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Natürlich hat Lisa sich bereits Gedanken über die kommende Nacht gemacht und überlegt, wer wo schlafen soll. Dass Kreuger sie und Anouk in ihren Betten übernachten lässt, ist mehr als unwahrscheinlich, doch das hat sie den ganzen Nachmittag über erfolgreich verdrängt. Es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen, sie hat von Minute zu Minute gelebt und bis zum Abend gehofft, dass Hilfe kommt.
Nun jedoch, da die Dämmerung das Haus einhüllt, sich wie eine Decke über den Garten legt, wird Lisa klar, dass der nächste Akt begonnen hat.
Nach dem Essen hat sie den Tisch abgeräumt und stellt gerade das Geschirr in die Spülmaschine. Anouk spielt mit ihrem Gameboy, und Kreuger fixiert von seinem Sessel aus den Fernseher. Er zappt, bis um halb acht auf RTL4 die Nachrichten beginnen.
Gleich im ersten Beitrag geht es um ihn. Lisa hört in der Küche Bruchstücke der Meldung und stellt sich etwas näher an die offene Tür.
»… noch keine Spur von dem flüchtigen Häftling Mick Kreuger …«
»… ohne seine Medikamente kann er durchaus gefährlich …«
»… hat am Morgen einen Mann erschlagen …«
»… wurde vor zwei Jahren verurteilt wegen Mordes an …«
Rasch geht Lisa wieder zur Spüle. Sie ringt um Fassung. Was passiert, um Himmels willen, wenn Kreuger längere Zeit keine Medikamente einnimmt? Womöglich kommt es dann zu Gewaltausbrüchen, die ansonsten unterdrückt werden.
Sie fasst sich an die schmerzhaft pochende Schläfe und trinkt einen Schluck Wasser gegen das trockene Gefühl im Mund.
Als sie sich umdreht, steht unversehens Kreuger vor ihr. Scharf zieht Lisa die Luft ein.
»Ich hätte gern einen Kaffee«, sagt er lediglich.
»Gut, ich koche welchen.« Sie drückt auf den Schalter der Espressomaschine. Mit Gebrumm springt sie an.
»Hast du das gehört?« Kreuger nickt in Richtung Fernseher.
»Ich habe hier aufgeräumt, der Fernseher steht zu weit weg. Warum? Kam was über dich?« Es gelingt ihr, einen lockeren Ton anzuschlagen.
Hinter ihr bleibt es so lange still, dass sie die Frage schon bereut.
Dann tritt Kreuger neben sie, lehnt sich an die Küchenzeile und sieht sie forschend an.
»Was genau hast du mitbekommen?«
Mechanisch stellt Lisa zwei Tassen in die Espressomaschine. »Nicht viel, wie gesagt. Gerade mal ein paar Worte …«
Kreuger verschränkt die Arme vor der Brust. »Die haben ein Foto von meiner Familie gezeigt. Plötzlich hatte ich sie vor mir, alle drei.«
Die Kaffeebohnen sind alle. Lisa ist froh, nicht sofort reagieren zu müssen, und füllt bedächtig nach. Dann nimmt sie allen Mut zusammen.
»Du hast drei Kinder?«
»Zwei«, antwortet er. »Einen Jungen und ein Mädchen, etwas älter als deine Tochter.«
»Ein Geschwisterpaar, wie schön. Das wünscht man sich doch, nicht wahr?« Sie hat Angst, dass er den falschen Unterton bemerkt.
»Kann sein.« Er klingt nicht so, als wäre damit ein Wunsch in Erfüllung gegangen.
Sekundenlang ist es still, dann schaltet Lisa das Mahlwerk an. Ein ohrenbetäubender Lärm setzt ein. Anschließend drückt sie auf einen Knopf, und der Kaffee läuft langsam in die Tassen.
Was will Kreuger von ihr? Er ist sichtlich unruhig, vielleicht will er nur ein wenig reden? Im Prinzip kein Problem, allerdings kommt ein Gespräch mit ihm einem Gang durch ein Minenfeld gleich. Auf seine Frau darf sie ihn auf keinen Fall ansprechen, aber vielleicht will er über seine Kinder reden? Vermutlich leben sie bei Verwandten oder in einem Heim.
»Fehlen sie dir denn?«, fragt sie und hat dabei das Gefühl, mit verbundenen Augen von einem Turm zu springen.
Dass er sie grob am Arm packt, überrascht sie kaum.
»Warum sollten sie mir nicht fehlen? Du Miststück glaubst wohl, meine eigenen Kinder seien mir egal? Vielleicht geht das über deinen Horizont, aber ich hab auch Gefühle!«
Sein Gebrüll hallt durch die Küche. Lisa erschrickt, zuckt aber weder zusammen noch schlägt sie die Augen nieder. Mit äußerster Selbstbeherrschung legt sie die Hand auf seinen Arm.
»Selbstverständlich hast du Gefühle«, sagt sie leise. »Und selbstverständlich fehlen dir deine Kinder.«
Sein Zorn verfliegt so schnell, wie er gekommen ist. Er verzieht schmerzlich das Gesicht.
»Ich durfte sie nicht mehr sehen«, sagt er tonlos. »Nie mehr. Kannst du dir das vorstellen? Ich, ihr eigener Vater! Aber für den Richter zählte das nicht. Ich durfte sie nicht mehr sehen, und damit basta!«
»Das muss schlimm sein.«
»Ja …« Mit einem Mal wirkt er abwesend, als wäre er in Gedanken ganz woanders.
»Mein Ex hat auch versucht, mir Anouk wegzunehmen«, sagt Lisa.
Kreuger hebt die Hand und massiert sich die Stirn.
»Dass er extrem eifersüchtig war, hatte ich ja schon erwähnt.« Lisa hält Kreuger eine Tasse Kaffee hin. Er nimmt sie, trinkt aber nicht. »Das hat letztlich unsere Beziehung zerstört. Menno war auf buchstäblich alles eifersüchtig, auch dass ich beruflich vorankam und er nicht, hat ihn gestört. Er war Marktleiter bei einer gro ßen Supermarktkette, wurde aber im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen entlassen. Von einem Tag auf den anderen saß er zu Hause und hatte unendlich viel Zeit, sich mit mir zu befassen. Ich arbeitete in einem Forschungslabor in Utrecht und hatte eine Fahrgemeinschaft mit einem Kollegen. Ein netter Mensch, aber nur ein Kollege, nichts weiter. Nie hätte ich gedacht, dass Menno damit ein Problem haben könnte. Erst war es auch nicht so, doch als er arbeitslos war, machte er aus allem ein Problem. Ich habe ihm versichert, er könne sich auf mich verlassen, aber er hat mir nicht geglaubt. Erst als ich mit Anouk schwanger war, lief es wieder besser, genauer gesagt nach ihrer Geburt.«
Lisa trinkt einen Schluck Kaffee und sieht Kreuger kurz an.
Mit leiser Stimme erzählt sie von ihrer Wochenbettdepression, davon, wie düster und trostlos ihr damals alles vorgekommen sei.
»Menno hat sich sehr um mich gekümmert. Inzwischen hatte er wieder Arbeit, nahm mir aber trotzdem ab, was er nur konnte: Einkäufe machen, mit Anouk zur Mütterberatungsstelle gehen und so weiter. Meine Welt wurde währenddessen immer kleiner. Für mich spielte sich das Leben ausschließlich im Haus ab. Im Nachhinein wurde mir klar, dass das durchaus in seinem Sinn war: Endlich hatte er mich ganz für sich allein.«
Sie erzählt von ihren mühsamen Versuchen, aus der Isolation herauszukommen. Menno habe nicht gewollt, dass sie einen Psychologen aufsuchte. Warum sollte sie ihre Gedanken und Gefühle einem Fremden anvertrauen, wo er doch täglich für sie da war? Kränkend fand er das und völlig überflüssig. Außerdem hätten sie gar nicht das Geld dafür.
So blieb er ihr einziger Halt in einem Meer der Depression, in dem sie immer weiter versank. Erst als sie sich in Internetforen mit anderen Betroffenen austauschte und Antidepressiva bestellte, wendete sich das Blatt, und allmählich zeichnete sich eine Besserung ab. Irgendwann hatte sie wieder einen Blick für die Welt um sie herum … und entdeckte, dass Menno ein Doppelleben führte.
»Er ging fremd«, sagt Kreuger.
»Nicht nur das, er hatte sogar zwei Söhne mit der anderen Frau.« Lisas Stimme klingt matt. »Als ich sagte, ich wolle mich scheiden lassen, war er außer sich und drohte, mir Anouk wegzunehmen. Das wäre auch nicht weiter schwierig gewesen, denn er hatte heimlich meine Forenmails ausgedruckt und sämtliche Rechnungen für die Antidepressiva an sich genommen. Ich stand Todesängste aus, dass man ihm das Sorgerecht geben würde.«
»Aber das hat nicht geklappt. Kein Wunder, Kinder werden doch immer der Mutter zugesprochen.« In Kreugers Stimme schwingt ein aggressiver Unterton mit.
»Nicht immer.« Lisa führt die Tasse zum Mund und nimmt einen Schluck Kaffee. »Außerdem hat Menno das Gericht gar nicht erst bemüht. Er hat mir Anouk überlassen, sang- und klanglos. Im Grunde hat er uns beide einfach fallenlassen.«