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Von der Oberfläche blicken zwei diffuse Gestalten auf sie herab. Flehend streckt sie die Hand aus, aber niemand ergreift sie.
Die beiden reden miteinander. Ihre Stimmen klingen verzerrt, dennoch versteht sie, was gesagt wird. Nicht nur Wortfetzen, sondern ganze Sätze.
Sie liegt im Koma. Ein Schock, aber keine Überraschung. Wer auch immer sie ist und was auch passiert sein mag, eines steht fest: Sie muss aufwachen. Wer aufwacht, steht auf, arbeitet sich hoch. Körperlich ist sie dazu nicht in der Lage, aber geistig schon. Immer, wenn sie das Bewusstsein zu verlieren droht, kämpft sie mit aller Macht dagegen an. Sie richtet den Blick nach oben und mobilisiert sämtliche Reserven, wie eine Schiffbrüchige.
Das Aufwachen ist ein wahrer Kraftakt. Sie kommt sich vor wie im Fitnessstudio, nur hat sie sich dort nie so verausgabt wie jetzt. Schließlich muss sie doch aufgeben und sinkt zurück in eine allumfassende Stille.
Es ist dunkel um sie. Wie lange war sie weg? Sie muss um jeden Preis verhindern, dass sie immer wieder abtaucht, aber sie hat keinerlei Kontrolle darüber. Vielleicht hilft es, wenn sie sich ganz auf die Oberfläche konzentriert, um sie schließlich zu durchbrechen wie eine Schwimmerin, die ihre gesamte Energie daransetzt, als Erste am Beckenrand anzuschlagen und die Goldmedaille zu erringen.
Da oben wartet ihr Leben, wie immer es auch aussehen mag. Schlecht kann es jedenfalls nicht sein, wenn sie so verzweifelt zurückkehren will. Sie bietet all ihre Willenskraft auf, um weiter nach oben zu gelangen, aber eine kalte Unterströmung zieht sie wieder hinab. Mit Mühe und Not gelingt es ihr, im blauen Bereich zu bleiben, nicht in die finstere Tiefe abzugleiten. Das blaue Wasser bedeutet Hoffnung, das spürt sie intuitiv. Je öfter sie nach ganz unten driftet und je länger sie dort bleibt, desto geringer ist ihre Chance, jemals wieder die Oberfläche zu erreichen.
Plötzlich überkommt sie ein Gefühl des Verlusts, und sie empfindet tiefe Einsamkeit.
»Freek …«, flüstert sie, aber unter Wasser verliert sich der Klang ihrer Stimme. Freek?
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich weiter treiben zu lassen und zu warten, dass jemand kommt. An ihrem Bett haben Menschen gesessen, deren Stimmen ihr bekannt vorkamen, aber es war nicht möglich, Kontakt zu ihnen herzustellen. Ehe sie sich versah, taumelte sie wieder zurück in die schwarze Tiefe, und als sie erneut nach oben kam, war sie allein.
Regungslos liegt sie auf dem Rücken und wartet. Lange Zeit tut sich nichts. Vielleicht sollte sie sich doch lieber wieder in die Dunkelheit fallen lassen, um nicht so einsam dazuliegen, gefangen in einem Körper, der ihr nicht mehr gehorcht? Schnell schiebt sie den Gedanken beiseite. Sie muss ihren Geist wach halten, aktiv bleiben – nur dann kann sie wirklich auftauchen.
Plötzlich erscheint ein Gesicht vor ihrem inneren Auge. Ein gut aussehender, gebräunter Mann mit dunklen Locken. Er lächelt sie an, und sie fühlt sich unwillkürlich zu ihm hingezogen. Sie liebt diesen Mann, aber außerdem empfindet sie einen intensiven Schmerz. Ihr ist nach Weinen zumute, aber nicht einmal dazu ist sie imstande, also verdrängt sie den Kummer und sucht stattdessen in ihrem Gedächtnis nach weiteren Anhaltspunkten.
Als gerade eine Erinnerung an Schärfe gewinnt, sinkt sie wieder in die Tiefe.
 
Als Nächstes hört sie ein Geräusch, ein Quietschen wie von Rädern, die dringend geölt werden müssen. Sie spürt Bewegung, offenbar wird sie in ihrem Bett aus dem Zimmer geschoben. Eine junge Frauenstimme sagt ihr, es werde eine MRT-Aufnahme gemacht.
»Sie können uns hören, stimmt’s? Ich bin sicher, Sie hören uns«, sagt die Frau. »Es hat sich etwas verändert, das merke ich genau. Da, jetzt flattern Ihre Lider wieder! Wollen Sie mir etwas sagen? Versuchen Sie es noch mal!«
Sie bewegt die Lider, blinzelt, macht die Augen weit auf, zwinkert mehrmals … Über ihr ein enttäuschtes Seufzen. »Na ja, das ist wohl noch zu viel verlangt. Jetzt sehen wir uns erst einmal Ihr Gehirn an. Das wird schon wieder …«
Das Bett bewegt sich nicht mehr. Sie spürt, dass mehrere Hände sie hochheben und auf eine kühle Unterlage legen. Die Stimmen verstummen, stattdessen umgibt sie ein durchdringendes Summen.
Langsam sinkt sie hinab.
 
Als sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst wird, ist sie anscheinend in ihrem Zimmer.
Sie hat Besuch. Neben ihrem Bett wird ein Stuhl gerückt.
»Wo war sie?« Eine vertraute Männerstimme, aber sie kann ihr weder ein Gesicht noch einen Namen zuordnen.
»Wir haben einen kleinen Ausflug gemacht«, sagt die Krankenschwester. »In den MRT-Raum.«
»Wurden nicht schon Aufnahmen gemacht?«
»Doch, aber wir vermuten, dass sie bald wieder zu sich kommt, deshalb wollte der Arzt überprüfen lassen, ob die Hirnaktivität zugenommen hat.«
»Und?«
»Das Ergebnis liegt noch nicht vor.«
Resolute Schritte, die Schwester entfernt sich. Wieder wird neben ihr ein Stuhl gerückt.
Warme Lippen berühren sanft ihre Stirn. »Hallo, Liebling …«
Es muss jemand sein, den sie sehr gut kennt. Vielleicht ihr Freund oder Ehemann. Ist sie verheiratet? Jedenfalls ist da ein Mensch, der sich um sie sorgt, allein schon das ist eine beruhigende Vorstellung.
Der Mann setzt sich rechts neben ihr Bett, und auf einmal kommt von links eine weitere Stimme. Eine helle Jungenstimme, danach die eines Mädchens. Sie reden miteinander, und zwischendurch sagen sie auch etwas zu ihr, aber sie ist zu erschöpft, um die Worte aufzunehmen. Jemand steckt ihr kleine Kopfhörer in die Ohren, und eine ihr bekannte Musik erklingt. Sie nehmen ihre Hände, das Mädchen links, der Junge rechts, und sie hört das Wort »drücken«. Die Bedeutung ist klar, aber was wird von ihr erwartet?
»Mama …«, sagt die Mädchenstimme unsicher. »Mama, kannst du mich hören?«
Mama? Sie ist also Mutter, hat eine Tochter. Und wahrscheinlich auch einen Sohn. Um Himmels willen, sie erinnert sich überhaupt nicht daran! Wie soll das nur werden, wenn sie aufwacht? Und was, wenn sie gar nicht mehr aufwacht, für immer in dieser Leere umhertreiben muss?
Grenzenlose Panik erfasst sie.
»Wenn du mich hörst, drückst du meine Hand, ja? Nur ganz leicht, das reicht schon.«
»Ja!«, ruft sie ihrer Tochter zu. »Ich hör dich! Ich hör dich!«
Das Mädchen verschränkt die Finger mit den ihren.
Sie drückt so fest, dass ihre Tochter blaue Flecken bekommen muss. Gespannt wartet sie auf eine Reaktion.
Neben ihr bleibt es still, nur die leisen Atemzüge des Mädchens sind zu hören.
»Dein Finger zittert ein bisschen«, kommt es zögernd.
»Senta!?« Die Männerstimme, dicht an ihrem Ohr.
Jetzt zittert ihr Finger keinesfalls mehr, denn sie liegt stocksteif da, völlig perplex vor Staunen.
Senta!
Als wäre ein Bühnenvorhang zur Seite gezogen worden, eröffnet sich ihr beim Klang dieses Namens ein Blick in ihr Gedächtnis. In ihrem Kopf macht es »Klick«, das Gehirn beginnt auf Hochtouren zu arbeiten. Erinnerungsfetzen tauchen auf, und sie versucht, sie wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Sie heißt Senta, ist dreiundvierzig Jahre alt, mit Freek verheiratet und Mutter dreier Kinder. Heute Morgen, das heißt, falls nicht schon mehr Zeit vergangen ist, ist sie früh aus dem Haus gegangen, um rechtzeitig in Gelderland zu sein. Sie ist Journalistin und hatte einen Termin in Oss. Stück für Stück fügen sich die einzelnen Teile zu einem Bild zusammen, und eine warme Welle der Erleichterung durchflutet sie. Wenn sie ihr Gedächtnis wiedererlangt, wird bestimmt auch bald alles andere funktionieren!
Sie grübelt, versucht sich zu erinnern, was auf dem Rückweg passiert ist. Als Erstes fällt ihr der Nebel ein. Dieser tückische, schnell aufziehende Nebel, der plötzlich um die Motorhaube waberte und ihr die Sicht nahm. Hatte sie einen Unfall mit einem entgegenkommenden Fahrzeug? Sie weiß es nicht mehr. Nur eine Kreuzung sieht sie vor sich, an der sie versuchte, die Schilder zu lesen. Mit einem Mal taucht vor ihrem inneren Auge ein Feldweg auf, auf dem sie fluchend und schwitzend von Schlagloch zu Schlagloch fuhr.
Weiterdenken, es kommt alles wieder … wenn sie sich nur genügend anstrengt.
Aber es kommt nichts. Der Nebel, die Kreuzung und der Feldweg, mehr gibt ihr Gedächtnis nicht preis.
Dann eben ihre Familie … die Namen der Kinder. Es kann doch nicht sein, dass sie als Mutter die Namen der eigenen Kinder nicht mehr weiß?!
Die Stimme des Mädchens hat starke Gefühle ausgelöst, die sich nur als Mutterliebe interpretieren lassen. Auch wenn sie sich nicht an ihre Tochter erinnert, der Klang ihrer Stimme geht ihr zu Herzen. Ein hübscher, unsicherer, manchmal wohl auch aufsässiger Teenager.
Denise!
Völlig unverhofft und ohne jegliche Anstrengung weiß sie auf einmal die Namen ihrer Kinder wieder: Denise, Jelmer und Niels.
Gleichzeitig empfindet sie tiefe Einsamkeit und den brennenden Wunsch, in die Welt zurückzukehren, in der sie zu Hause ist.
Verzweifelt hebt sie den Blick zur Oberfläche, die sich wie eine zähe Haut über ihr spannt. Dort oben wartet das Leben auf sie, ein erfülltes Leben voller Perspektiven. Sie muss aufwachen, aufwachen, aufwachen!