7
Zum Glück hat er die Frau nicht bemerkt. Die Sekunden, die sie gut sichtbar auf der Terrasse stand, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie hat ihre verbundene Hand hochgehalten, um die Blutzufuhr zu reduzieren und so die Schmerzen in Grenzen zu halten, aber auch, um der Frau zu zeigen, dass sie verletzt ist. Durch den Verband hat sich Blut gedrückt, und Lisa merkte genau, wie die Frau bei diesem Anblick erschrak.
Ob sie wohl auch ihre aufgeplatzte Lippe bemerkt hat und das Messer, mit dem Kreuger sie und Anouk bedroht? Hat die Frau ihre Lage richtig eingeschätzt? Vermutlich ja, sonst wäre sie wohl nicht so rasch wieder verschwunden. Letzteres gibt Lisa Hoffnung und lässt sie die Schmerzen im Gesicht und an der Hand leichter ertragen. Eine Weile muss sie noch durchhalten, bestimmt kommt bald Hilfe.
Wie aus der Ferne nimmt sie Kreugers Stimme wahr, als er versichert, ihr und Anouk nichts antun zu wollen. Er müsse nur eine Zeit lang untertauchen, bis die Luft rein sei. Wenn sie und ihre Tochter keine Scherereien machten, hätten sie nichts zu befürchten.
Mit fiebrigem Blick lehnt sich Anouk an Lisa, sie scheint nicht zu begreifen, was der Mann hier will. Seit sie ihre Mutter mit sorgsam verbundener Hand die Treppe herabkommen sah, wirkt sie nicht mehr ganz so verängstigt, und Lisa ist heilfroh darüber.
»Wie heißt ihr eigentlich?«, fragt Kreuger plötzlich.
»Ich heiße Lisa, und das ist Anouk. Sie ist sechs.« Ihre Stimme klingt heiser, als brüte sie eine Erkältung aus.
»Ist die Kleine schon länger krank?«, fragt Kreuger.
»Seit zwei Tagen.«
»Hast du das in der Schule gemeldet?«
Lisa nickt.
»Gut, die rufen hier also nicht an.«
»Nein, aber es könnte durchaus sein, dass Freundinnen von ihr vorbeikommen.«
»Die lässt du auf keinen Fall rein.« Es klingt wie ein Befehl, und Lisa nickt gehorsam. Glaubt der Typ etwa, sie würde die Kinder ins Haus bitten!?
»Wenn das Telefon klingelt, gehst du dran und verhältst dich wie immer. Du legst nicht sofort auf, sondern redest ganz normal mit dem Anrufer und sagst nichts, was darauf schließen lässt, dass du unverhofft Besuch bekommen hast.« Er grinst breit, als hätte er einen besonders geistreichen Witz gemacht. Lisa lächelt pflichtschuldig.
»Während du telefonierst oder mit Leuten an der Tür redest, höre ich mit und leiste deiner Tochter Gesellschaft«, fährt Kreuger fort, und Lisa vergeht schlagartig das Lächeln. Er lässt sie nicht aus den Augen, will sich anscheinend vergewissern, dass sie auch wirklich verstanden hat. Wieder nickt sie.
»Wie … wie lange … willst du bleiben?«, fragt sie mit stockender Stimme.
Kreuger tritt ans Fenster, sein Gesichtsausdruck wird hart. »So lange wie nötig. Bist du verheiratet?«
»Ja, mein Mann kommt um halb sechs nach Hause.«
Hat er ihre Antwort überhaupt gehört? Er steht unbeweglich am Fenster und starrt hinaus. Nach einer Weile geht er zur Kommode, wo ein gutes Dutzend silbergerahmte Fotos steht. Vorsichtiger, als Lisa erwartet hat, nimmt er sie nacheinander in die Hand und betrachtet sie eingehend. Es sind Bilder von Anouk als Baby, kleine Schwarz-Weiß-Fotos aus Lisas eigener Kindheit, Schnappschüsse aus dem Urlaub von ihr und Menno, wie sie sich braun gebrannt und lachend umarmen – Erinnerungen an glückliche Zeiten, und Lisa kann es kaum ertragen, sie in den Händen dieses Mannes zu sehen.
Als er sich umdreht, senkt Lisa den Blick. Mit mehreren Fotos kommt er zum Sofa und hält sie Anouk hin.
»Das bist du, stimmt’s?« Er lächelt freundlich.
Anouk nickt zaghaft, sie wirkt nicht sehr überzeugt, dass der Mann es ehrlich meint.
»Mit deinem Papa?« Eines der Fotos zeigt Anouk, Lisa und Menno an Bord eines Segelschiffs.
»Und mit Mama«, sagt Anouk.
»Wo ist dein Papa jetzt?«
Verunsichert sieht Anouk Lisa an, der das Blut stockt, weil sie nur zu gut weiß, worauf die Fragen hinauslaufen.
»Wird’s bald?«, drängt Kreuger. »Du weißt doch wohl, wo dein Vater ist, oder? Bei der Arbeit?«
Anouk nickt, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen.
»Und um wie viel Uhr kommt er normalerweise nach Hause?«
Schweigen.
»Ich hab dich was gefragt!«, schreit Kreuger. Anouk zuckt zusammen und beginnt zu weinen.
»Er ist weg«, sagt Lisa rasch. »Er wohnt woanders, wir sind getrennt.«
Es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden, denn früher oder später bekommt Kreuger es ja doch heraus. Im Haus gibt es nirgendwo Männerkleidung, im Badezimmer steht kein Rasierzeug. Bis auf die Fotos und die Narben auf ihrer Seele hat Menno keine Spuren hinterlassen.
Kreuger baut sich vor ihr auf. Sie traut sich nicht, ihn anzusehen.
»Gerade hast du gesagt, dein Mann kommt um halb sechs«, sagt er mit seltsam rauer Stimme.
»Es … es tut mir leid. Ich dachte, dann würdest du vorher gehen. Ich …«
Eine schnelle Bewegung, und sie hat seine Faust im Gesicht. Gleichzeitig mit Anouk schreit Lisa auf und fasst sich erschrocken ins Gesicht: Blut strömt aus ihrer Nase. Rasch greift sie nach einem Sofakissen und presst es ans Gesicht, um die Blutung zu stillen.
»Schau mich an.« Kreugers Stimme ist eiskalt.
Langsam hebt Lisa den Blick, die Augen voller Tränen, weil es unglaublich weh tut.
»Lüg mich nie wieder an, verstanden? Verlogene Weiber sind mir zuwider.« Kreugers Augen funkeln drohend. »Wenn du tust, was ich dir sage, passiert euch beiden nichts. Ansonsten …«
»Schon gut«, sagt Lisa mit erstickter Stimme. »Ich mache alles, was du willst. Wirklich, versprochen!«
Sie meint es ernst. Egal, wie lange er bleibt, sie wird schon durchhalten. Ihr bleibt keine andere Wahl, sie muss das Beste aus der Situation machen: sein Vertrauen gewinnen.
Ob er wirklich nicht vorhat, ihnen etwas anzutun? Schließlich weiß sie nun, wie er aussieht, und kennt seinen Namen. Vielleicht bringt er sie und Anouk doch noch irgendwann um?
Nein, sagt sie sich, er hat mir versichert, uns nichts anzutun, und darauf muss ich mich verlassen, sonst drehe ich durch.
Sie muss um jeden Preis verhindern, dass sie die Fassung verliert. Wegen Anouk, aber auch in ihrem eigenen Interesse.
Langsam streckt Lisa Arme und Beine, um die verspannten Muskeln zu lockern. Gleichzeitig konzentriert sie sich auf ihre Aufgabe: Sie muss sich mit einem gestörten Kriminellen arrangieren, der ihr ein Messer in die Hand gerammt und ihr zweimal die Nase blutig geschlagen hat. Weiß der Himmel, wozu er noch imstande ist, aber darauf will sie es nicht ankommen lassen. Sie darf nicht daran denken.
Lisa hat gelernt, die Angst zu verdrängen und sich zuversichtlich und selbstsicher zu geben. Irgendwo in ihrem Inneren ist eine Art Schalter, der sich mit eiserner Disziplin umlegen lässt, sodass das Zittern und Stottern aufhört und ihr Körper ihr wieder gehorcht.
Sie hört Anouks rasselnden Atem, der immer wieder von Schluchzern unterbrochen wird. Entschlossen legt Lisa das blutige Kissen beiseite und will ihre Tochter an sich ziehen, doch Anouk sträubt sich.
»Mama, dein Gesicht ist voller Blut!«, bringt sie mühsam hervor.
»Ganz ruhig, mein Mädchen, nicht weinen. Es sieht schlimmer aus als es ist«, beschwichtigt Lisa sie. »Weißt du noch, wie du vom Rad gefallen bist und dir die Stirn aufgeschlagen hast? Das hat auch so schlimm geblutet, obwohl es nur eine kleine Wunde war.«
»Hast du immer noch Nasenbluten?«, fragt Kreuger sachlich.
Lisa betastet ihre Nasenlöcher, betrachtet die Finger und schüttelt den Kopf.
»Dann geh in die Küche und wasch dir das Gesicht.«
Langsam steht sie auf. »Anouk, ich wasche mich schnell. Gleich bin ich zurück, und du wirst sehen, dass es gar nicht so schlimm ist.«
Stocksteif sitzt das Mädchen da und folgt der Mutter mit den Augen, als diese in die Küche geht.
Seltsam, auf einmal weiß Lisa nicht mehr, wo die Geschirrtücher liegen. Verdattert bleibt sie mitten in der Küche stehen. Langsam erinnert sie sich: in der obersten Schublade, über dem Besteck. Sie nimmt ein Tuch heraus und hält es unter das kalte Wasser. Dann wischt sie vorsichtig das Blut ab und wirft dabei durch die Glastür einen verstohlenen Blick in den Garten hinterm Haus und auf die angrenzenden Felder. Der Nebel hat sich gelichtet.