zu schenken, ging sie an ihm vorbei, verließ sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

* * *

Garrett lehnte sich rücklings gegen die Tür und ließ seinen Kopf mit einem dumpfen Knallen nach hinten gegen die Tür fallen.

Sein Blut pulsierte wie wild durch seine Adern, und sein gottverdammter Schwanz war steinhart.

Das. War. Verdammt . Knapp .

Er hatte sie berührt, und sie hatte sich dafür gerächt, indem sie zum ersten Mal, seit er sie traf, ihre weiblichen Reize gegen ihn einsetzte. Und verdammt, sie hatte ihr Ziel erreicht. Dieser Blick in ihren Augen. Die Sanftheit ihrer Stimme. Verdammte Scheiße. Es war schon vorher hart für ihn gewesen, aber jetzt … Scheiße, das würde ihn heimsuchen. In. Jeder. Verfickten. Nacht.

Wie konnte er nur so dumm sein? Er konnte nicht glauben, dass er sie tatsächlich berührt hatte.

Er hatte sie berührt, zum Teufel . Er hatte nach ihr gegriffen, und anstatt sich eine harmlose Stelle wie eine Schulter oder ein Handgelenk auszusuchen, hatte er einfach ihr weiches, weibliches Fleisch berühren müssen. Weil er schon seit einer gefühlten Ewigkeit wissen wollte, wie es sich anfühlte … Verflucht, schon seit immer. Schon bevor er sie überhaupt das erste Mal gesehen hatte. Und seit er in Florida angekommen war, fantasierte er Woche für Woche, Tag für Tag, wie er die Bürotür hinter ihnen schloss und verriegelte, sodass nur sie beide im Raum waren. Wochen vergingen, in denen er ununterbrochen von ihr geträumt hatte. Nicht nur Tagträume, verdammt nein. Er war kein Weichei. Er hätte nie damit aufhören sollen, sich selbst einen runterzuholen – dieser Versuch, sich selbst zu beweisen, dass er die Kontrolle hatte, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Denn dadurch träumte er nun auch die ganze Nacht von ihr. Verfickte Sexträume. Träume, die ihn aus der tiefsten REM-Phase aufwachen ließen und nach denen sein Sperma an den Bettlaken klebte. Träume, die eigentlich hätten befriedigend sein sollen, es aber nicht waren.

Für gewöhnlich schaffte er es, seine Gedanken tagsüber zu kontrollieren. Es war die reinste Folter, aber normalerweise gelang es ihm, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, auf das Unternehmen, das er und seine Brüder von Grund auf aufgebaut hatten. Aber die Nächte … er hatte keine Kontrolle … er dachte unentwegt an sie. Er trank vor dem Schlafengehen sogar ein oder zwei Gläser Whisky, in der Hoffnung, sie aus seinem Kopf zu bekommen.

Es hatte jedoch nie funktioniert, also gab er den Versuch irgendwann auf.

Es war unvermeidbar, wenn er sich nachts hinlegte, würde sie sich in sein Unterbewusstsein schleichen und in seinen Geist und Körper eindringen – ob er es wollte oder nicht. Er würde ihr Gesicht sehen, und er würde hart werden. Wenn er sich ihren nackten Körper vorstellte, wurde er noch härter. Er würde das streitlustige Feuer in ihren Augen sehen, wenn sie den Mund schloss und sich weigerte, den Köder zu schlucken, den er ihr an diesem Tag wieder hingeworfen hatte.

Dann wälzte er sich hin und her und versuchte gar nicht erst, wieder einzuschlafen, sondern ging unter die kalte Dusche. Doch meistens half das auch nicht, und sein Leiden ließ seine Fantasie nur noch mehr ausschweifen. Er würde sich vorstellen, wie sie in der Duschkabine auf die Knie ging. Ja, Maria auf ihren Knien. Er wollte sie unbedingt kniend vor sich haben … ihre Augen nach oben blickend auf seine gerichtet, ihr voller, geröteter Mund offen um seinen Schwanz, ihn tief in sich aufnehmend, ihn kommen lassend, schluckend.

Ja, er wollte sie auf den Knien haben, aber erst, nachdem er sie gefickt hatte, nachdem er sie richtig gefickt hatte … und sie in jeder erdenklichen Stellung kommen ließ.

* * *

Maria machte es sich während des vergangenen Monats zur Gewohnheit, an mindestens vier Tagen der Woche um acht Uhr ins hoteleigene Fitnessstudio zu gehen – wohl wissend, dass Garrett gegen zehn Uhr zum Gewichtheben kommen würde. Sie wollte schon lange weg sein, wenn er kam: Auf keinen Fall wollte sie ihn öfter sehen, als unbedingt notwendig war. Also hatte sie seinen Zeitplan schon in der ersten Woche seiner Ankunft schnell durchschaut.

Es hatte ein bisschen gedauert, ihren Zeitplan an seinen anzupassen, aber das war es ihr mehr als wert, um nicht noch häufiger seinen finsteren Gesichtszügen ausgeliefert zu sein.

Auch an diesem Abend machte sie sich wieder auf den Weg ins Fitnessstudio. Ihre Sporttasche über der Schulter hängend, trat sie in den Serviceaufzug und fuhr nach unten. Sie hasste es, in dem engen Aufzug zu sein, aber da sie nur ein paar Stockwerke nach unten musste, ging es normalerweise ziemlich schnell. An diesem Abend hielt er jedoch aus irgendeinem Grund bereits in der nächsten Etage an. Da sie wusste, dass nur Angestellte den hinteren Aufzug benutzten, verspürte sie in einer vagen Vorahnung eine winzige Aufregung, die sie aber schnell wieder verdrängte. Wie hoch wären die Chancen …?

Die Türen öffneten sich, und ihr Magen sackte in sich zusammen. Offensichtlich gab es gute Chancen … oder schlechte. Wie man es nahm.

Ihr Atem blieb ihr im Hals stecken, als Garrett einen Schritt in den Aufzug machte und direkt vor ihr stehen blieb. Er sah sie eine Sekunde lang an, bevor sich in seinen Gesichtszügen eine Emotion abzeichnete, die sie nicht deuten konnte. Offensichtlich war er genauso überrascht, sie zu sehen. Ein kleiner Schwarm von Schmetterlingen versuchte, in ihrem Bauch abzuheben, aber sie holte tief Luft und verweigerte ihnen die Erlaubnis dazu.

»Hallo«, sagte sie so lässig wie möglich. Plötzlich hatte sie das Gefühl, alle Kraft würde aus ihrem Körper weichen. Sie ließ ihre Sporttasche auf den Boden fallen und trat in die hinterste Ecke zurück, wo sie sich mit beiden Händen am Geländer festhielt.

Er antwortete ihr nur mit einem Nicken und wandte sich dem Bedienfeld zu. Als er keinen Knopf für eine andere Etage drückte und ihr sofort auffiel, wie er gekleidet war, wurde ihr klar, dass er offensichtlich früher als sonst ins Fitnessstudio ging. Verfluchte Kacke!

Die Türen schlossen sich, und der Aufzug bewegte sich nach unten. Und gerade als ihr Verstand zu explodieren drohte, weil sie nach einem Ausweg suchte, um das Fitnessstudio nicht in seiner Anwesenheit benutzen zu müssen, hob er seine Hand und schlug mit einer Kraft auf einen Knopf am Bedienfeld, die sie zusammenzucken ließ.

Der Aufzug kam zwischen den Etagen ruckartig zum Stillstand.