18
Die schwarzen Druckbuchstaben tanzen vor Lisas Augen. Ihr ist, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.
»Appeltern ist doch hier in der Nähe, oder?«
Sie nickt automatisch.
»Da kannst du mal sehen. Wäre ich gestern Nachmittag draußen gewesen, wäre ich der Polizei direkt in die Arme gelaufen. Also bleibe ich lieber noch eine Weile hier im Haus, meinst du nicht auch?« Kreuger wirkt gut gelaunt.
»Ja«, stimmt Lisa zu. »Das ist sicherlich das Beste.«
Überrascht sieht er sie an.
»Vorläufig, meine ich«, ergänzt sie. »Ich mache dir jedenfalls keine Schwierigkeiten. Aber ich könnte mir vorstellen, dass du Pläne hast. Ich meine, du kannst ja nicht ewig hierbleiben. Weißt du denn schon, wohin du willst? Ich könnte dich hinbringen, wie du weißt, habe ich ein Auto. Das kannst du dir auch gern leihen und …«
Sein lautes Lachen lässt sie verstummen.
»Nicht schlecht«, sagt er, als er sich wieder gefasst hat. »Mal sehen, vielleicht nehme ich dein Angebot an. Ein Auto könnte mir weiterhelfen. Ich könnte euch beide mitnehmen. Oder nur deine Tochter … wenn ich’s mir recht überlege, ist das eine gute Idee.« Er grinst breit.
Lisa starrt ihn fassungslos an. »Nein!«, faucht sie. »Meine Tochter lässt du in Frieden, klar? Sonst …«
Schlagartig bekommt sein Gesicht einen harten Ausdruck.
»Ich mache, was ich will«, sagt er schneidend. »Und du richtest dich danach. Eben noch hast du gesagt, du machst mir keine Schwierigkeiten, also halte dich daran!«
Sein Blick fällt auf Anouk, die ihren Barbiepuppen Bikinis angezogen hat und sie gerade in Liegestühle setzt.
»Geht in Ordnung. Tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe.« Ihre Stimme klingt heiser und völlig fremd. Lisa verabscheut sich für ihre Unterwürfigkeit. Als Kreuger ihr das Gesicht zuwendet, rechnet sie mit Spott und Verachtung in seinem Blick. Auf Mitgefühl und einen sanften Tonfall ist sie nicht gefasst.
»Ich verstehe das schon. Glaub nicht, ich sei ein Unmensch, Lisa.«
Seltsam, allein die Tatsache, dass er ihren Namen ausspricht, lässt sie hoffen, obwohl Misstrauen angebrachter wäre.
»Bitte, tu ihr nichts«, flüstert sie. »Sie ist alles, was ich noch habe.«
Hinter ihnen lässt Anouk Ken auftreten. »Wer geht mit mir schwimmen?«, fragt sie mit Brummstimme, und die Barbies springen begeistert auf, um sich mit Ken in die Brandung zu stürzen.
»Anouk ist krank«, sagt Lisa leise. »Sie braucht einen Arzt.«
»Auf mich macht sie einen ganz munteren Eindruck.«
»Das täuscht. Hör doch nur, wie ihr Atem rasselt.«
Als hätte Anouk einen sechsten Sinn, beginnt sie im gleichen Moment heftig zu husten.
»Du gibst ihr doch Penicillin«, sagt Kreuger.
»Ja, aber wenn das nicht hilft, muss sie …«
»Das sehen wir dann«, schneidet er ihr das Wort ab. »Momentan jedenfalls geht es ihr gut, sie spielt so schön …«
Lisa bemerkt etwas Wehmütiges in seinem Blick. Woran denkt er wohl? Was für Bilder sieht er vor sich?
»Meine Tochter hatte diese rosa Barbie-Pferdchen«, sagt er. »Denen hat sie dauernd die Mähne gekämmt …«
Schnell weiterreden, ihn bei der Stange halten! »Ich glaube, so was mögen alle kleinen Mädchen«, sagt Lisa. »Anouk hat auch welche.«
Kreuger wirkt abwesend, wie in eine andere Welt versunken, zu der Lisa keinen Zugang hat, die sie sich aber inzwischen ein bisschen vorstellen kann. Was soll sie sagen? Vielleicht lieber gar nichts?
Kreuger kommt ihr zuvor: »Du weißt, was passiert ist, stimmt’s? Was ich getan habe …« Er fixiert sie mit scharfem Blick, sodass sie wohl oder übel antworten muss.
»Ja.«
»Wie?«
»Du meinst, woher ich es weiß?«
Er nickt ungeduldig.
»Im Keller steht ein Radio …«
»Dann weißt du also, dass ich ein Monster bin.« In seinen Worten schwingt Bitterkeit mit, die sich jedoch nicht gegen Lisa richtet, daher wagt sie es, das Thema zu vertiefen.
»Meiner Ansicht nach kann jeder mal in eine Situation kommen, in der er Dinge tut, zu denen er normalerweise nicht in der Lage wäre. Manchmal treiben einen die Umstände dazu«, sagt sie.
»Oder Menschen.«
»Ja, das auch.«
Abrupt steht er auf und tritt direkt vor sie. Mühsam unterdrückt Lisa den Impuls zurückzuweichen. Sie bekommt heftiges Herzklopfen.
Sein Gesicht ist ganz nahe. »Warst du schon mal in so einer Situation?«
»Ich habe versucht, meinen Ex umzubringen«, sagt sie kaum hörbar.
Er wird hellhörig. »Wie?«
Lisa will ausweichen, aber er lässt sie nicht aus den Augen, zwingt sie mit seinem Blick zu einem Geständnis. Nun, da sie A gesagt hat, muss sie auch B sagen.
»Mit dem Auto.«
Kreuger pfeift, er scheint beeindruckt zu sein. »Und dann?«
»Er kam schwer verletzt in eine Klinik, hat es aber überlebt.«
»Bist du nicht dafür belangt worden?«
»Nein, ich bin schnell weitergefahren, und Zeugen gab es keine. Menno hat nie erfahren, dass ich in dem Auto saß, aber er muss es geahnt haben. Wenn die Sprache auf den Unfall kam, hat er mich manchmal ganz seltsam angesehen.«
»Und wie ging es weiter?«
»Dann haben wir uns getrennt«, sagt Lisa schlicht. »Ich denke, ihm war klar, dass ich ihn beim nächsten Mal umbringen werde.«
»Würdest du es denn noch einmal versuchen?«
»Unbedingt.« Die Wunde an ihrer Hand pocht, ihre Lippe ist wieder aufgesprungen und brennt. »Ich kann vieles verstehen und verzeihen, aber irgendwann ist eine Grenze erreicht.«