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Die letzte Chance

Tom blickte sich verzweifelt nach seinem Schwert um. Die Klinge musste doch irgendwo im Morast aufblitzen.

Er sah nichts.

„Hilfe, Tom, Hilfe!“, schrie Elenna. Ihr Rufen ging im Gebrüll des Biests unter. Elenna war sonst immer so zupackend und selbstsicher – es schmerzte Tom, sie nun hilflos zu erleben. Lustors Hals schwoll wieder voller gelber Säure an.

Wusch!

Die Moosfäden, die in dem verkohlten Baum hingen, wurden von einem plötzlichen, kräftigen Windstoß hin und her geweht. Grunzend wandte Lustor seinen Krötenkopf nach oben. Etwas Großes segelte mit hoher Geschwindigkeit vom Himmel herab.

„Eposs!“, rief Tom. Einen Herzschlag später verwandelte sich die Freude über den Anblick seiner alten Freundin in Grauen. Eposs würde bis zum Tod kämpfen, um sie beide zu retten. Wie sollte Tom es mit seinem Gewissen vereinbaren, wenn der Flammenvogel wegen ihm in Gefahr geriet? Avantia brauchte alle guten Biester lebendig.

„Sei vorsichtig!“, warnte Tom. „Lustor speit Säure. Was davon getroffen wird, verbrennt!“

Aber er wusste, dass Eposs ihn nicht verstand. Ihre riesigen Flügel rauschten durch die Luft. Die goldenen Federn glänzten im Licht. Mit ausgestreckten Krallen schwebte der Vogel herab und hob Elenna hoch. Sie baumelte nun über Lustors Kopf, während der Phönix höher in den Himmel stieg.

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Das Biest streckte eine Hand nach Elenna aus, aber sie war schon zu weit oben. Lustor brüllte wütend, weil er seine Beute verloren hatte. Für einen Augenblick sah es so aus, als wäre Elenna gerettet.

„Flieg höher, Eposs!“, dachte Tom. „Pass auf Lustors Zunge auf!“

Elenna strampelte mit den Beinen, aber das Biest war schneller. Die schleimige Zunge peitschte durch die Luft. Mit derselben Kraft, mit der sie zuvor Toms Schwert umklammert hatte, wickelte sich die Zungenspitze um Elennas Knöchel. Elenna trat um sich und schrie. Der Flammenvogel schlug kräftig mit den Flügeln, um sie aus dem Griff des Biests zu befreien. Doch Toms Freundin wurde nur zwischen dem Vogel und dem Biest in die Länge gezogen. Verzweifelt musste Tom von unten zusehen. Zwei seiner treuen Freunde waren in Gefahr und er konnte nichts tun. „Ich bin auf dieser Mission, um Avantia vor Malvel zu schützen, aber ich wollte nie, dass meine Freunde deshalb leiden“, dachte er.

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Elenna griff nach hinten über ihre Schulter und nahm ihren Bogen zur Hand. Mühsam legte sie einen Pfeil auf die Sehne. Irgendwie schaffte sie es. Der Bogen spannte sich.

„Schieß!“, schrie Tom.

Der Pfeil schoss los und die Spitze traf Lustors Zunge. Vor Schmerz brüllend ließ das Biest Elennas Knöchel los. Sofort flog Eposs höher in die Luft. Mit glänzenden goldenen Augen stieß sie einen Triumphschrei aus und kreiste über dem Sumpf.

Doch da dehnte sich der Hautsack des Biests erneut. Ein gelber Strahl schoss in den Himmel empor. Tom stöhnte auf. Die Säure hatte Eposs am Flügel getroffen. Rauch qualmte von den verbrannten Federn auf. Der prächtige Vogel schlug wild mit den Flügeln und hing schief in der Luft. Eposs konnte sich kaum mehr in der Luft halten und Elenna baumelte in ihren Klauen wie eine Puppe.

Der Phönix sank tiefer und tiefer, bis Elennas Füße die Grasspitzen und die Wasseroberfläche berührten.

„Werden die beiden im Sumpf versinken und ertrinken?“, fragte sich Tom entsetzt.

Tom rannte am Ufer entlang. „Komm, Eposs!“, rief er dem kämpfenden Vogel zu. „Du schaffst das!“

Vor Anstrengung hatte Eposs den Schnabel geöffnet und schnaufte. Plötzlich stürzte sie steil nach unten und landete unter dem verkohlten Baum. Der Boden bebte unter dem Gewicht des Phönixes und Federn stoben auf. Elenna rollte sich zur Seite und blieb dann bewegungslos und benommen liegen. Eposs kreischte vor Schmerz und Wut, ihre Krallen bohrten sich ins Gras. Das Feuer auf dem Flügel qualmte und flackerte.

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Tom blickte sich um. Lustor wuchtete gerade seinen massigen Körper aus dem Wasser ans Ufer. Algen und grünen Schleim hinter sich herziehend, ging er auf Toms Freunde zu. Tom rannte. Er wollte zuerst bei ihnen sein. Elenna rappelte sich wacklig auf. Sie hielt sich den Arm, als wäre er verletzt. Auch der Flammenvogel hatte sich erhoben und formte zwischen seinen Klauen einen Feuerball. „Ja!“, dachte Tom voller Hoffnung. „Sie kann sich mit dem Feuerball wehren.“

Der glühende Ball schoss durch die Luft, aber plötzlich platzte er und erstarb. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Ein böser Zauber behinderte die magischen Fähigkeiten des guten Biests.

Tom rannte noch schneller. Solange Blut in seinen Adern floss, würde er das hier zu Ende bringen. Ein zweiter Feuerball entstand zwischen Eposs’ Klauen, aber auch dieser löste sich in Rauch auf. Der Phönix konnte gegen Malvels Zauber nichts ausrichten.

Tom sprintete das letzte Stück. Das Herz schlug ihm gegen die Rippen. „Wo ist die Satteltasche?“, rief er.

Elenna deutete auf eine Stelle in der Nähe, wo die Tasche gelandet war, als sie mit Eposs vom Himmel gestürzt war.

„Wir können uns vor Lustor nicht schützen!“, rief Elenna. „Malvels Magie ist stärker als wir!“

„Keine Angst“, keuchte Tom. „Einer der Gegenstände wird uns helfen.“

Er durchsuchte den Inhalt der Satteltasche. Den Schmerz in seinem verbrannten Arm beachtete er gar nicht. Unter Lustors schweren Schritten bebte der Boden. Sein fauliger Gestank drang Tom in die Nase.

„Tom!“, schrie Elenna in dem Moment, als sich seine Finger um die silberne Scheibe schlossen. Sie musste eine Waffe sein. Der vordere Rand der Scheibe war zu einer rasiermesserscharfen Klinge geschliffen. Die Gedanken rasten durch Toms Kopf. „Ich habe so etwas noch nie benutzt. Ob es gegen Lustor hilft?“ Er umklammerte die Scheibe fester, zog sie aus der Satteltasche und drehte sich zu dem Biest um.

Tom drehte die Scheibe in seiner Hand, bis die scharfe Seite von Lustor weg zeigte. Das Biest war nur noch fünfzig Schritte entfernt. Es brüllte und blies Tom seinen ekelhaften Atem entgegen. In seinem Hals blubberte schon wieder neue Säure.

Tom wog die Scheibe in der Hand und richtete sie zum Wurf aus. „Ich kann sie nur ein einziges Mal werfen“, dachte er. „Wenn ich Lustor verfehle, sind wir alle verloren.“