9

M aria hatte es aufgegeben, weiter darüber mit ihm zu diskutieren oder sich weiter darüber aufzuregen. Sie ging in ihr Zimmer, zog das umstrittene Kleid aus und schlüpfte in eine Jeans und ein Hemd. Ihre Übernachtungstasche war in weniger als zehn Minuten gepackt, sodass sie den Rest der ihr zustehenden Zeit damit verbrachte, mit Beth alle wichtigen Details zur Leitung des Hotels durchzugehen. In weiser Voraussicht bereitete Maria Beth zum Glück schon seit etwa einer Woche auf diesen Fall vor. Irgendwie hatte sie so eine Ahnung gehabt.

Es dauerte etwa fünfundvierzig intensive Minuten mit Beth, bis sie alles Wichtige noch einmal mit ihr durchgegangen war, und jetzt, als Maria in der ersten Klasse neben Garrett saß, konnte sie endlich die Sorgen um das Hotel hinter sich lassen und fragte sich, warum zum Teufel sie überhaupt neben ihm saß, in einem Flugzeug.

Herrgott.

Sie hatte diesen Gedanken schon einmal gehabt, und sie war sich sicher, dass sie ihn wieder haben würde. Der Typ war ein Verrückter .

Als er jedoch seine Hand über ihren Oberschenkel gleiten ließ und ihr Knie in einer sanften Liebkosung umfasste, schoss ihr ein Kribbeln über den Rücken. Sie schloss die Augen und ließ die Angst, die sie fühlte, verschwinden, indem sie sich nur auf die einzigartige Harmonie konzentrierte, die jedes Mal, wenn er sie berührte, ihr ganzes Wesen zu durchdringen schien.

Bitte, Gott, lass ihn ein Verrückter sein, dem sie vertrauen kann.

* * *

Maria lehnte sich im weichen Ledersitz von Garretts Mercedes S-Klasse zurück, während er eine kurvenreiche Straße hinunterfuhr, die von hohen Bäumen beschattet war und von einer Laufstrecke flankiert wurde. Sie kamen in einer Nachbarschaft in einem Vorort von St. Louis an. Es war ruhig und gehoben. Es hätte nicht weiter von dem entfernt sein können, was sie gewohnt war. »Wohnst du hier?«

»Ja. Die Firma hat das Haus am See als Investition gekauft, und da es keiner sonst nutzen möchte, habe ich beschlossen, dort einzuziehen.«

Maria schaute sich in beide Richtungen um. »Ich sehe keinen See.«

Er nickte mit seinem Kopf nach vorne. »Das wirst du noch. Wir kommen von der anderen Seite, aber wir können uns morgen alles ansehen, wenn du willst.«

»Okay.« Sie stimmte bereitwillig zu, als Garrett eine Kurve fuhr und dann noch eine. Kurz darauf gelangten sie an eine Einfahrt vor einem zweistöckigen Haus, das auf einem Hügel lag.

»Wem gehört das Auto?«, fragte sie und starrte auf das neue Modell einer Limousine amerikanischer Bauart, die in der Einfahrt parkte.

Der fast schon entspannte Blick, der Garretts Züge umspielt hatte, seit sie sich ins Flugzeug gesetzt hatten, verschwand, als er das Auto sah. »Ich weiß es nicht. Das habe ich noch nie gesehen.«

Er hielt neben dem Auto an und beobachtete das Haus. »Es gehört keinem meiner Brüder, die kommen sowieso nie hierher«, murmelte er und schaute zu ihr. »Bleib im Auto sitzen, während ich nachsehe.«

Er ließ den Motor laufen, und während er den Weg hinaufging und durch die Vordertür eintrat, drückte Maria den Knopf an ihrer Tür, um ihr Fenster um etwa einen Zentimeter zu öffnen und sich so die Möglichkeit zu verschaffen, wenigstens hören zu können, was vor sich ging.

Etwa sechzig Sekunden später kam Garrett wieder aus dem Haus zurück und lehnte sich gegen die Motorhaube des Autos, sodass sie einen perfekten Blick auf sein prächtiges Hinterteil hatte, auch wenn nur durch die Kleidung, die er trug. Seine Haltung war lässig, doch er gab ihr keinen Hinweis, dass sie ihren Platz im Fahrzeug verlassen sollte, also blieb sie sitzen.

Ungefähr drei Minuten später kamen ein Mann und eine Frau aus dem Haus, das Gesicht des Mannes in wütenden Linien verzogen, die Maria sofort erkannte, denn sie hatte den gleichen Ausdruck schon öfter auf Garretts Zügen gesehen, als sie zählen konnte. Dieser Typ sah genauso aus wie Garrett, wenn auch älter, und obwohl er gesagt hatte, dass das Auto nicht einem seiner Brüder gehörte, gab es für Maria keinen Zweifel daran, dass dieser Mann einer von den Rule-Männern war .

Maria studierte die Frau, die der andere Mann in einem Todesgriff an seiner Seite festhielt. Sie hatte eine so tiefschwarze Haarfarbe, dass Maria sofort wusste, dass die Haare dieser Frau gefärbt waren. Zudem trug sie ein Make-up, wie es nur diese Grufti-Mädchen trugen. Es spielte jedoch keine Rolle – das Mädchen war trotz ihres extravaganten Erscheinungsbilds zart und schön. Selbst aus dieser Entfernung konnte Maria sehen, dass die andere Frau unter dem Make-up blass war und leicht zitterte. Es kam ihr in den Sinn, dass das kultivierte und selbstbewusste Aussehen der anderen Frau vielleicht eine Art Tarnung war, fast wie eine Täuschung oder Verkleidung, die dieses Mädchen der Welt präsentierte.

Als das Paar auf der Auffahrt zum Stehen kam, starrte der Mann Garrett an, der immer noch am Auto lehnte, und schnauzte die Frau an: »Steig ins Auto, Angie.«

Maria hörte das gedämpfte Doppelklicken des Verriegelungsmechanismus des anderen Wagens. Das Mädchen hielt ihren vollkommen gleichgültigen Gesichtsausdruck, die Wirbelsäule aufrecht und das Kinn hoch, als sie zur Beifahrerseite des Wagens ging, einstieg und dann die Tür schloss.

Die beiden Männer begannen sofort, zu streiten, und Maria war schuldbewusst froh, dass sie den Einfall gehabt hatte, das Fenster einen Spalt zu öffnen.

»Was zum Teufel, Garrett …?«, schrie der andere Mann fast.

Man musste Garrett zugutehalten, dass er nicht auch ausrastete, aber Maria bemerkte, wie sich seine Wirbelsäule versteifte, als ob er sich auf etwas vorbereitete. »Was?«

»Du solltest doch in Florida sein«, warf der Bruder ein.

»Ich glaube, ich kann selbst bestimmen, an welchem Ort ich gerade sein will und muss«, schoss Garrett mit tödlich kalter Stimme zurück.

»Du hättest anrufen sollen.«

Die Kälte in Garretts Stimme wurde im Nu zu Feuer. »Ernsthaft? Du bist nicht mein gottverdammter Boss, und es ist mein verdammtes Haus.«

»Es ist Eigentum der Rule Corporation.«

»Das ist blödsinnige Semantik. Ich habe es gefunden. Ich habe den Deal abgeschlossen. Ich wohne hier. Du hast dich von Anfang an nicht um das Haus geschert. Du willst es aus dem Portfolio des Unternehmens streichen? Gut, dann stelle ich einen Scheck aus.«

Der Mund des Bruders verengte sich zu einer harten Linie, seine Augen wurden zu wütenden Schlitzen, als Garrett weitersprach. »Wenn jemand hätte anrufen sollen, dann du – du bist nur sauer, weil du mit einer deiner Frauen auf frischer Tat ertappt wurdest …«

Maria bäumte sich auf, als der Bruder sich auf Garrett stürzte, der sich aufrichtete und auswich. Dann wurden die beiden Männer totenstill. Sie starrten sich einfach nur an. Das Übermaß an Testosteron wäre im Begriff gewesen, eine Lunte anzuzünden, die jede verbleibende Möglichkeit einer friedlichen Lösung hätte zunichtemachen können.

Marias Nerven spitzten sich zu, als sie zu dem anderen Auto hinüberblickte. Die Frau, Angie, starrte auf die Szene, die sich vor ihnen abspielte, und jede restliche Farbe in ihrem Gesicht war längst verschwunden. Sie blickte von den Männern weg zu Maria, sodass sich ihre Blicke trafen und hielten. Das Mädchen schien noch aufgebrachter zu sein, als Maria sich fühlte. Sie lächelten sich nicht an. In der bedrohlichen Szene, die sich vor ihnen abspielte, war kein Platz für Höflichkeiten. Doch Maria hatte das Gefühl, als ob sie eine Art stille Kommunikation teilten, und sie fragte sich, ob das andere Mädchen Garretts grobe Bemerkung gehört hatte und sie das verletzt hatte.

Als Maria wieder wegschaute, hatten die beiden Männer voneinander Abstand genommen. Der Bruder stieg in sein Auto ein, und Garrett stand mit verschränkten Armen in der Einfahrt, bis das andere Fahrzeug weggefahren und außer Sichtweite war.

Dann stieg er wieder ins Auto und drückte einen Knopf am Armaturenbrett, der das Garagentor öffnete. Er fuhr leise hinein und stellte den Motor ab.

»Das war also einer deiner Brüder?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen.

»Ja.« Nach der knappen Antwort stieg er aus dem Auto aus, kam an ihre Seite und hielt ihr die Tür auf.

»Ich schätze, er hat sich ein neues Auto gekauft?«, fragte sie und rutschte aus dem Fahrzeug.

»Er sagte, es sei nur ein Mietwagen … seines ist in der Werkstatt.« Garrett öffnete den Kofferraum und nahm ihre Taschen heraus.

»Hast du ihn wirklich auf frischer Tat ertappt?«

Garrett verkniff sich ein Lachen, als sie das Haus betraten. »Nein, aber es war verdammt knapp. Die Bluse des Mädchens hatte er bereits aufgeknöpft.«

»Das ist dann nicht ganz so schlimm«, sagte sie, auch wenn sie für die andere Frau zusammenzuckte. Es hätte viel schlimmer sein können.

»Ach ja? Sag ihm das mal. Man hätte meinen können, ich hätte seine jungfräuliche Braut splitternackt auf seinem Bett gesehen, und nicht nur einen winzigen Blick des BHs einer x-beliebigen Frau erhascht.«

»Vielleicht ist er deshalb so wütend geworden. Nicht, weil du ihn beinahe bei frischer Tat ertappt hättest, wie du sagtest, sondern weil sie nicht nur eine x-beliebige Frau ist«, sagte Maria und blickte sich in ihrer herrlichen Umgebung um.

»Glaub mir, wenn es um meinen Bruder geht, sind das alles immer nur x-beliebige Frauen. Er wird sich nicht mit einer Frau niederlassen, zumindest nicht in naher Zukunft. Davon bin ich überzeugt.«

»Er schien ziemlich aufgebracht zu sein.«

Garrett ließ ihre Taschen im Wohnzimmer zu Boden fallen. »Ach ja? Der Mistkerl hätte erst gar nicht hier sein sollen. Er hat sowohl eine Eigentumswohnung in der Stadt als auch ein Haus in einem Vorort. Warum er das Bedürfnis hatte, sie hierherzubringen, ist mir schleierhaft. Ich werde die verdammten Schlösser austauschen.«

Gerade als die Worte seine Lippen verlassen hatten, blieben sie vor einem riesigen Fenster stehen, und Marias Herz hörte bei dem malerischen Anblick, der sich ihr bot, beinahe auf zu schlagen. »Vielleicht wollte er sie damit beeindrucken«, sagte sie und neigte den Kopf in Richtung des Sees. »Es ist wunderschön, Garrett.«

»Ja? Ich glaube auch.« Er stellte sich direkt hinter sie, und Maria spürte, wie er seine Arme um ihre Mitte schlang und sie an sich zog. »Ich liebe es hier. Es ist so friedlich. Es ist mein Zuhause, verstehst du?«

In dem Moment, als er das Wort Zuhause in den Mund nahm, tauchte eine Vision des Hotels in ihrem Kopf auf. So dachte sie über das Hotel, verrückt, aber es stimmte. Das Gebäude gehörte ihr nicht, es hatte keine Aussicht wie diese, aber sie fühlte ein Gefühl von Frieden und Zugehörigkeit, wenn sie dort war. »Ja, ich verstehe«, flüsterte sie und blickte hinaus auf das schimmernde Wasser, auf dem die Lichter des Abends in der Strömung tanzten.

Sein Kopf fiel in die Beuge zwischen ihrer Schulter und ihrem Nacken, und mit einem winzigen Kribbeln spürte sie, wie sich seine Zähne in ihr Fleisch bohrten. »Willst du mir verraten, warum du heute Morgen ausgerechnet dieses Kleid angezogen hast?« In seiner Stimme lag ein tiefes Grollen, während seine Lippen über ihre Haut glitten. Seine Worte verursachten ein leicht bedrängendes Gefühl.

»Nein«, flüsterte sie und schloss die Augen, Verwirrung mischte sich mit sexueller Erregung und hielt ihre Sinne gefangen. Wollte er schon wieder damit anfangen? Hatte er jetzt auch noch vor, sie dafür zu bestrafen, dass sie dieses verdammte Kleid getragen hatte, als wäre es nicht genug, sie gegen ihren Willen zu zwingen, durch die halbe USA zu reisen?

»Aaah … Ich werte das als ein Schuldeingeständnis«, sagte er so neutral, dass sie beim besten Willen nicht sagen konnte, ob er wütend war. »Du hast es mit Absicht getan«, beendete er den Satz wissend.

»Ich …«, keuchte sie bei der Verleugnung und wurde unterbrochen, als sich seine Hand nach unten schlängelte und über ihren Schamhügel glitt.

Er hielt sie mit dem Rücken zu sich, indem er einen Arm um ihre Körpermitte legte, während er mit dem anderen ihre Hitze abtastete. »Hat es denn funktioniert?«, fragte er an ihrem Ohr, während er sie streichelte und Wellen der Sehnsucht ihren Rücken hinuntergleiten ließ. »Habe ich dir die Reaktion gegeben, die du erwartet hast?«

Diese Worte klangen definitiv nicht wütend – Maria erkannte die pure Verführung in seiner Stimme, woraufhin ihr Körper mit einem Hitzeschub reagierte, der es schwer machte, bei dem Gespräch zu bleiben. »Ich habe nicht damit gerechnet, heute Abend schon in St. Louis zu sein«, keuchte sie.

»Was hast du erwartet?«, fragte er erneut, als wolle er sie dazu bringen, ihm etwas zu gestehen.

»Ich weiß es nicht«, entschuldigte sie sich.

»Ist das ein Geständnis?« Seine Hand zwischen ihren Schenkeln bewegte sich nicht mehr. Sie umklammerte sie und hielt sie in einem besitzergreifenden Griff. »Du hast das Kleid absichtlich getragen, stimmt’s?«

Maria leckte sich über die Lippen und holte tief Luft, sie fühlte sich, als würde sie gleich von einer Klippe stürzen. »Ja.« Sie spürte, wie ihn bei ihrer Antwort ein Schauer durchlief, fast so, als hätte sie ihn erfreut.

»Warum?«, fragte er eindringlich und wollte, dass sie die ganze Wahrheit zugab.

Sie schluckte, nicht bereit, ihm so viel zu geben. »Ich weiß es nicht.«

Innerhalb eines Herzschlags drehte er sie herum und hob ihr Kinn mit seinen Fingern an. »Warum hast du es getan?«, biss er entschlossen heraus.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie wieder.

»Du weißt es«, forderte er.

Ihr Puls raste, als er auf sie herabstarrte. »Ja … irgendwie … nicht wirklich«, gestand sie in völliger Verwirrung.

»Du wolltest mich eifersüchtig machen«, sagte er, als ob ihm die Idee gefiel.

Sie blieb stumm.

Seine Augen verengten sich. »Alles, was ich will, ist die Wahrheit … du hast versucht, mich eifersüchtig zu machen.«

Sie schüttelte hastig den Kopf. »Nein«, log sie, starrte zu ihm auf und hoffte, dass er die Wahrheit nicht in ihren Augen lesen konnte, obwohl sie wusste, dass er es wahrscheinlich tat. Sie holte tief Luft und ging so weit, wie sie bereit war zu gehen. »Ich habe versucht, deine Aufmerksamkeit zu bekommen«, sagte sie schließlich und hielt seinen Blick fest.

Ein Blick der Freude erhellte seine Augen, obwohl er seinen Ausdruck grimmig hielt. »Hast du noch nicht gemerkt, dass du meine volle Aufmerksamkeit hast?«

Ihr Herzschlag klopfte gegen ihre Brust, ihr Atem stockte, als sie ihn studierte, aber sie blieb still.

Nach dem Puls einer Sekunde, während der sie sich gegenseitig anstarrten, schwang er sie auf seine Arme und lief langsam den Gang entlang. »Ich werde es dir beweisen«, sagte er mit lustvoller Stimme.

Maria schloss die Augen und verbannte jeden anderen Gedanken aus ihrem Kopf, außer den an Garrett Rule.

* * *

»Willst du unseren Standort sehen?«, fragte Garrett am nächsten Morgen beim Kaffee.

»Standort?«, fragte Maria, die noch von der vergangenen Nacht gezeichnet war … und dem Morgen unter der Dusche zusammen.

»Die Hauptverwaltung der Rule Corporation«, erklärte er.

Ein Kribbeln schoss durch sie, weil er sie dorthin bringen wollte. »Das klingt gut. Wann?«

»Wie wäre es jetzt?«

»Okay«, sagte sie mit einem Lächeln.

Fünfundvierzig Minuten später fuhr Garrett in die Tiefgarage des Rule Towers. Maria spürte einen winzigen Anflug von Übelkeit in ihrer Kehle aufsteigen, als sie vorgefahren waren und sie das riesige Gebäude sah. Auf ihre Fragen hin hatte er erklärt, dass ihnen das ganze Gebäude gehörte, und in Marias Kopf begann beinahe alles zu verschwimmen. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr Konglomerat so umfangreich, so lukrativ war. Sie fragte sich, warum er sich ausgerechnet ihr Hotel ausgesucht hatte, wo es doch so viele andere, beeindruckendere und besser gelegene Immobilien in Miami gab.

Als er am Treppeneingang vorbei- und weiterging, fragte er: »Kommst du mit dem Aufzug klar?«

Als seine Finger sich mit ihren kreuzten und sein Daumen sanft über ihre Haut glitt, gab ihr das die Sicherheit, die sie braucht, und sie nickte.

Sie stiegen in den Aufzug, und Maria lenkte sich von dem geschlossenen Raum ab, indem sie sich fragte, welchen Grund Garrett seinen Brüdern dafür nennen würde, dass er sie mitgenommen hatte. Was, wenn sie seine Motive, sie mit nach St. Louis zu nehmen, hinterfragten? Und hatte er ein Motiv, außer dem offensichtlichsten?

Als sich die Fahrstuhltür öffnete, war leider die erste Person, die Maria sah, Courtney Powell, und ein flaues Gefühl in der Magengrube ließ sie zugeben, dass sie sich vor einem Treffen mit der anderen Frau gefürchtet hatte. Es stand außer Frage, dass Maria nicht gerade freundlich zu Courtney gewesen war, nachdem Garrett das Hotel gekauft und die andere Frau geschickt hatte, um die Renovierungsarbeiten zu überwachen. Zum einen war sie auf die kompetente Blondine neidisch gewesen, wegen des Jobs, den sie im Hotel übernommen hatte, als auch eifersüchtig, weil sie dachte, Courtney sei Garretts feste Freundin – und sie fühlte sich schlecht deswegen. Das tat sie wirklich, aber zur Hölle, sie war nur ein Mensch – sie war nicht perfekt.

Courtney stand mit einer Tasse Kaffee und einem Aktenordner unter ihrem Arm da und sprach mit einer Empfangsdame in dem großen offenen Bereich direkt gegenüber den Aufzügen. Als die andere Frau aufblickte und Garrett erkannte, sah Maria ein Grinsen über ihr Gesicht huschen. Doch das war genauso schnell wieder weg, als sie Maria neben ihm stehen sah.

Da sie keine andere Wahl hatte, als Garrett zu folgen, lief Maria neben ihm her, als er auf Courtney zuging und sie umarmte. »Wie laufen die Geschäfte?«, fragte er sie.

»Gut. Die Übernahme in Houston ist geregelt.« Maria beobachtete, wie Courtney Garrett diese Zusicherung machte, und dann sah die andere Frau zu ihr. »Hallo«, sagte sie mit offensichtlicher Zurückhaltung in der Stimme.

»Hallo«, antwortete Maria neutral und versuchte, nicht unbeholfen zu klingen. Warum hatte sie sich gegenüber dieser Frau nur so zickig verhalten? Eifersucht war eine Schlampe, die zu ihr zurückkam, um ihr mächtig in den Hintern zu beißen.

Garrett musste die Spannung in der Luft gespürt haben, denn er zuckte zusammen und streckte dann seine Hand aus, um Maria aus dem Empfangsbereich zu führen. »Lass uns ein bisschen plaudern, ja? Gehen wir in dein Büro«, wies er an.

»In Ordnung«, stimmte Courtney freundlich zu, während sie auf dem Absatz kehrtmachte und auf ein großes Büro drei Türen weiter zusteuerte.

Eine Frau mittleren Alters saß vor dem Eingang, und Maria beobachtete, wie Courtney neben dem Schreibtisch der Sekretärin stehen blieb und ihnen mit einer Hand signalisierte, schon einmal in ihr Büro zu gehen. In diesem Moment klingelte Garretts Handy, und als er abnahm, hörte Maria, wie Courtney sich vorbeugte und ihre Sekretärin mit leiser Stimme fragte: »Haben Sie schon etwas von Nick gehört?«

»Ja, Ma’am. Er wurde gestern Abend in letzter Minute aufgehalten, hat Ihnen aber eine Nachricht hinterlassen …«

Mehr hörte Maria nicht von der leisen Erläuterung der Sekretärin, als Garrett ihren Ellenbogen umfasste und andeutete, dass sie nach vorne ins Büro gehen sollte. Er selbst war noch immer in das Telefongespräch verwickelt, das er gerade angenommen hatte.

Wie von Garrett angewiesen, setzte sich Maria auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch, während er auf dem anderen Stuhl Platz nahm. Courtney schloss die Tür, kam um den Schreibtisch herum und setzte sich auf ihren Stuhl. Den Blickkontakt zu Maria schien sie dabei zu vermeiden. Ihre Augen schienen auf Garrett zu kleben, und Maria konnte nicht anders, als von dem bemerkenswert gelassenen Ausdruck auf dem Gesicht der anderen Frau beeindruckt zu sein.

Garrett hob eine Hand, um zu signalisieren, dass es nur noch eine Minute dauern würde, und während sie wartete und dem tiefen, kultivierten Klang seiner Stimme lauschte, wanderten Marias Augen durch das schön eingerichtete Büro. Als sie zu einem gerahmten Bild kam, auf dem ganz eindeutig die Rule-Geschwister zu sehen waren, erkannte Maria ein jüngeres, dunkelhaariges Mädchen, das die Schwester sein musste, einen zweiten Bruder, den sie noch nie gesehen hatte, und Courtney, die unter dem Arm eines Mannes stand, der unbestreitbar derjenige war, den Maria im Haus am See gesehen hatte.

Das Bild musste mehrere Jahre alt sein, und irgendetwas in Courtneys Gesichtsausdruck verursachte ein mulmiges Gefühl in Marias Magen. Hatte die andere Frau Gefühle für diesen Mann? Denselben Mann, den Maria am Abend zuvor mit einer anderen Frau gesehen hatte? Als ihr Blick das Bild verließ und wieder kurz Courtney streifte, überkam Maria ein leichtes Gefühl von Mitleid. Würde sie sie besser kennen, hätte sie sie wahrscheinlich vor dem gewarnt, was sie in der vergangenen Nacht gesehen hatte.

Es waren genug Puzzleteile vorhanden, um Maria Unbehagen zu bereiten … Keine drei Minuten zuvor hatte sie gehört, wie Courtney ihre Sekretärin mit besorgter Stimme, die nur unschwer zu erkennen war, nach Nick fragte, weswegen in Maria etwas, was man nur als Schwesternschaft bezeichnen konnte, aufkam und sein Haupt erhob. Falls Courtney tatsächlich Gefühle für den Mistkerl hatte, den Maria gestern gesehen hatte, wollte sie die andere Frau vor Verletzungen bewahren.

Mit einer abrupten Bewegung stand Garrett auf. »Entschuldigt mich für einen Moment«, sagte er mit verärgerter Stimme, bevor er aus dem Zimmer ging, völlig in sein Telefongespräch vertieft.

Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, schaute Maria wieder zu Courtney. Mit einem offensichtlichen Zögern verließen die Augen des anderen Mädchens die Tür und trafen die von Maria. Eine peinliche Stille pulsierte zwischen ihnen.

Während Maria sich den Kopf darüber zerbrach, was sie sagen sollte, ergriff die andere Frau das Wort. »Gefällt Ihnen St. Louis?«

»Ja, bis jetzt schon. Es ist ganz anders als Florida.«

»Wem sagen Sie das«, sagte die blonde Frau mit einer solchen Sympathie, dass Maria sich darüber wunderte.

»Kennen Sie Florida gut?«, fragte Maria. Soweit sie wusste, war die andere Frau bisher nur etwa drei Wochen in Florida zu Besuch gewesen.

»Ich bin aus Florida, Maria, geboren und aufgewachsen, ich dachte, das wissen Sie«, sagte Courtney.

Maria war sichtlich überrascht. »Nein, das war mir nicht klar.«

»Von der Smaragdküste«, führte die andere Frau weiter aus. »Ich bin in Panama City Beach aufgewachsen und habe dann in Gainesville das College besucht. Ich habe auch eine Menge Zeit in Daytona Beach verbracht. Die Gegend um Miami war allerdings neu für mich«, sagte sie und bezog sich dabei auf ihren Aufenthalt im Hotel.

Maria holte tief Luft und zwang sich zu dem Eingeständnis, dem sie nicht länger aus dem Weg gehen konnte. »Ich nehme an, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung.«

Die andere Frau zuckte mit den Schultern, als ob sie es hinter sich gelassen hätte. »Ich bin sicher, Sie hatten Ihre Gründe. Ich habe es nicht sehr persönlich genommen«, sagte sie.

Maria holte tief Luft und redete weiter. »Meine Gründe waren egoistisch, schätze ich. Ich war neidisch auf Ihren Job in der Firma – na ja, nicht auf diesen Job«, sie legte den Kopf schief und deutete auf das Büro, in dem sie saßen, »Aber auf den Job im Hotel, wissen Sie?« Auf keinen Fall würde sie ihr von der Eifersucht erzählen, die sie empfunden hatte, weil sie dachte, Courtney sei mit Garrett zusammen. Das würde sie nicht tun. Nicht in diesem Leben.

Die andere Frau nickte mit dem Kopf, als ob sie verstanden hätte. »Und nach meinem Verständnis haben Sie diesen Job jetzt.«

»Ja, hab ich«, stimmte Maria zu, während ein weiches Lächeln, das sie nicht kontrollieren konnte, über ihr Gesicht kam.

»Nun, ich bin froh, dass alles für Sie geklappt hat.« Die Frau schien über etwas zu grübeln, und dann sagte sie: »Hören Sie, nur damit Sie es wissen: So sehr ich Florida auch liebe, ich möchte nicht dort sein, also müssen Sie sich keine Sorgen darüber machen, dass ich Ihren Job haben will, niemals. Ich muss hier sein, in St. Louis.«

Bei der Aussage der anderen Frau konnte Maria ihre Besorgnis nicht mehr zurückhalten. Sie wusste, dass sie ihre Worte zurückhalten und sich nicht in das Leben der anderen Frau einmischen sollte. Aber sie hatte mehrere Gründe für ihr Bedürfnis, sie zu warnen. Erstens wusste sie genau, wie es war, sich nicht mehr von einem der Rule-Brüder lösen zu können. Das hatten sie und Courtney offensichtlich gemeinsam. Doch jetzt, wo sie wusste, dass die andere Frau auch ein aus Florida vertriebenes Mädchen war? Maria öffnete ihren Mund, bevor sie zweimal nachdenken konnte. »Kann ich Sie etwas fragen?«

»Ja «, sagte die andere Frau langsam und nahm zweifellos Marias ernsten Ton wahr.

»Mir lastet etwas auf der Seele, was mich eigentlich absolut nichts angeht.«

Das Blut schien aus Courtneys Gesicht zu weichen. »Was denn?«, fragte sie, als wolle sie es nicht wirklich wissen.

Maria stand auf, nahm das Bild vom Regal, kam um den Schreibtisch herum und legte es vor die andere Frau. Sie deutete mit ihrem Finger auf den Mann, der seinen Arm um Courtney legte. »Ist das Nick?«

»Nein, das ist Damian«, sagte Courtney langsam.

Maria ließ den Kopf sinken und stieß ein erleichtertes Lachen aus. »Oh, Gott sei Dank.«

Courtney schenkte ihr ein verwirrtes Lächeln. »Warum? Was ist mit ihm?«

Maria begann zu sprechen, unfähig, die freudige Erleichterung aus ihrer Stimme zu halten: »Sie müssen mir nichts erzählen. Das ist Ihre Sache. Ich bin nur froh, dass der da nicht Nick ist.«

»Warum?«

»Weil ich glaube, dass Sie Gefühle für Nick haben …« Als die Augen der anderen Frau aufflackerten, hob Maria eine Hand und hielt sie davon ab, etwas zu sagen »Hören Sie, es geht mich nichts an. Ich verstehe das. Wir sind keine Freunde oder so, ich bin nur erleichtert, das ist alles. Denn gestern Abend habe ich den da«, sie deutete auf den anderen Bruder, »mit einer Frau gesehen. Als ich hörte, wie Sie Ihre Sekretärin nach Nick fragten, und dann sah, dass der da seinen Arm um Sie gelegt hat, habe ich die beiden verwechselt.«

Courtney musterte sie einen Moment lang, bevor sie leise fragte: »Sie hatten Mitleid mit mir?«

Maria schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Nun, ich bin eine Frau, das ist alles. Und als ich wusste, dass der da …«

»Damian?«, unterbrach Courtney.

»Ja, als ich wusste, dass Damian letzte Nacht mit diesem Grufti-Mädchen zusammen war …«

Courtney unterbrach sie mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck: »Damian war mit einem Grufti-Mädchen zusammen? Ernsthaft?«

»Ja«, antwortete Maria langsam und fragte sich, was sie gesagt hatte.

»War ihr Name Angie?«, fragte Courtney.

»Ja.«

»Niemals . Er hat sich nochmal mit ihr getroffen?«

»Sie haben sie schon kennengelernt?«, fragte Maria.

»Ja, ich habe sie auf einer Party kennengelernt. Er schien ihr gegenüber wirklich besitzergreifend zu sein, was total schockierend war, denn Damian hat einen Ruf, wissen Sie? Für ihn geht es eigentlich immer nur um Verführen und Verschwinden . Die Party ist Wochen her – ich kann nicht glauben, dass sie sich immer noch treffen.«

»Garrett sagte zu Damian, sie sei eine seiner ‚x-beliebigen Frauen‘. Das Mädchen muss das gehört haben, und ich kann Ihnen versichern, sie sah darüber nicht sehr glücklich aus. Ich sagte Garrett bereits, dass das für mich nicht so aussah. Wir wurden einander nicht vorgestellt, aber sie waren im Haus am See, als wir ankamen, und Garrett war darüber nicht sehr erfreut, und der da …«

»Damian?«, fragte Courtney mit einem Lächeln, als Maria Damian zum vierten Mal als der da bezeichnete.

»Ja, Damian war wirklich sauer – auf Garrett «, erzählte Maria der anderen Frau.

»Aber es ist Garretts Haus«, sagte Courtney verwirrt.

Maria zuckte mit den Schultern. »Das hat man mir auch gesagt.«

Courtney schwieg einen Moment lang und starrte sie an, als würde sie über etwas nachdenken, und Maria fühlte sich langsam etwas unwohl, bis die andere Frau fragte: »Garrett hat sie wohl ziemlich gern, was?«

Sowohl Verlegenheit als auch ein Kribbeln ging durch Marias Mark. »Nein! Ich glaube nicht, ich meine, nein … warum sagen Sie das?«

Courtney konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Kommen Sie schon, Maria. Glauben Sie, er behält jedes Hotel, das er kauft? Normalerweise verkauft er sie so schnell wieder, dass einem der Kopf schwirrt. Aber Ihres hat er nicht verkauft, oder? Warum hat er es behalten?« Die andere Frau schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Und Sie sind jetzt mit ihm hier.«

»Glauben Sie das? Sie glauben, er hat Gefühle … für mich?«

Courtney schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Ich kenne ihn schon sehr lange. Er schleppt normalerweise keine Frauen mit sich herum, niemals

Die beiden Frauen sahen sich an, während Maria diese Erkenntnis verdaute. Bevor sie eine Antwort formulieren konnte, öffnete sich die Tür, und Garrett kam wieder herein. Als er die Tür schloss und sich setzte, fiel eine plötzliche Stille über den Raum.

Ein paar Sekunden lang herrschte eine unangenehme Stille, bevor Garrett das Wort ergriff. »Also bitte. Ihr zwei müsst den Scheiß klären, bevor sich das noch ewig hinzieht. Die Feindseligkeit zwischen euch beiden ist …«

Maria hielt den Blick auf ihre im Schoß gefalteten Hände gerichtet, bis Courtney ihn unterbrach: »Das haben wir gerade geklärt, Garrett.«

Maria hob ihren Blick zu Courtney, die Garrett anlächelte. Dann wandte sich die andere Frau zur Bestätigung an sie. »Nicht wahr, Maria?«

Maria fühlte eine große Erleichterung über die Großzügigkeit der anderen Frau und ein Hauch von Glück umspielte ihr Herz. »Ja, wir haben das geklärt«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln.

* * *

Garrett führte Maria durch das Gebäude, und sie konnte nicht anders als beeindruckt zu sein. Das Dekor war sowohl elegant als auch zurückhaltend, vermittelte aber irgendwie eine Wärme und Vitalität, die das Gebäude lebendig werden ließ. Als sie sich in Richtung Garretts Büro wandten, erhaschte Maria einen Blick auf eine junge, dunkelhaarige Frau, die gerade aus Richtung der Aufzüge kam, einen Kaffeebecher zum Mitnehmen und eine Designer-Handtasche trug. Sie sah aus wie das Mädchen auf dem Bild in Courtneys Büro.

»Hey«, hörte Maria sie rufen.

Garrett blieb stehen und drehte sich um, seine Lippen verzogen sich vor Vergnügen, als das Mädchen auf sie zuschlenderte. »Was geht , großer Bruder?«

»Nada , kleine Schwester.«

Die beiden Geschwister lächelten und umarmten sich, wobei das Mädchen ihre Kaffeetasse an die Seite hielt. Als sie sich trennten, schaute die Frau Maria mit einem leichten Stirnrunzeln fragend an und wandte sich dann mit hochgezogenen Augenbrauen wieder ihrem Bruder zu.

Maria beobachtete, wie Garrett sich ein Lachen verkneifen musste, und als er hinter sie rutschte und seine Hände mit purer Besessenheit auf ihre Schultern legte, konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht mehr sehen. »Erin, das ist Maria. Maria, meine Schwester, Erin.«

»Sie sind die Zicke?«, fragte Erin etwas fassungslos. »Sie sehen nicht aus wie eine Zicke.«

Maria zuckte zusammen, als Garrett ihre Schultern drückte. »Sie ist keine Zicke. Wirst du jemals lernen, deinen Mund zu kontrollieren?«, fragte er in einem Tonfall, der einen Hauch von Missbilligung gegenüber seiner Schwester enthielt.

Maria lächelte, holte tief Luft und versuchte, die Situation zu entschärfen, falls sie überhaupt entschärft werden musste. »Na ja, ich kann schon ziemlich zickig sein.«

Bei dieser unerwarteten Antwort bildete sich ein breites Lächeln auf Erins Gesicht, wodurch sie noch hübscher wurde, als sie ohnehin schon war. »Dann werde ich mich wohl hüten, Sie zu verärgern.«

Für Maria waren die frechen Sprüche dieser Frau eine angenehme Überraschung. »Das wäre vielleicht das Beste.«

Erin lächelte immer noch, während sie sich wieder ihrem Bruder zuwandte. »Wie lange bist du schon zurück?«

»Seit letzter Nacht«, antwortete er.

Seine Schwester verengte ihre Augen auf ihn. »Hast du Mom schon gesehen?«

Maria spürte, wie Garrett zusammenzuckte. »Nein, und das werde ich wahrscheinlich auch nicht.«

»Das ist nicht nett, Garrett«, sagte das Mädchen tadelnd und fuhr dann leicht theatralisch fort: »Du weißt, dass sie sich nach ihrem jüngsten Sohn sehnt.«

»Sie muss endlich wieder leben«, sagte Garrett scharf, aber nicht zu unfreundlich.

Seine Schwester hob eine verruchte Augenbraue. »Hast du es noch nicht gehört? Sie scheint jetzt wieder zu leben … oder plant zumindest, es wieder zu tun.«

»Was zum Teufel soll das bedeuten?«, biss Garrett heraus.

»Sie will wieder anfangen, sich zu verabreden.«

»Blödsinn«, stieß Garrett hervor, als hätte er ein Mitspracherecht in dieser Angelegenheit. Das Geräusch hallte durch den Flur und Maria blickte sich um und sah mehrere Gesichter, die sie beobachteten.

»Es ist wahr«, verkündete Erin.

»Das ist der lächerlichste Scheiß, den ich je gehört habe.«

»Warum?«, fragte Erin.

»Weil sie alt ist …«

»Sie ist nicht alt , Garrett. Sie ist vierundfünfzig. Dad ist jetzt schon seit Jahren weg. Was genau meintest du, als du sagtest, ‚sie muss endlich wieder leben‘? Denkst du, sie sollte Kreuzworträtsel lösen oder versuchen, auf dem Appalachian Trail zu wandern? Wahrscheinlich könnte sie das, weißt du? Sie ist verdammt fit. Ich für meinen Teil denke, sie sollte wieder jemanden finden. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, kann sie es schaffen …« Erin schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«

Während Garrett fast unausstehlich leise bezüglich dieses Themas wurde, richtete Erin ihren Blick schräg auf Maria. »Was denkst du?«

»Ich?« Maria schluckte, denn eigentlich wollte sie sich in dieses Thema nicht einmischen. »Ich habe Ihre Mutter zwar noch nicht kennengelernt … bin aber sicher, dass sie Glück verdient.«

Erins Gesicht leuchtete vor Zufriedenheit, als sie ihren Bruder ansah. »Siehst du? Es ist mir scheißegal, was du, Damian und Nick denken …«

Garrett unterbrach seine Schwester mitten im Satz. »Ist Damian in seinem Büro?«

»Nein, ich glaube, er ist zum Friseur gegangen«, antwortete Erin verwirrt und runzelte dann die Stirn, um ihrem Bruder ohne Worte mitzuteilen, dass sie wusste, dass er absichtlich das Thema gewechselt hatte.

»Was ist mit Nick?«, fragte er.

»Kalifornien«, antwortete seine Schwester knapp.

»Silicon Valley?«, fragte er.

»Ja – aber ich denke, er wird bald wieder zu Hause sein«, sagte Erin.

»Weiß Courtney das?«, fragte er in einem Tonfall, den Maria nicht einordnen konnte.

»Warum sollte sie das interessieren? Damit sie ihn solange vertritt?«, fragte seine Schwester verwirrt.

»Ach nur so, egal …«

Erin unterbrach ihren Bruder. »Ich weiß nicht, warum du denkst, dass es sie kümmert. Er reißt ihr doch nur ständig wegen irgendetwas den Arsch auf. Kein Wunder, dass sie für dich und nicht für ihn arbeiten wollte. Im Ernst, Garrett, sein Verhalten ihr gegenüber wird immer schlimmer, nicht besser. Du solltest mit ihm reden.«

Maria spürte, wie sich Garretts Hände auf ihren Schultern anspannten, bevor er antwortete. »Ich bin sicher … sie kann mit ihm umgehen.« Als Garretts Berührung steif blieb und seine Worte noch steifer wurden, erkannte Maria, dass sie nicht die Einzige war, die herausgefunden hatte, dass es in dieser besonderen Beziehung zwischen Courtney und Nick versteckte Untertöne gab.

»Du kannst so kalt sein«, tadelte seine Schwester mit einer offensichtlichen Enttäuschung in der Stimme. »Ich hätte das von Nick und sicher auch von Damian erwartet, aber ich dachte, du würdest dich in dieser Sache auf Courtneys Seite stellen.«

»In welcher Sache genau?«, biss Garrett hervor, der mit der Richtung, die dieses Gespräch annahm, offensichtlich unzufrieden war.

»Er ist gemein zu ihr!«, schnappte Erin. »Und dafür gibt es keinen Grund. Du bist nie hier. Du hast keine Ahnung, was sie durchmacht, während sie sich sein Verhalten gefallen lassen muss. Das ist Blödsinn, das ist es …«

Maria spürte, wie Garretts Hände sie losließen, als er näher an Erin herantrat. »Du verstehst das wirklich nicht?«, fragte er seine Schwester mit leiser Stimme.

Erins Augen verengten sich in völliger Verwirrung. »Was verstehen

Zwischen den Geschwistern herrschte Schweigen, und Maria hatte keine Schwierigkeiten, die Spannung von Garretts Gesichtsausdruck abzulesen. Sie konnte erkennen, dass er überlegte, wie viel er seiner kleinen Schwester sagen sollte. Sie hielt den Atem an und wartete.

»Egal. Ich werde mit ihm reden, okay? Würde dich das glücklich machen?«, fragte er mit einem resignierten Ton.

Erin atmete aus, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Ja.«

Garrett lächelte und nahm sie wieder in seine Arme. »Ich muss arbeiten«, verkündete er, während er sie umarmte und ihr Haar zerzauste. »Wir sehen uns später, okay?«

»Okay«, sagte sie, während sie sich mit einem Lächeln an Maria wandte. »Schön, Sie kennengelernt zu haben.«

»Ebenso«, stimmte Maria zu, bevor Garrett ihre Hand ergriff und sie wegzog.

Er verschwendete keine Zeit. Er nahm sie mit zu seinem Büro und stellte sie kurz seiner Sekretärin vor. Dann brachte er sie hinein und schloss die Tür. »Tut mir leid, ich war lange weg, ich muss mir das alles hier mal ansehen, okay?«

»Klar.«

»Mach es dir bequem«, sagte er und neigte seinen Kopf in Richtung des Sitzbereichs.

Während Garrett hinter seinem Schreibtisch saß und anfing, in Ordnern zu blättern und sich durch seinen Computer zu klicken, ging Maria umher und setzte sich auf die Couch mit Blick auf die Skyline von St. Louis. In der Ferne konnte sie den Gateway Arch, einen riesigen Torbogen, und dahinter den Mississippi River sehen. Der Himmel war wunderschön blau, und sie musste zugeben, dass die Aussicht von hier oben fesselnd war.

Als sie in die Sofakissen sank, war sie für ein paar Momente in Gedanken versunken, bis sie ihn »Scheiße « murmeln hörte.

Sie schaute von der Skyline weg und konzentrierte sich auf ihn. »Was ist los?«

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, als wäre er jetzt gerne woanders, als hier hinter einem Schreibtisch zu sitzen. »Jeden Tag die gleiche Scheiße.«

Sie schüttelte den Kopf und stieß ein Lachen aus. »Was soll das denn heißen?«

»Entscheidungen … dieses ganze Spiel besteht aus nichts anderem, als aus verdammten Entscheidungen. Wenn du die richtige Entscheidung triffst, verdienst du Geld. Triffst du die falsche – verdienst du keins.«

Maria stand auf, ging zu ihm hinüber und stellte sich neben ihn hinter seinen Schreibtisch. »Was ist so schwierig?«, neckte sie neugierig und ungewohnt, tagsüber so unproduktiv zu sein.

Seine Augen blieben auf dem Computer, auf dem ein Bild einer Hotelfront zu sehen war, aber sein Arm schlängelte sich um sie und zog sie an seine Seite.

Sie lehnte sich an ihn und entspannte sich. »Überlegst du, es zu kaufen?«, fragte sie.

Seine Hand fuhr an ihrer Hüfte auf und ab. »Hmm? Ja«, antwortete er verwirrt.

»Also, was hält dich auf?« Sie beugte sich vor, um einen besseren Blick zu bekommen. »Das Gebäude sieht gut gepflegt aus.«

Seine Hand glitt weiter um sie herum und streichelte ihren Oberschenkel. »Ja, es scheint so zu sein.« Im selben Moment, in dem er zum nächsten Bild klickte, streifte seine Hand zu ihrer Hüfte zurück, und Maria bekam den Eindruck, dass seine Gedanken bei der Arbeit, und sein Körper bei einer ganz anderen Sache waren.

Sie betrachtete das Bild weiter. »Welche Stadt?«

»Raleigh, North Carolina.«

Als er zum nächsten Bild klickte, ließ Maria ihre Hand zu seinem Hinterkopf gleiten und begann abwesend mit seinem dichten, dunklen Haar zu spielen. »Ich bin sicher, du hast bereits die Marktnachfrage für das Gebiet geprüft. Was ist mit dem Wohnimmobilienbereich? Sind die Immobilienwerte gestiegen?«

»Ja. Es ist alles solide.«

»Liegt es in der Nähe einer Autobahn, auf die man schnell auffahren könnte?«, fragte sie und atmete seinen Duft ein.

Seine Hand umklammerte ihre Pobacke. »Ja.«

Sie machte einen Atemzug. »Was ist mit der Konkurrenz? Nicht zu viel?«

»Sehr wenig«, sagte er, und seine Finger griffen wieder zu.

Sie leckte sich über die Lippen und versuchte, beim Thema zu bleiben. »Nun, ich nehme an, die Rule Corporation muss sich in dieser Hinsicht keine Gedanken über Anzahlungen oder Finanzen machen, richtig?«

Er wandte sich ihr zu und hob eine Augenbraue. »Richtig.«

»Also, was ist das Problem?«, fragte sie erneut und bemerkte zum millionsten Mal die goldenen Flecken in seinen Augen.

Er schwenkte seinen Stuhl zu ihr und spreizte seine Beine. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht genau sagen.«

Sein Arm senkte sich um ihre Taille, und ihre Handflächen fielen gegen seine Brust, während sie versuchte, nicht zu lächeln. »Du hast dir die Bewertungen und die Zimmerpreise angeschaut?«

Seine Hand kroch nach oben und umfasste ihre Brust. »Zuerst.«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sein Daumen gegen ihre Brustwarze strich. »Nun, wenn du all deine Hausaufgaben gemacht hast und dich immer noch nicht entscheiden kannst, weißt du, was du zu tun hast, richtig?«

»Was denn?«, fragte er, und sein Blick fiel auf ihre Brüste.

Sein Daumen strich weiter, und sie schluckte zittrig. »Du musst ein paar Tage inkognito einchecken.« Ihre Augen schlossen sich, während ihre Hüften sich zu ihm wiegten. »Teste das Essen, überprüfe das Personal, den Zimmer…«, ihr Atem stockte. »… Zimmerservice.«

Er betastete wieder ihre Brust, während der Arm, den er um ihre Taille gelegt hatte, sich hob und sie näher heranzog. »Du kennst dich aus, oder?«

Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Lippen. »Nur genug, um gefährlich zu sein«, flüsterte sie und lächelte.

Seine Hand verließ ihre Brust und sank in ihr Haar. »Du bist gefährlich«, sagte er mit einem Hauch von etwas Unbestimmbarem in der Stimme. »Willst du mitkommen?«

Ihr Puls beschleunigte sich. »Ist das dein Ernst?«

»Klar. Wir können jederzeit gehen«, antwortete er mit einem Hauch von Zufriedenheit in seinem Ton.

Sie leckte sich über die Lippen und atmete tief ein. »Okay … kann ich dich etwas fragen?«

Seine Augen verengten sich, ein teuflisches Lächeln hob seine Mundwinkel. »Was denn?«

»Kann man die Tür hier abschließen?«

Seine Augen reflektierten Hitze. »Ja.«

»Und kann ich sie abschließen?«, fragte sie leise und hielt den Atem an.