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Das Zusammenspiel zwischen Körper und Seele ist ein seltsames Phänomen. Dass Gedanken starke Selbstheilungskräfte mobilisieren können, ist allgemein bekannt, doch wie das genau funktioniert, liegt nach wie vor im Dunkeln. Wenn einen Gedanken krank machen können, überlegt Senta, dann müsste es doch auch möglich sein, sich »gesund zu denken«.
Sie holt tief Luft, konzentriert sich mit aller Kraft aufs Aufwachen und kämpft sich in Richtung Oberfläche.
Und plötzlich durchstößt sie die zähe Membran, die sie die ganze Zeit von der Welt getrennt hat.
Sie schlägt die Augen auf und lässt den Blick schweifen. Karten und Fotos auf ihrem Nachttisch, Plüschtiere am Fußende des Betts, ein kleiner Fernseher auf einer Wandhalterung … es läuft gerade ein Telefonquiz.
Durch das Fenster flutet Sonnenlicht ins Zimmer.
Ganz langsam hebt sie die Hand und hält sie ins Licht. Sie spürt angenehme Wärme auf der Haut, und mit einem Mal kommen ihr die Tränen.
In nächsten Moment betritt eine dunkelhaarige Frau das Zimmer. Sie trägt einen Arztkittel und um den Hals ein Stethoskop. Überrascht bleibt sie stehen, als ihr Blick auf Senta fällt.
Minuten später ist das Zimmer voller weiß gekleideter Menschen, die aufgeregt durcheinanderreden.
Die Ärztin setzt sich zu Senta, nimmt ihre Hand und fragt, wie sie sich fühle.
»Gut«, will sie sagen, bringt aber kaum mehr als einen u-Laut zustande, dennoch scheint die Frau sie zu verstehen.
»Ich heiße Lilian Reijnders und bin Internistin«, sagt sie. »Sie haben uns ganz schön in Atem gehalten, Frau van Dijk. Wie gut, dass Sie aufgewacht sind!«
»Wo …«
»Sie sind auf der Intensivstation der Radboud-Klinik in Nijmegen. Sie hatten einen Unfall, können Sie sich daran erinnern?«
Verwirrt sieht Senta die Ärztin an. Einen Unfall?
»Egal, die Erinnerung wird schon wiederkommen«, sagt Frau Dr. Reijnders tröstend.
Freek … die Kinder … Senta will nach ihnen fragen, bringt aber kein Wort heraus. Anscheinend kann die Ärztin Gedanken lesen, denn sie lächelt ihr aufmunternd zu und sagt: »Ihre Familie wird umgehend benachrichtigt. Und in der Zwischenzeit nehmen wir ein paar Untersuchungen vor.«
Senta lässt alles über sich ergehen: Es wird geprüft, ob sie ihre Gliedmaßen wieder bewegen kann, sie muss sagen, ob ihr etwas wehtut, man nimmt ihr Blut ab, und anschließend rollt eine Schwester sie auf ihrem Bett in den MRT-Raum.
Als sie wieder ins Zimmer kommt, sind Freek und die Kinder da.
»Senta, Liebling!« Freek kommt spontan auf sie zu, wartet dann aber, bis die Schwester das Bett platziert hat.
Ganz sanft, als könnte die geringste Berührung sie wieder ins Koma gleiten lassen, nimmt er ihre Hand und führt sie an seine Lippen.
»Wir haben uns Sorgen gemacht, Liebste, große Sorgen. Gott sei Dank bist du wieder aufgewacht!«
Ihr Mann sieht erschöpft aus, er hat rot geränderte Augen, offenbar von einer schlaflosen Nacht.
Ihr Blick fällt auf die Kinder am Fußende des Betts, auch sie wirken blass und erschöpft.
Freek beugt sich zu ihr und küsst sie sanft auf den Mund. »Wie fühlst du dich?«
»Müde«, flüstert Senta.
»Kein Wunder. Nach allem, was du durchgemacht hast.«
»Dabei müsstest du eigentlich gut ausgeruht sein«, meint Niels scherzhaft, was ihm einen Rippenstoß von seiner Schwester einbringt. »Red keinen Quatsch!«, zischt sie.
Senta lächelt ihren Ältesten an. Lang und schlaksig steht er da. In Jeans und ausgeleiertem T-Shirt, die Baseballmütze mit dem Schild nach hinten, will er cool und überlegen wirken, aber sie merkt ihm die ausgestandene Angst dennoch an.
Spontan streckt sie die Hände nach ihm aus. Niels kommt auf sie zu und umarmt sie ein wenig unbeholfen.
»Gut, dass du wieder bei uns bist, Mam«, sagt er leicht heiser.
Kaum hat er sich aus ihren Armen gelöst, stürmt Denise auf Senta zu, drückt sie an sich und küsst sie auf die Wange. »Weißt du, was die Ärztin gesagt hat, Mam? Dass du vielleicht nie wieder aufwachst!« Verstohlen wischt sie sich die Augen.
»Das hat die Ärztin nicht gesagt«, mischt Freek sich ein. »Das hast du im Internet gelesen, Denise. Ich hab dir gleich gesagt, dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, was auf diesen Sites steht.«
»Aber es hätte doch sein können! Immerhin hat Mam im Koma gelegen!«, ruft Denise.
Senta wendet sich Jelmer zu, der wortlos neben seinem Vater steht. »Na, mein Schatz«, sagt sie leise, »wie geht es dir?«
Sofort setzt Jelmer sich zu ihr aufs Bett und schmiegt sich an sie. Senta rutscht ein wenig beiseite, legt den Arm um ihn, wuschelt durch seine dunklen Locken und küsst ihn auf die Stirn. Der vertraute Kindergeruch erinnert sie an Einschlafrituale und Gutenachtgeschichten, an abendliches Knuddeln und nasse Schmatzküsse.
Wie konnte sie nur ihre Familie vergessen?
»Macht euch keine Sorgen«, sagt sie. »Ich bin wieder bei euch. Alles ist in Ordnung.«
Ganz vorsichtig, als wäre er davon noch nicht so recht überzeugt, streicht Freek ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Weißt du denn noch etwas von dem Unfall? Und wie du überhaupt in dieser Gegend gelandet bist?«
»Ich erinnere mich bloß noch daran, dass ich auf dem Rückweg von einem Termin war. Und dann …« Sie überlegt angestrengt. »Dann zog plötzlich dichter Nebel auf. Ja, das weiß ich noch. Ich kam an eine Kreuzung, konnte die Schilder kaum lesen und muss falsch abgebogen sein.«
»Aber warum bist du so schnell gefahren? Das ist so gar nicht deine Art, sonst bist du doch eher übervorsichtig.«
Erstaunt sieht Senta ihren Mann an. »Ich bin zu schnell gefahren?«
»Unverantwortlich schnell, das hat ein Zeuge gesagt«, mischt Niels sich ein. »Und er muss es wissen, schließlich hat er den Unfall gesehen.«
»Wenn der Mann dort nicht zufällig mit seinem Hund spazieren gegangen wäre …« Freek beendet den Satz nicht.
Ein unbehagliches Gefühl beschleicht Senta. Ihr ist, als würden sie über einen Film reden, den alle kennen und in dem sie die Hauptrolle spielt, ohne sich an etwas erinnern zu können.
»Was genau ist passiert?«, fragt sie unsicher.
»Weißt du das wirklich nicht mehr, Mam?«, ruft Denise verwundert. »Du bist in den Kanal gefahren! Um ein Haar wärst du ertrunken!«
Es ist wie ein Schlag vor den Kopf. Ertrunken! Daher das Gefühl, sie befände sich unter Wasser und müsste um jeden Preis an die Oberfläche gelangen.
»Wer … wie …«
»Ein Passant hat es gesehen und dich gerettet«, hilft Denise ihr auf die Sprünge.
Senta fasst sich an die Stirn und beginnt, sie mit langsam kreisenden Bewegungen zu massieren. »Ich weiß nichts mehr … absolut nichts.«
Eine ganze Weile ist es still.
»Das spielt jetzt auch keine Rolle«, sagt Freek schließlich. »Hauptsache, du lebst und hast keine bleibenden Schäden davongetragen.«
Das bleibt abzuwarten, denkt Senta. In Freeks Blick liest sie, dass er sich die gleiche bange Frage stellt. Aber vor den Kindern sprechen sie es nicht aus.
Sie lebt, sie erkennt ihre Familie, sie kann sprechen und sich bewegen – alles andere wird sich weisen.
»Sei froh, dass du dich an nichts erinnerst«, meint Niels. »So bekommst du wenigstens keine Albträume wie neulich nach diesem Horrorfilm.«
Alle lachen befreit, auch Senta.
Die Atmosphäre entspannt sich zunehmend, die Kinder reden durcheinander und witzeln. Jelmer steht auf und inspiziert die Röhrchen, Schläuche und Monitore neben ihrem Bett.
Freek setzt sich zu ihr und streichelt unaufhörlich ihre Hand.
Senta sagt nicht viel, sie genießt es einfach, wieder im Leben zu sein. Der Besuch ihrer Familie ermüdet sie allmählich, aber lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, als das zu sagen.
Niels hat recht, denkt sie. Wahrscheinlich ist es besser, ich erinnere mich an nichts, dann kann es mich auch nicht belasten.
Plötzlich hat sie das Gefühl, es sei sehr wichtig, sich doch an den Unfall zu erinnern, vor allem an den Grund, weshalb sie in dieser Gegend war und so unverantwortlich schnell gefahren ist.