27
Wieder verbringt sie die Nacht mit Anouk im Keller. Als Kreuger am nächsten Morgen die Tür aufschließt, scheint eine Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Er wirkt schuldbewusst, zu Lisas Verwunderung hat er den Frühstückstisch gedeckt und auch schon Kaffee gekocht. Abwartend setzt sie sich an den Esstisch.
Auch Anouk nimmt die veränderte Atmosphäre wahr, denn sie wirft ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. Als Kreuger kurz wegschaut, zuckt Lisa mit den Schultern.
Beim Frühstück wechseln sie lediglich ein paar belanglose Sätze über das Wetter. Dann sagt er völlig unvermittelt: »Wenn ich dich fragen würde, ob du mit mir kommst, würdest du dann Ja sagen?«
Die Frage trifft Lisa wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Löffel, mit dem sie gerade Marmelade auf ihr Brot gegeben hat, bleibt wie ein Ausrufezeichen in der Luft hängen.
»Mit dir kommen? Von hier weg, meinst du?«, fragt sie, als könnte man sein Ansinnen auch anders verstehen.
Kreuger nimmt einen Schluck Kaffee und nickt. »Würdest du?«
Lisas Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Nach einem warnenden Seitenblick zu Anouk sagt sie gelassen: »Wer weiß …«
Kreuger gibt einen Löffel Zucker in seine Tasse und rührt kräftig um. »Oder würdest du bei der ersten Gelegenheit davonlaufen?«
»Das habe ich die letzten Tage doch auch nicht gemacht.« Lisa zwingt sich zu einem Bissen Brot und kaut ausgiebig, bevor sie ruhig weiterspricht. »Ich bin hier zu Hause und betrachte dich als meinen Gast. Gut, ich habe dich nicht eingeladen, aber wie sich herausgestellt hat, verstehen wir uns doch ganz gut, nicht wahr? Du hast mir versprochen, uns nichts zu tun, wenn wir dir keine Schwierigkeiten machen, und darauf verlasse ich mich. Warum sollte ich also davonlaufen?«
Er fixiert sie lange, aber sie bleibt vollkommen ruhig und hält seinem Blick stand. Als die Stille andauert, fragt sie wie nebenbei, wohin er überhaupt wolle.
»Ich habe Verwandte in Deutschland.«
»Deutschland ist groß.«
»Auch in unserem kleinen Land finden sie mich nicht«, erwidert er grinsend.
»Die Polizei sucht einen einzelnen Mann, keinen Mann mit Frau und Kind«, sagt Lisa. »Wir nehmen mein Auto, dann sind wir im Nu über der Grenze.«
Nur mit viel Mühe kann sie ihre Aufregung verbergen. Sind sie erst einmal im Freien, ist Kreuger mit Sicherheit irgendwann abgelenkt, und sie kann mit Anouk einen Fluchtversuch wagen. Oder einen Auffahrunfall verursachen, einen Zettel aus dem Autofenster werfen, an einer Tankstelle um Hilfe rufen … Möglichkeiten gibt es genug.
»Hmmm, ich weiß nicht so recht.« Kreuger trinkt seine Tasse mit ein paar großen Schlucken leer. »Aber dein Auto könnte ich gut gebrauchen.«
»Nimm es ruhig«, bietet Lisa an. Neue Hoffnung keimt in ihr auf. Vielleicht verschwindet er ja noch heute, womöglich ist der Albtraum schon nach dem Frühstück zu Ende. »Ich glaube, ich habe noch ein paar Kleider von Menno hier, und wenn wir dein Haar blond färben, erkennt dich kein Mensch.«
Nachdenklich mustert er sie: »Und was mache ich mit dir?«
Lisas bekommt Herzrasen. Um Zeit zu gewinnen, nimmt sie einen Bissen Brot, aber er klebt ihr zäh am Gaumen. Sie spült ihn mit einem tüchtigen Schluck Kaffee hinunter. »Du glaubst, ich würde die Polizei benachrichtigen?«
»Das glaube ich nicht, das weiß ich«, entgegnet Kreuger ruhig.
»Vielleicht irrst du dich.«
»Mag sein, aber das Risiko ist mir zu hoch.«
Lisa bricht der Schweiß aus, ihre Hände werden klamm. Worauf will er hinaus?
»Wenn du fort bist …«, sagt sie, auf jedes einzelne Wort achtend, »und ich rufe die Polizei, dann haben sie dich ja noch nicht, und du könntest dich an mir rächen.«
»Sehr richtig«, bestätigt Kreuger.
»Wenn sie dich nie zu fassen kriegen, müsste ich den Rest meines Lebens in Angst verbringen, und darauf habe ich wirklich keine Lust. Ich will ein ganz normales Leben führen und unbesorgt aus dem Haus gehen können. Dich würde ich als Gast in Erinnerung behalten, mit dem ich eine Abmachung getroffen habe.« Sie sieht ihm fest in die Augen. »Die Abmachung, dass ich dich nicht verrate.«
Knisternde Spannung.
»Tja«, sagt Kreuger schließlich. »Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit: Ich nehme Anouk mit.«