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Säurebad

Mit beiden Händen hob der Ritter das Schwert über seinen Kopf. Tom spürte, wie sich durch die sengende Hitze, die der Ritter ausstrahlte, Blasen auf seiner Haut bildeten. Doch er zwang sich stehen zu bleiben. Drohend schwebte die Klinge über ihren Köpfen, bereit, sie in zwei Hälften zu zerteilen.

„Jetzt!“, schrie Tom.

Tom und Elenna sprangen in entgegengesetzte Richtungen auseinander. Das Schwert sauste senkrecht herab und durchschnitt zischend die Luft. Die Wucht des Hiebs riss den Ritter nach vorn. Mit dem Kopf voran stürzte er in den Sumpf und giftiges Wasser spritzte auf. Rauch und Dampf stiegen von seinem halb im Schlamm liegenden Körper empor. Es zischte und blubberte in den dunklen Pfützen. Seine schwere Rüstung zog ihn hinab, langsam ging der Ritter unter.

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Tom half Elenna auf die Füße. „War es das mit ihm?“, fragte sie mitgenommen und trat vom Rand des Sumpfes zurück.

„Hoffen wir es“, meinte Tom. „Aber ich glaube eigentlich nicht, dass wir so einfach gewonnen haben. Ich muss unbedingt Fernos Schuppe finden.“ Er ging zu dem Felsbrocken zurück und holte sein Schwert. Seine Hand schmerzte heftig, als er die Klinge in die Schwerthülle steckte. Dann stieg er den Hang hinauf und suchte nach der Drachenschuppe. Sie lag glänzend und unversehrt auf einem glatten Stein. Tom seufzte erleichtert auf und fügte sie wieder in seinen Schild ein. Jeder einzelne Talisman war sehr mächtig und durfte auf keinen Fall verloren gehen. Immer noch etwas atemlos durch den Kampf in der mörderischen Hitze ging er zu Elenna zurück. Er warf einen letzten Blick auf das dunkle Moorwasser. Die Oberfläche lag still und glatt da, als wäre der Sumpf nie von einem ertrinkenden Ritter gestört worden.

Elenna zitterte. „Ich hasse diesen Ort“, stieß sie hervor. „Alles hier ist am Sterben. Verschwinden wir und bringen Sana die Tengiblätter.“

Tom nickte. „Ich will auch wieder bei Storm und Silver sein.“

Er hob den Blick zum Himmel. Blau und klar wölbte er sich über ihnen, nur aus dem Vulkan drang Rauch. „Ich bin froh, dass wir Eposs nicht um Hilfe rufen mussten und sie nicht in Gefahr gebracht haben“, sagte er, während sie sich auf den Rückweg machten. Auf dieser Mission war es das erste Mal, dass sie kein gutes Biest um Hilfe hatten bitten müssen. Trotzdem war Tom angespannt und nervös. „Das fühlt sich nicht richtig an“, dachte er. „Kann ein Ritter von Forton wirklich so leicht besiegt werden?“

Tom erinnerte sich an seine erste Begegnung mit dem Flammenvogel. Eposs hatte ihm geholfen, Avantia vor einem Vulkanausbruch zu bewahren, indem er den Krater mit Felsen verschloss. Der Flammenvogel hatte dabei sein Leben verloren, aber da Eposs ein Phönix war, war sie aus der Asche strahlend wiederauferstanden.

„Sieh doch!“ Elenna hatte ihre Augen mit der Hand abgeschirmt und deutete geradeaus. „Da ist der verkohlte Baum, von dem Sana uns erzählt hat. Wir können nach den Trittsteinen suchen, die von ihm wegführen. Das ist schneller, als zu der Steintreppe zurückzugehen.“

„Gute Idee“, sagte Tom. Die schwarzen Äste des Baums streckten sich über das dampfende Moor. Unter dem Baum lagen moosbedeckte Trittsteine, die in unterschiedliche Richtungen führten.

„Wir müssen vorsichtig sein“, warnte Elenna und betrat den ersten Stein. „Wenn wir ins Wasser fallen, werden wir blind und hilflos wie Sana.“

„Oder wir sterben wie der Rote Ritter“, sagte Tom. Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: „Ich wünschte, die Ritter müssten nicht leiden.“

„Nur so kann der Fluch aufgehoben werden“, wandte Elenna ein.

Seine Freundin hatte recht. So wie die anderen Ritter, die sie besiegt hatten, war auch der Rote Ritter hoffentlich in sein Grab in der Halle der Toten zurückgekehrt. Dort würde ihn Malvels Fluch nie wieder stören.

Tom stemmte seine Füße fest auf die Trittsteine, denn sie waren durch das Moos sehr glitschig. Einmal rutschte er aus und heißes Wasser spülte über seine Fußspitze. Gelber Schaum bedeckte seine Stiefel. Seine Knie kämpften sich durch bleiche Grasbüschel und in seine Nase stieg ein ekelhafter Gestank, der ihn im Hals kratzte. Er hustete und beugte sich vor, dabei rutschten seine Füße ab. Hinter ihm röchelte Elenna.

„Wir können so nicht … wir können so nicht weitergehen“, sagte sie zwischen zwei Hustenkrämpfen. Ihr Gesicht war blass und sie rang nach frischer Luft.

„In der Satteltasche habe ich ein Hemd“, keuchte Tom. „Wir können es zerschneiden.“

Elenna nahm die Tasche von der Schulter und Tom wühlte darin, bis er das Hemd und Elennas Messer herausfischte. Schnell zerteilte er den Leinenstoff in breite Streifen, die sie sich über Mund und Nase banden.

„Das schützt uns wenigstens ein bisschen“, sagte er mit gedämpfter Stimme. Elenna nickte und steckte das Messer wieder in die Tasche. Tom ging voran und Elenna folgte ihm. Sie hatten immer noch Mühe zu atmen, aber wenigstens mussten sie nicht mehr so schlimm husten.

„Das ist besser. Bald sind wir ja auch raus aus dem …“ Tom sprach nicht weiter. Er zog den Fuß von dem Trittstein zurück, auf den er gerade treten wollte. Sein Herz klopfte. Bildete er sich das ein? Hatten die Dämpfe aus dem Sumpf sein Gehirn eingenebelt? Er rieb sich die brennenden Augen und starrte auf den Stein. Er wirkte runder und dunkler als die anderen. Tom bildete sich ein, er hätte sich unter seinem Fuß bewegt.

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Elenna stieß ihn in den Rücken. „Was ist los?“, wollte sie wissen. „Ich will aus dem Sumpf raus.“

„Das ist kein Stein“, murmelte Tom.

Elenna keuchte erschrocken auf. Der Stein bewegte sich tatsächlich. Im Wasser bildeten sich Kreise rund um seinen Rand. Toms Hand zuckte zum Schwertgriff an seiner Hüfte.

Langsam erhob sich etwas aus dem Morast. Es hatte die Gestalt eines Mannes und war mit dunklen Algenbüscheln und schleimigem Moos bedeckt. Rote Flecken waren dort zu sehen, wo das ätzende Wasser des Sumpfes die Haut verbrannt hatte.

„Das ist ein Biest“, sagte Tom.

Höher und höher erhob sich das Biest. Es war dreimal so groß wie der Rote Ritter. Es streckte seinen tropfenden Arm nach Tom aus. Zwischen den Fingern spannten sich Schwimmhäute.

„Lustor“, wisperte Elenna.

Tom wich zurück und packte sein Schwert fester. Der Kopf des Biests beugte sich zu Tom herunter, er war mit Warzen bedeckt wie der Kopf einer Kröte. Die blassen Augen zuckten hin und her. Als Lustor das Maul öffnete, sah Tom schwarze Zahnstummel und einen blutroten Rachen.

Ein übel riechender Dunst breitete sich um Tom aus. Er kämpfte gegen den Brechreiz an. Der Ritter war nicht tot – im Gegenteil, im Wasser hatte er sich in ein Biest verwandelt.

„Er macht sich zum Angriff bereit!“, schrie Elenna.

Tom starrte den Hautsack am Hals des Biests an, der sich plötzlich dehnte. Weiter und weiter blähte er sich auf und wurde dabei beinahe durchsichtig. Im Inneren blubberte eine gelbe Flüssigkeit.

„Säure!“, rief Tom, denn er erinnerte sich an das, was Sana von ihrer Begegnung mit dem Biest erzählt hatte. Er wirbelte herum und flüchtete von Stein zu Stein springend. Elenna lief voraus und suchte nach einem Weg aus dem Sumpf. Tom wagte einen Blick zurück und sah, wie sich der Hautsack entleerte. Säure schoss auf die Freunde zu. Doch die gelbe Flüssigkeit spritzte vor ihnen ins Wasser und ließ das hohe Gras verschrumpeln.

Ein Säurestrahl traf den Stein, auf dem Tom stand. Vor seinen Augen begann der Stein zu schmelzen. Er sprang auf den nächsten.

„Eposs, wir brauchen deine Hilfe!“, dachte Tom. Doch schon im nächsten Augenblick wurde ihm bewusst, dass er seine Freundin nicht in diesen Kampf verwickeln durfte. Lustor würde den Flammenvogel vielleicht mit seiner Säure töten. Dann gäbe es ein Biest weniger, das Avantia vor Malvel beschützte. „Wir kämpfen allein gegen Lustor“, beschloss Tom. „Aber wie sollen wir den Säureangriff überleben?“

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