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Insgeheim hatte sie gehofft, dass er verschwindet, nachdem er sich satt gegessen hat. Stattdessen geht er nun durch ihr Wohnzimmer, nimmt Fotos zur Hand, zieht Schubladen auf und guckt in die Schränke. Bitte sehr, ihretwegen kann er den gesamten Hausrat mitnehmen, solange er nur Anouk und sie in Ruhe lässt.
»Du hast ein schönes Zuhause.«
»Danke.« Wie dämlich das klingt – ganz so, als wäre er ein Bekannter, der einen Höflichkeitsbesuch macht, und kein zwielichtiger Eindringling, aber etwas anderes fällt ihr nicht ein. Nicht provozieren, auf keinen Fall provozieren. In Ruhe abwarten, was er als Nächstes vorhat, und möglichst immer zwischen ihm und Anouk bleiben.
Zum Glück verhält sich Anouk ruhig. Sie hat ihren Plüschaffen fest an sich gedrückt und scheint zu spüren, dass es das Beste ist, sich möglichst unsichtbar zu machen.
»Und schöne Möbel.« Er streicht über ein antikes Schränkchen, sieht kurz hinein und klopft an ein Kristallweinglas. Mit kleinen Schritten geht Lisa rückwärts Richtung Küche und macht Anouk unauffällig ein Zeichen. Aber bevor das Kind vom Sofa rutschen kann, steht der Mann auch schon davor.
Er geht um den Couchtisch herum, den Blick auf das große farbenfrohe Gemälde über dem Sofa gerichtet. Das Bild hat Menno im Jahr ihres Kennenlernens gemalt, und es bedeutet Lisa unsagbar viel.
»Kunst«, sagt der Mann in einem Tonfall, als hätte er eine fliegende Untertasse erspäht.
Soll sie etwas dazu sagen oder lieber schweigen? Weil sie Angst hat, ihr könnte die Stimme versagen, entscheidet sie sich für Letzteres.
Der Mann richtet den Blick auf Anouk. Plötzlich beugt er sich vor und streckt die Hand nach ihr aus. Lisa macht unwillkürlich ein paar Schritte vorwärts, und im gleichen Moment schreit Anouk und beginnt, wild zu strampeln.
Der Mann wird sichtlich wütend. »Hör sofort auf! Ruhe! Aufhören!«
Anouk weint nun leise und läuft auf ihre Mutter zu. Lisa versucht, sie zu beruhigen, obwohl sie selbst weiche Knie hat. Wenn es eine Möglichkeit zur Flucht gibt, dann jetzt!
Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, befreit sie sich ganz vorsichtig aus der Umklammerung ihrer Tochter.
Dann rennt sie los. Mit Anouk an der Hand hastet sie durch die Küche ins Freie, in den Garten. Als sie gerade denkt, es könnte gelingen, wird sie grob an den Haaren gepackt. »Lauf, Anouk! Schnell, zu Frau Rosenfeld!«, schreit sie.
Verunsichert bleibt Anouk stehen. Frau Rosenfeld wohnt ein ganzes Stück weg, normalerweise darf sie sich nicht so weit vom Haus entfernen. Ihr Gesicht ist ein einziges großes Fragezeichen. Sie ist völlig verwirrt, will ihre Mutter auf keinen Fall allein lassen.
»Bleib stehen!«, schreit der Mann.
»Mama!« Anouks Stimme klingt weinerlich.
»Renn, Anouk! So schnell du kannst!«, ruft Lisa, bevor sie in die Küche gezerrt wird.
Anouks Schritte knirschen auf dem Kiesweg.
Im ersten Moment ist Lisa erleichtert, doch dann sieht sie eine Faust auf ihr Gesicht zukommen. Ein Schmerz wie eine Explosion, sie verliert das Gleichgewicht, sackt zusammen. Der Küchenfußboden ist hart, aber dann hüllt sie eine gnädige Finsternis ein.
 
Als Lisa wieder zu sich kommt, liegt sie auf dem Sofa, im Fernsehen laufen gerade die Nachrichten. Leises Jammern dringt an ihr Ohr. »Mama, Mama, wach auf! Deine Nase blutet, Mama!« Mit dem Schlafanzug ärmel wischt Anouk ihrer Mutter das Blut ab.
Keine Stelle ihres Gesichts scheint unverletzt zu sein, trotzdem ist Lisa sofort hellwach. »Wo ist er?«, flüstert sie.
Anouk zeigt zur Küche. »Er hat alle Türen und Fenster zugeschlossen«, sagt sie mit zittriger Stimme. »Und die Messer aus der Küche weggenommen.«
»Die an der Wand?«
»Auch die normalen, zum Essen.«
Leise stöhnend schließt Lisa die Augen. Sieht ganz so aus, als würde der Kerl länger bleiben wollen. Sie müssen dringend hier weg, aber wie soll das gehen, wenn er ihnen alle Fluchtmöglichkeiten genommen hat?
Lisa richtet sich ein wenig auf und sieht ihre Tochter an. »Und oben? War er auch oben?«
»Überall. Er ist die ganze Zeit herumgerannt.«
Offenbar hat er ihre Bewusstlosigkeit sinnvoll genutzt. Kein gutes Zeichen. Wo ist das schnurlose Telefon? Die Aufladestation ist leer.
»Hol mein Handy. Es liegt auf der Kommode.«
Anouks Kopfschütteln macht auch diese Hoffnung zunichte.
»Das hat er eingesteckt. Und das normale Telefon auch.«
Resigniert sinkt Lisa zurück. Sie überlegt fieberhaft: Sie muss die Tatsache nutzen, dass sie, von ihm unbemerkt, wieder zu sich gekommen ist und somit einen neuen Fluchtversuch unternehmen kann.
Die Garage! Wenn sie es schaffen, in die Garage zu kommen, sind sie gerettet. Dort steht ihr Auto, und der Zündschlüssel steckt. In die Garage kommt man durch die Waschküche, und diese Tür lässt sich nicht abschlie ßen. Den Schlüssel hat sie vor längerer Zeit verloren und sie hat sich nie die Mühe gemacht, das Schloss austauschen zu lassen. Wenn der Mann die Küche verlässt, können sie in die Garage schleichen.
»Anouk«, flüstert sie.
Sofort ist das Gesicht ihrer Tochter so nah, dass ihre Nasen sich berühren. »Ja?«, flüstert das Kind.
»Ich tu so, als ob ich bewusstlos bin, dann lässt er uns in Ruhe. Du darfst ihm nicht verraten, dass ich wach bin, ja?«
»Okay«, flüstert Anouk.
»Und wenn er aus der Küche geht, sagst du mir das ganz leise.«
»Ja.«
Lisa macht die Augen zu.
»Mama?«
»Pssst.«
Mucksmäuschenstill sitzt Anouk auf dem Sofa, und Lisa ist gerührt. Ihre liebe, tapfere, große, kleine Tochter! Was für ein Unmensch muss man sein, einem solchen Kind Angst zu machen? Was auch passiert, sie wird um jeden Preis verhindern, dass er Anouk etwas antut, und wenn sie ihm die Augen auskratzen muss.
Schritte auf dem Parkett. Er ist wieder im Wohnzimmer. Ein paar Sekunden ist nichts zu hören, wahrscheinlich beobachtet er sie. Lisa späht durch die Wimpern und erkennt seine Umrisse, mehr aber auch nicht. Keinen Gesichtsausdruck. Was er wohl vorhat? Anouk lehnt sich an ihren Bauch, sie spürt die vertraute Wärme, die ihren Beschützerinstinkt aktiviert und ihr gleichzeitig klarmacht, wie verletzlich sie ist. Die Schritte gehen weiter zur Essecke und dann in den Flur. Sie merkt, dass Anouk sich zu ihr umdreht.
»Mama, jetzt ist er weg.«
Im Flur geht die Toilettentür, und kurz darauf plätschert es in die Kloschüssel. Vorsichtig richtet Lisa sich auf und stellt die Füße auf den Boden.
»Schnell«, sagt sie mit gedämpfter Stimme.