19
Nach einer Katzenwäsche zieht Lisa ihre Jeans und einen frischen weißen Pulli an. Sie beeilt sich, denn es lässt ihr keine Ruhe, dass Anouk mit Kreuger allein ist. Rasch fährt sie sich mit den Fingern durchs Haar, dann läuft sie die Treppe hinab. Auf der untersten Stufe hört sie von draußen ein Motorengeräusch.
Sie hält den Atem an und versucht, durch das Mattglas der Haustür etwas zu erspähen. Ist es Menno? Oder ihre Mutter?
Bitte ja, fleht sie innerlich! Nein, um Himmels willen, bloß das nicht!
Zwischen Hoffen und Bangen wartet sie darauf, dass auch Kreuger das Geräusch hört, aber es dringt offenbar nicht durch die geschlossene Zwischentür. Auf Zehenspitzen schleicht Lisa vorwärts.
Ein orangefarbener Schimmer hinter dem Glas: das Postauto!
Hilft ihr das weiter? Ihre Gedanken überschlagen sich. Solange die Haustür abgeschlossen ist, nicht viel … Der Postbote ist ein älterer, leicht schwerhöriger Mann. Wenn es sich ergibt, wechselt sie hin und wieder ein paar Worte übers Wetter mit ihm, was in der Regel darauf hinausläuft, dass sie ihre Sätze mehrmals laut wiederholen muss.
Der TNT-Wagen hält vor dem Haus. Lisa sieht sich nervös um. Bleistift, Papier? Sie muss einen Zettel schreiben, schnell!
Zu spät. Schon knirschen Schritte auf dem Kies, er kommt auf die Tür zu. Seine Silhouette zeichnet sich hinter dem Glas ab – ein rettender Engel aus einer anderen Welt, aber unerreichbar.
»Hallo! Hallo!«, ruft sie verhalten durch den Briefschlitz. Sie sieht, wie er in seiner Tasche kramt, und streckt die Hand ins Freie, um auf sich aufmerksam zu machen. Im nächsten Moment hört sie ihn lachen und bekommt Briefe in die Hand gedrückt.
Seine sich entfernenden Schritte klingen Lisa wie ein Trommelwirbel in den Ohren.
Deprimiert geht sie ins Wohnzimmer. Anouk sitzt am Esstisch und formt Tiere aus Knetgummi, Kreuger sieht ihr fasziniert zu. Dann fällt sein Blick auf die Umschläge in Lisas Hand.
»Post«, sagt er in einem Tonfall, als hätte er damit nicht gerechnet.
 
Der Duft nach Schinkentoast und frischem Kaffee durchzieht den Raum. Es ist kurz nach halb zwei. Der Vormittag war verhältnismäßig ruhig. Das Radio läuft, die Vorhänge sind nach wie vor geschlossen, und es ist schwülwarm im Haus. Lisa stellt fest, dass sie ruhiger geworden ist. Die Angst, Kreuger könnte sie und Anouk umbringen, hat nachgelassen. Man ist zwar in Gegenwart eines Psychopathen niemals sicher, aber im Moment will sie nicht daran denken, dass der Mann, der ihr gegenübersitzt, seine Familie getötet hat, sondern lieber an den nächsten Vormittag. Dann kommt der Postbote wieder …
Nach einer Weile verlangt Anouk ihre Fingerfarben und ist kurz darauf völlig ins Malen vertieft.
»Emmelie war auch ganz verrückt auf dieses Zeug.« Kreuger beißt in seinen Toast. »Kaum war sie fünf Minuten damit zugange, hatte sie sich von Kopf bis Fuß vollgekleckert. Und den Tisch, den Stuhl und den Fußboden.«
Das Bild entlockt Lisa ein Schmunzeln, doch dann sieht sie auf einmal ein totes kleines Mädchen vor sich.
Als könnte er Gedanken lesen, beginnt Kreuger zu erzählen. »Jeffrey und Emmelie waren im Kindergartenalter, als meine Frau mich verlassen hat. Angelique hatte einen anderen, das wusste ich schon eine ganze Weile.« Sein Tonfall ist defensiv, als rechnete er damit, auf Skepsis zu stoßen. »Als Mann spürt man einfach, wenn man betrogen wird. Ich sprach sie darauf an, aber sie wollte nicht darüber reden. Sie drehte sich um und ging ohne ein Wort nach oben. Als sie mir so brüsk den Rücken zuwandte, ging etwas kaputt in mir. Ich fühlte mich unglaublich gedemütigt und rannte ihr nach … und dann habe ich die Kontrolle verloren. Ich habe sie die Treppe hinuntergestoßen. Die Kinder haben das Ganze leider mitbekommen. Aber ich konnte einfach nicht mehr klar denken, mit dieser Geste hat sie meine ganze Welt zum Einstürzen gebracht.« Er hält kurz inne, atmet tief durch und fährt dann fort: »Angelique hatte Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Sie stand auf, nahm die Kinder und ging zu ihren Eltern. Am nächsten Tag kamen ihre Brüder und ihr Vater, um ihre Sachen zu holen. Ich habe noch vergeblich versucht, mit ihr zu reden, mich zu entschuldigen. Sie verschwand einfach aus meinem Leben, ohne mir die Möglichkeit zu geben, meinen Fehler wiedergutzumachen.« Kreugers Stimme zittert vor unterdrückter Wut. »Am schlimmsten war, dass ich meine Kinder kaum noch zu Gesicht bekam. Die Umgangsregelung war die reinste Farce. Alle zwei Wochen durfte ich die Kinder für ein paar Stunden sehen, aber nur unter Aufsicht. Erst standen sie bloß da und starrten mich an, als könnte ich ihnen jeden Moment an die Gurgel gehen, und wenn sie dann endlich ein bisschen aufgetaut waren, brachte die Kuh vom Jugendamt sie wieder weg. Mein Leben war ruiniert, noch nie habe ich so viel geheult wie damals. Meine Frau war weg, die Kinder waren weg, und zu allem Überfluss verlor ich auch noch meine Arbeit. Den ganzen Tag saß ich zu Hause und wusste nicht mehr ein noch aus. Und dann sah ich Angelique eines Tages in der Stadt mit einem anderen. Ich hatte also recht gehabt. Sie betrog mich tatsächlich, und nun spazierten sie da zusammen durch die Fußgängerzone, mit den Kindern. Sie hatte Emmelie an der Hand und dieser Mistkerl meinen kleinen Jungen. In dem Moment brannten sämtliche Sicherungen bei mir durch. Natürlich konnte ich mitten in der Stadt nicht viel ausrichten. Also folgte ich diesem Kerl und meiner Familie und versteckte mich in seiner Garage.«
»Und dann?«, fragt Lisa leise.
»Ich habe ihn umgebracht«, sagt er. »Als er in die Garage kam, habe ich ihm den Schädel eingeschlagen. Bevor er merkte, wie ihm geschah, war es auch schon vorbei. Das fand ich zwar schade, aber andererseits durfte ich kein Risiko eingehen, sonst hätte Angelique etwas mitbekommen.«
»Und dann bist du ins Haus gegangen?«
Kreuger nickt. »Ja. Die Kinder saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, das sah ich durch den Türspalt, und Angelique war oben. Ich holte in der Küche ein Messer und ging ebenfalls rauf. In meiner Fantasie hatte ich sie schon mehr als ein Mal umgebracht. Immer ganz langsam, damit sie begriff, was sie mir angetan hatte und dass sie sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben hatte. Aber als es so weit war, ging das nicht, denn die Kinder waren ja unten. Ich musste also schnell sein.«
Er klingt seltsam unbeteiligt, so als hätte er eine unangenehme Haushaltspflicht erledigen müssen, vor der man sich nicht drücken kann.
»Sie sah mich mit dem Messer und schrie, aber die Kinder hörten sie nicht, weil der Fernseher lief. Und ihr Geschrei verstummte schnell.«
Lisa versucht, sich ihr Grauen nicht anmerken zu lassen. »Und die Kinder?«, flüstert sie.
Sein Blick verdüstert sich, und Lisa glaubt, darin so etwas wie Verzweiflung zu erkennen.
»Was blieb mir denn anderes übrig? Dass ich für die Morde zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt werden würde, war klar. Wie hätten Emmelie und Jeffrey das verkraften sollen? Was für ein Leben hätten sie gehabt? Die Mutter tot, der Vater im Gefängnis, und sie selbst in irgendeinem Heim … Nein, ich habe ihnen einen Dienst erwiesen, indem ich verhindert habe, dass es so weit kommt. Und ich habe dafür gesorgt, dass es schnell ging: ein gezielter Schnitt, und alles war vorbei. Ich habe nur an ihr Wohl gedacht und dem Richter auch erklärt, dass ich im Interesse der Kinder gehandelt habe, aber der hat das nicht kapiert.«
Wieder klingt Wut in seiner Stimme mit, aber gleich darauf wirkt er müde und deprimiert.
»Sag selbst, was hätte ich sonst tun sollen?«, murmelt er tonlos.
Entgeistert starrt Lisa ihn an. Dass er seine Frau und ihren Geliebten umgebracht hat, ist furchtbar, aber wie ein Mensch es fertigbringt, den eigenen Kindern die Kehle durchzuschneiden, ist absolut unfassbar.
Sie sieht regelrecht vor sich, was er ihr da gerade erzählt hat. Sie hört Schreie, riecht Blut …
Der Schweiß bricht ihr aus, ihre Hände zittern, und sie beginnt zu hyperventilieren. Weil Kreuger sie beobachtet, bemüht sie sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck.
»Du weißt ja, wie das ist.« Er schlägt einen vertraulichen Ton an, als wären sie Seelenverwandte. »Schließlich hast du deinen Mann umbringen wollen.«
»Das ist nicht vergleichbar …«
»Ach nein? Und was ist der Unterschied?«
Lisa schweigt.
Kreuger beugt sich vor. »Wahrscheinlich findest du mich zum Kotzen, was? Du hältst mich für abartig, aber glaubst du wirklich, du bist besser, weil an deinen Händen kein Blut klebt? Da irrst du dich, meine Liebe. Du bist genau wie ich.«
Ganz bestimmt nicht, denkt Lisa. Nie im Leben würde ich meiner Tochter etwas antun. Lieber hätte ich sie Menno überlassen und nie wiedergesehen, als dass ich ihr auch nur ein Haar gekrümmt hätte.
Aber sie sagt kein Wort, bis sie merkt, dass Kreugers Züge sich verhärten. Die Angst greift ihr ans Herz.
»Ich denke, du hast recht«, sagt sie leise. »Dass ich nach Anouks Geburt schwer depressiv war, habe ich dir ja schon erzählt.« Sie nimmt eine Toastkruste von ihrem Teller und zerbröselt sie nervös. »Ich war völlig überfordert: der Haushalt, das ständige Babygeschrei, die körperliche Schwäche nach der schweren Geburt … Heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen, aber damals gab es Momente, in denen ich fest davon überzeugt war, Anouk hätte es nicht schlechter treffen können als mit mir. Warum sonst heulte sie Tag und Nacht? Warum hatte ich überhaupt ein Kind in die Welt gesetzt? In diese verschmutzte, schlechte Welt? Eines Nachmittags platzte mir fast der Kopf von dem dauernden Geplärre, ich konnte nicht mehr klar denken. Im nächsten Moment stand ich mit einem Kissen neben der Wiege. Ich drückte es gerade auf Anouks Gesicht, als Menno von der Arbeit nach Hause kam …« Lisas Stimme bricht. Sie richtet den Blick auf ihren Teller voller Krümel, um nicht sehen zu müssen, wie seine Augen aufblitzen.
Es bleibt so lange still, dass sie schließlich doch aufsieht. Kreuger hat sich zurückgelehnt und mustert sie abwartend.
»Menno hat mich in ein Krankenhaus gebracht«, fährt Lisa fort. »Er hat mich nicht dazu gezwungen, ich bin freiwillig mitgekommen. Weil ich wusste, dass ich es sonst wieder versuchen würde. Erst später, als ich wieder ganz gesund war, konnte ich das Zusammensein mit Anouk genießen.«
»Du hast mir also nicht gleich alles erzählt.«
»Das ist ja nichts, worauf man stolz sein könnte.«
»Aber dann hast du gedacht, einem Verbrecher, der die eigene Familie umgebracht hat, kannst du es ruhig beichten.«
»So in etwa …«
Ihre Antwort scheint ihn zu entwaffnen, ein Grinsen überzieht sein Gesicht. »Wir haben also mehr gemeinsam, als ich dachte.«
»Vermutlich hat jeder seine Abgründe, aber kaum einer gibt zu, wie nah er schon am Rand stand.«
Kreuger nickt.
Er glaubt mir, denkt Lisa. Der Idiot glaubt tatsächlich, ich hätte mein eigenes Kind ersticken wollen.
In der darauffolgenden Stille klingt das schrille Telefonläuten wie eine Explosion. Lisa fährt hoch, und auch Kreuger steht so schnell auf, dass sein Stuhl umkippt.
Er greift nach dem Haustelefon, das er an seinen Gürtel gehängt hat, und wirft einen Blick auf das Display.
»Mutti«, liest er laut. »Okay, geh ran. Aber denk daran: keine Andeutungen oder Tricks. Du redest ganz normal mit ihr, klar? Weder zu lange noch zu kurz.« Er schiebt Lisa in die Küche, reicht ihr das Telefon und fügt hinzu: »Stell den Lautsprecher an. Es gehört sich zwar nicht, aber in diesem Fall will ich mithören.«