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Trauriger Abschied

Die Schwalbe landete auf der Schulter der Frau. Zum ersten Mal lächelte diese schwach. „Portos, mein treuer Freund“, sagte sie. „Du hast Hilfe geholt.“

„Was ist passiert?“, fragte Elenna.

Das Gesicht der Frau erstarrte vor Angst. „Ich heiße Sana, ich bin Medizinfrau“, flüsterte sie. „Ich war in der Nähe von Stonewin im Gelben Sumpf Kräuter sammeln, als etwas Schreckliches …“ Ihre Stimme erstarb. Sie rieb sich ihre geschwollenen, tränenden Augen.

„Etwas hat dich angegriffen, nicht wahr?“, fragte Tom.

Die Frau räusperte sich. „Eine schreckliche Kreatur. Ich weiß nicht, was es war. Es war schleimig und voller Warzen. Und riesig, größer als drei Männer. Es hat Säure nach mir gespuckt und dann bin ich in das giftige Sumpfwasser gefallen.“

„Lustor!“, riefen Tom und Elenna gleichzeitig.

„Die magische Kugel hatte recht“, dachte Tom. „Das Biest befindet sich in der Nähe von Stonewin und dem Vulkan.“

„Wir müssen uns beeilen!“, drängte Elenna.

„Wir können Sana aber nicht allein zurücklassen“, erwiderte Tom. „Wir bringen dich irgendwo in Sicherheit“, sagte er zu der Medizinfrau. „Deine Wunden müssen versorgt werden.“

„Für meine verletzten Augen gibt es nur ein Heilmittel“, sagte Sana. „Das blaue Tengikraut, welches an den Hängen des Vulkans wächst. Leider habe ich keines mehr. Und euch kann ich nicht bitten, es zu pflücken, das ist einfach zu gefährlich. Wenn wir weiter nach Osten gehen, kommen wir zur nördlichen Hauptstraße. Sie verbindet König Hugos Palast mit den Dörfern im Norden. Dort könnt ihr mich absetzen, dann finde ich den Weg zurück nach Hause allein.“

Tom sah zu Elenna und schüttelte den Kopf.

„Wir können dich nicht zurücklassen“, wiederholte er. „Komm, ich helfe dir auf mein Pferd. Wir finden das Tengikraut für dich.“

Gemeinsam hoben sie die zitternde Frau auf Storms Rücken. Der Hengst hielt ganz still, bis Sana sicher im Sattel saß. Tom führte Storm am Zügel weiter.

„Was ist mit unserer Mission?“, fragte Elenna ihn leise. Sie hielt Pfeil und Bogen bereit, falls die Hyänen zurückkamen.

„Wir müssen eben so schnell vorankommen, wie wir nur können“, antwortete Tom und hielt nach einem neuen Angriff der wilden Tiere Ausschau.

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„Sehr schnell ist das aber nicht“, erwiderte Elenna. Storm musste langsam und vorsichtig gehen, damit die verletzte Frau auf seinem Rücken nicht das Gleichgewicht verlor.

Die Morgendämmerung kroch im Osten langsam über den Horizont. Das dunkle Gras färbte sich silbern. Dann durchzogen pinke und orange Streifen den gesamten Himmel.

Ungeduld quälte Tom. „Eposs ist vielleicht die ganze Zeit in Gefahr“, dachte er. Sobald es hell geworden war, würde Lustor nach dem guten Biest suchen und es angreifen. Tom hoffte, dass der Flammenvogel sich gegen Lustor wehren konnte, bis Elenna und er bei ihm waren.

„Was kannst du uns über den Gelben Sumpf erzählen?“, wandte er sich an die Medizinfrau.

Sana stöhnte leise. „Es ist ein gefährlicher Ort“, murmelte sie. „Überall dampft und blubbert es. Das Gras ist tot. Der Morast ist so dick, dass man fast darauf laufen könnte. Aber Vorsicht! Er wird dich verschlingen und in seine unendlichen Tiefen ziehen! Pferde, Hunde und Kühe sind schon in diesem Sumpf verschwunden und wurden nie wieder gesehen.“

„Wie kann man ihn durchqueren?“, fragte Elenna.

„Pfade aus Trittsteinen führen in verschiedene Richtungen“, erklärte Sana. „Sie beginnen an einem alten Akazienbaum, der durch die Hitze des Vulkans schwarz verkohlt ist. Aber eure Tiere können nicht mit in den Sumpf. Über die Steine zu balancieren, ist für sie zu schwierig.“

„Wir lassen Storm und Silver nicht zurück“, erwiderte Elenna. „Da vorne ist ein Weg.“ Sie deutete auf einen hellen Pfad aus Kies. „Er führt nah am Vulkan vorbei.“

„Die nördliche Hauptstraße“, sagte Sana.

Tom betrachtete die Straße. Elenna und er konnten sie betreten, aber der grobe Kies war nichts für Storms Hufe. Nicht weit davon entfernt stand eine einfache Hütte aus Weidenzweigen. „In der Schäferhütte bist du sicher, dort kannst du auf uns warten“, wandte sich Tom an Sana. „Wir lassen die Tiere bei dir.“

Tom half Sana beim Absteigen und führte sie in die Hütte. Die Tür hing lose in den Angeln und im Inneren lag ein Heuhaufen.

„Darauf kannst du dich ausruhen“, sagte Elenna und half der Medizinfrau auf das weiche Lager.

Als Sana es sich bequem gemacht hatte, legte Silver sich neben sie, um Wache zu halten. „Seid vorsichtig, ihr beiden“, warnte Sana Tom und Elenna. „Dunkle Gefahr lauert. Der Vulkan wird immer unruhiger.“

„Mach dir um uns keine Sorgen. Wir sind bald mit dem Tengikraut zurück, um deine Augen zu heilen“, versprach Elenna.

Tom und Elenna verließen die Hütte. Tom nahm Storm den Sattel ab und warf sich die Satteltasche über die Schulter. Der Hengst sah ihn verwundert an.

„Schon gut“, erklärte Tom. „Wir sind bald zurück.“

Storm senkte den Kopf und knabberte am Gras.

Tom und Elenna gingen so schnell sie konnten Richtung Norden. Staub brannte ihnen in den Augen. Die Luft war von den giftigen Ausdünstungen des Vulkans verpestet und roch nach faulen Eiern. In Toms Nase kitzelte es und er musste niesen. Hoch ragte der Vulkan vor ihnen auf. Er wirkte dunkel und bedrohlich. Eine blasse Rauchwolke quoll aus dem Gipfelkrater.

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Elenna übte, ihren Dreschflegel zu schwingen, und hieb die Pflanzen am Wegesrand um. „Diese Waffe eignet sich gut für den Nahkampf“, stellte sie fest.

„Sicherer ist es, wenn du mit Pfeilen schießt, statt dich einem Feind mit dem Dreschflegel zu nähern“, entgegnete Tom.

Elenna grinste. „Aber dann sahnst du den ganzen Ruhm allein ab!“

Tom grinste zurück, dann suchte er den Himmel nach einem Zeichen des Flammenvogels ab. Der Weg führte dicht am Fuß des Vulkans vorbei. Tom entdeckte eine grob gehauene Treppe im Fels. „Das müssen die Stufen sein, von denen Sana uns erzählt hat. Sie führen zum Krater hoch“, sagte er. Er begann mit dem Aufstieg und Elenna folgte ihm. Kleinere Erdbeben ließen den Berg erzittern, er zuckte wie die Haut eines Pferdes, das Fliegen abschüttelte. Tom fragte sich, ob Lustor für die Unruhe des Vulkans verantwortlich war. Stonewin bekam seit vielen Jahren immer wieder Rauch aus dem Vulkan zu spüren, aber seit Menschengedenken hatte es keinen Ausbruch mehr gegeben. Eposs beschützte das Königreich vor dem unberechenbaren Vulkan. Wenn er sich jetzt für einen Ausbruch bereit machte, bedeutete das wohl, dass Eposs in Gefahr war – oder Schlimmeres.

Toms Magen verknotete sich vor Angst. Eposs musste noch am Leben sein. Sie musste einfach … Tom konnte sich Avantia ohne seine gefiederte Freundin nicht vorstellen. Aber der Vulkan sah so aus, als würde er bald Feuer und Asche spucken und sie alle darunter begraben. Lava würde aus dem Krater strömen und sich wie eine tödliche Welle über die Dörfer in der Nähe ergießen. Tom beeilte sich. Er keuchte in der sengenden Hitze, die der Boden ausstrahlte.

„Wenn der Vulkan ausbricht, sind wir womöglich tot, bevor wir Lustor gefunden haben. Dann wird Malvel siegen“, dachte Tom.

„Wie hoch müssen wir noch klettern, um das Tengikraut zu finden?“, fragte Elenna.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Tom. „Da drüben ist eine Senke, neben der versteinerten Lava. Sana meinte, dass das Tengikraut in solchen kleineren Kratern wachse.“

Er lief über die schwarzen, hart gewordenen Lavasteine, die ihn an verbrannte Brotkruste erinnerten. Manche Steine zerkrümelten unter Toms Stiefeln wie alte, morsche Knochen. Vom Rand des verwitterten Kraters sahen sie Büschel von Pflanzen mit bläulichen, farnähnlichen Blättern, die am Hang wuchsen.

„Das muss das Tengikraut sein!“, rief Elenna erleichtert. „Wir können Sanas Augen heilen.“

Tom nickte und betrachtete die Senke, die wie ein kleiner Krater geformt war. Hunderte dünne Risse durchzogen die Seiten und aus allen dampfte es heiß.

„Kannst du die Satteltasche nehmen? Ich suche einen Weg nach unten“, sagte Tom.

Er reichte Elenna die Tasche, dann tastete er sich langsam und vorsichtig abwärts. Bei jedem Schritt prüfte er mit dem Fuß zuerst den Untergrund, bevor er sein ganzes Gewicht verlagerte. Ein paarmal bewegte sich der Boden und weitere Risse entstanden. Dampf zischte um seine Knöchel und der faulige Geruch wurde stärker. Tief unten konnte Tom das orange Glühen im Inneren des Kraters sehen.

Er kauerte sich hin und streckte den Arm nach einem Tengiblatt aus. Die fedrigen Blätter ließen sich leicht pflücken. Er gab sie an Elenna weiter, die ihm nach unten gefolgt war. Sie steckte die Blätter in die Satteltasche, ohne sie dabei zu zerknicken.

„Noch eins“, sagte sie. „Dann sollten es genu… Tom, pass auf!“

Tom hob den Kopf. Etwas verdeckte die Sonne und ein Schatten fiel auf ihn.

Jemand war mit ihnen auf dem Vulkan.