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Früher dachte Lisa, Glück sei etwas, das man einfordern kann wie eine Art Geburtsrecht, und mit einer positiven Lebenseinstellung sei man allen Situationen gewachsen. Glücklichsein hielt sie für eine Eigenschaft, und insgeheim empfand sie Verachtung für jene Menschen, die ständig klagten oder in Depressionen verfielen. Würden sie sich zusammenreißen, statt ihr Los zu bejammern, könnte sie weit mehr Respekt für sie aufbringen.
Inzwischen weiß sie, dass Glück nicht nur eine Frage der Einstellung ist und sich schon gar nicht erzwingen lässt. Ihre positive Grundhaltung hat sie nach wie vor, doch heute ist ihr viel stärker bewusst, dass der Mensch ein Spielball des Schicksals ist. Und dass es manche besonders hart trifft.
Dass ihre idealistischen Vorstellungen und die harte Realität zweierlei sind, hat Lisa längst begriffen. Man kann ganz plötzlich von einem Schicksalsschlag getroffen werden, und nach der Sache mit Menno glaubte sie, das Schlimmste hinter sich zu haben. Doch nun befindet sie sich in einer völlig verzweifelten Lage, die sie nie und nimmer für möglich gehalten hätte: Ein entflohener Verbrecher hält sie in ihrem eigenen Haus fest! Wie groß ist, statistisch gesehen, die Gefahr, dass ein solcher Mensch ausgerechnet bei ihr auftaucht? Die Chancen auf einen Sechser im Lotto dürften höher sein.
Warum ich?, grübelt sie und gibt sich sogleich selbst die Antwort: warum nicht ich?
Der Mann hätte sich ebenso gut bei Frau Rosenfeld, die ein Stück weiter wohnt, einnisten können, aber er ist nun einmal hier, und die Nachbarin ahnt nicht, was ihr erspart geblieben ist.
Den restlichen Nachmittag verbringt Lisa auf dem Sofa, liest Anouk aus ihren Lieblingsbüchern vor und behält dabei Kreuger unauffällig im Auge. Immer wieder setzt er sich vor den Fernseher und zappt durch die Kanäle, zwischendurch springt er auf und geht unruhig hin und her.
Dazu hat er auch allen Grund, denkt Lisa mit grimmiger Genugtuung. Es kann nicht mehr lange dauern, und die Polizei steht vor der Tür.
Wo bleibt sie nur? Dass man Kreuger nach seiner Flucht aus den Augen verloren hat, ist eine Sache, aber die Frau, die am frühen Nachmittag am Fenster stand, müsste ihre Beobachtung doch längst gemeldet haben. Glaubt man ihr womöglich nicht? Oder ist sie jemand, der sich lieber keine Probleme auf den Hals lädt? Ist sie einfach nach Hause gefahren?
Nein, denkt Lisa entschieden, das kann nicht sein. Wenn sie selbst auch nur den geringsten Verdacht hätte, dass irgendetwas nicht stimmt, hätte sie umgehend etwas unternommen. Sie schon.
Aber gilt das für jeden?, meldet sich eine Stimme in ihrem Kopf. In dieser gewalttätigen, egoistischen Welt haben viele nur eines im Sinn, nämlich wegschauen, wenn es irgendwo Probleme gibt. Sich auf keinen Fall einmischen, wer weiß, was einen dann erwartet.
»Lies weiter, Mama.« Mit glasigen Augen sieht Anouk sie an, und Lisa beeilt sich weiterzulesen. Sie hat überhaupt nicht bemerkt, dass sie aufgehört hatte und ihre Gedanken abgeschweift waren. Mechanisch und fast tonlos liest sie die Geschichte zu Ende. Als sie das Buch zuklappt, schließt Anouk erschöpft die Augen.
»So, mein Kleines, schlaf jetzt ein bisschen.« Zärtlich streicht sie ihrer Tochter über das weiche dunkle Haar. Anouk hustet ein paar Mal, und Lisa hört, wie sich der Schleim in ihrer Lunge löst.
»Sieht ganz so aus, als hätten heute fast alle Kinder Atemwegsprobleme«, brummt Kreuger.
»Es werden immer mehr«, bestätigt Lisa.
»Das kommt von dieser elenden Umweltverschmutzung. Wir vergiften die Umwelt, und unsere Kinder bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit.«
Ob Kreugers Kinder auch an Bronchitis oder Asthma leiden? Ohne zu überlegen, fragt Lisa nach. Langsam dreht er sich zu ihr um. Einen Moment lang befürchtet sie, ihm zu nahe getreten zu sein, aber er beantwortet ihre Frage ganz sachlich.
»Ja, mein Sohn hatte schweres Asthma. Noch schlimmer als sie.« Bei diesen Worten wirft er einen mürrischen Blick auf Anouk, als könnte die Kleine etwas dafür.
»Und du glaubst, das kam durch die Umweltverschmutzung?«, hakt Lisa vorsichtig nach. Sie hat sehr wohl registriert, dass er die Vergangenheitsform benutzt hat.
»Selbstverständlich kommt das durch die Umweltverschmutzung!«
Kreuger schnaubt abfällig und kehrt ihr den Rücken zu. »Erzähl mir lieber von deinem Mann. Wo ist er jetzt, und warum seid ihr getrennt?«
Es geht ihm eindeutig darum, zu erfahren, ob sie noch Kontakt haben, ob Menno womöglich unvermutet hier auftauchen könnte.
»Menno und ich haben uns wegen seiner übertriebenen Eifersucht getrennt«, sagt Lisa in einem kühldistanzierten Ton, schließlich gehen ihre Privatangelegenheiten diesen Wildfremden nichts an. »Er war krankhaft eifersüchtig, das hat mich wahnsinnig gemacht. Zu Beginn unserer Beziehung hat mich das noch gerührt, es hat mir sogar geschmeichelt. Dann hat er allerdings angefangen, mir nachzuspionieren.«
Zum ersten Mal zeigt Kreugers Gesicht so etwas wie Interesse. »Was hat er genau getan?«
»Mich kontrolliert. X-mal am Tag angerufen, um zu fragen, was ich gerade mache, mit wem ich zusammen bin und wann ich nach Hause komme. Anfangs habe ich mich noch darüber lustig gemacht, aber eines Abends wurde er fuchsteufelswild, weil ich zehn Minuten später als angekündigt nach Hause kam. Er war fest davon überzeugt, ich würde ihn betrügen.«
»Und, war das so?«
»Natürlich nicht! Ich habe meinen Mann geliebt.« Lisa liebt ihn noch heute. Jedenfalls den Mann, der er einmal war.
Kreugers Augen flackern. »Alle Frauen gehen fremd. Huren sind sie!«
»Ich nicht. Ich habe ihn aufrichtig geliebt, ich wollte keinen anderen.«
Sein linker Mundwinkel zuckt, aber es wird kein Lächeln daraus. »Alle Frauen sind Huren«, wiederholt er. »Es ist in ihnen, vielleicht können sie nicht mal was dafür. Es liegt in ihren Genen, das Kokettieren, Herausfordern, Verführen, Lügen, andere Kerle ficken …«
Nicht reagieren – nicht widersprechen, aber auch nicht beipflichten. Der Mann ist unberechenbar, also schweigt sie besser.
Lisa wirft ihm einen schnellen Blick von der Seite zu. Er sitzt auf der Armlehne des Sessels und pult mit dem Messer das Schwarze unter seinem Daumennagel hervor.
»Alles Huren …«, murmelt er und sieht sie dann unverwandt an.
Schwer lastet die Stille im Raum. Kreugers Blick hat etwas Provozierendes und zugleich Abschätziges, als wollte er sie dazu bringen weiterzureden. Dabei weiß er genau, dass sie sich nicht traut.
»Bist du verheiratet?«, fragt sie wie beiläufig.
Erst hat sie Angst, zu weit gegangen zu sein, aber er pult gelassen weiter an seinem Nagel und zuckt mit den Schultern.
»Da ich nicht geschieden bin, könnte man sagen, ich bin verheiratet«, antwortet er schließlich. »Meine Frau ist tot.«
Er sieht sie direkt an, und Lisa wird klar, dass sie dem Blick standhalten muss.
»Das tut mir leid«, sagt sie, um einen aufrichtigen Tonfall bemüht.
»Mir nicht«, sagt er gleichgültig. »Sie war eine Hure, ich musste sie umbringen.«