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Wilde Panik erfasst sie, legt sich wie ein Reif um ihre Brust und treibt ihr den Schweiß auf die Stirn.
Sie zittert am ganzen Leib, ihr Atem geht stoßweise, und sie muss sich zusammenreißen, um nicht zu hyperventilieren.
Ruhig, ganz ruhig, sagt sie sich, er darf mir nichts anmerken. Wenn ich es geschickt anstelle, bin ich in ein paar Minuten draußen.
In ihrem aufgelösten Zustand kann sie unmöglich ins Wohnzimmer gehen. Er würde mit einem Blick sehen, dass sie völlig durcheinander ist. Aber hier im Flur kann sie auch nicht bleiben …
Senta ringt noch um Fassung, als zu ihrem Entsetzen die Tür ganz aufgeht und Mick Kreuger vor ihr steht.
Seltsam, dass sie sich an den Namen erinnert, obwohl sie die Fahndungsmeldung nur flüchtig verfolgt hat. Hätte sie es nur getan, dann wüsste sie wenigstens, was für ein Mensch da vor ihr steht.
Nervös wischt sie die schweißnassen Hände am Rock ab.
»Alles klar?« Kreuger mustert sie argwöhnisch.
Senta lächelt matt. »Zuckerschock«, sagt sie. »Ich hätte vor der Fahrt etwas essen müssen, aber ich habe das Mittagessen ausfallen lassen, das rächt sich jetzt.«
Nimmt er ihr diese Ausrede ab? Jedenfalls behält er sie scharf im Auge.
»Ich muss allmählich los. Ich halte Sie schon viel zu lange auf.« Um ihre wachsende Angst zu kaschieren, geht sie zur Haustür und drückt die Klinke. »Oh, abgeschlossen«, sagt sie scheinbar leichthin. »Na gut, dann gehe ich wieder über die Terrasse. Ich finde den Weg schon allein …«
Kreuger lehnt am Türrahmen und lächelt süffisant. Eine innere Stimme treibt Senta zur Eile an, sagt ihr, sie dürfe keine Sekunde länger zögern.
Entschlossen geht sie an ihm vorbei und streift ihn versehentlich. Im Wohnzimmer würde sie am liebsten losrennen, aber sie schafft es, sich zu beherrschen.
Ich muss mich ganz normal geben, denkt sie, mich freundlich verabschieden, sonst schöpft er Verdacht.
Ihre Absätze klackern über den Fliesenboden auf die Küche zu. Auf halbem Weg dreht sie sich um und sagt: »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Es wäre nett, wenn Ihre Frau mich anrufen könnte.«
Ihr wird bewusst, dass sie ihm gar keine Telefonnummer gegeben hat, sie tut einfach, als würde sie es vergessen. Er sagt kein Wort, lehnt nach wie vor grinsend am Türrahmen und fixiert sie.
Bei Senta schrillen sämtliche Alarmglocken, sie läuft in die Küche, zur Hintertür.
Sie ist abgeschlossen. Eine namenlose Angst erfasst sie. Sie rüttelt und reißt an der Klinke, packt dann einen Stuhl und versucht, damit die Scheibe einzuschlagen, aber das Glas hält stand.
Es ist zu spät, sie spürt und sieht es. Kreuger steht neben ihr und hat etwas in der Hand, das ihr kalte Schauder über den Rücken jagt.
Mit dem Mut der Verzweiflung holt sie mit dem Stuhl aus. Er wehrt sie lässig mit einem Arm ab, entwindet ihr den Stuhl und schleudert ihn beiseite.
Das Stromkabel liegt locker in seiner Hand. Senta kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, ihr Gehirn ist wie gelähmt, nicht aber ihr Selbsterhaltungstrieb.
Sie spannt sämtliche Muskeln an wie eine in die Enge getriebene Katze, die zum Sprung ansetzt, gleichzeitig spürt sie, wie ihre Angst in Wut umschlägt.
Mit einem schrillen Schrei stürzt sie sich auf ihn.
Weil er auf ihren Angriff nicht gefasst war, prallt er gegen die Spüle. Sie nutzt den Überraschungseffekt, zerkratzt ihm das Gesicht und rammt ihm kraftvoll das Knie in den Schritt. Fluchend krümmt er sich zusammen.
Senta rennt ins Wohnzimmer und sieht sich panisch um. Da die Türen verschlossen sind, bleibt ihr nur die Flucht nach oben, dort aber läuft sie Gefahr, in der Falle zu sitzen. Also muss sie das große Fenster einschlagen …
Ihr Blick fällt auf zwei Tischlampen mit gusseisernem Fuß. Sekunden später knallt eine davon ans Fenster, die Scheibe birst mit einem Knall. Senta ergreift die zweite Lampe und beginnt, die Glaszacken wegzuschlagen, um einen Durchgang zu schaffen.
Aus den Augenwinkeln sieht sie Kreuger und dreht sich um, doch diesmal lässt er sich nicht überrumpeln. Als sie die Lampe hebt, um zuzuschlagen, packt er ihren Arm und dreht ihn auf den Rücken.
Mit einem Schmerzensschrei lässt sie die Lampe los, im nächsten Moment spürt sie das Stromkabel am Hals. Unwillkürlich fasst sie sich an die Kehle, um es wegzureißen, aber Kreuger zieht fest zu. Sie kann nichts mehr gegen ihn ausrichten, bringt nur noch erstickte Laute hervor. Er macht ein paar Schritte rückwärts, sodass sie gezwungen ist, ihm zu folgen.
»Hast du etwa gedacht, du kommst hier lebend raus?«, zischt er ihr zu. »Eigentlich wollte ich es schnell und schmerzlos machen, aber vielleicht sollte ich mir Zeit nehmen.«
Er zieht das Kabel fester um ihren Hals, und Senta bekommt kaum noch Luft. Ihre Augen quellen vor, der Körper zuckt, und sie sieht helle Flecken vor sich.
Schon einmal hat sie sich so gefühlt und mit dem Leben abgeschlossen. Ganz plötzlich ist die Erinnerung wieder da, wenn auch nur dieser eine Moment. Hätte sie einen Nothammer gehabt, wäre es nicht so weit gekommen. Sie hätte die Scheibe damit einschlagen können und wäre frei gewesen.
Grelle Farben und seltsame Formen tanzen vor ihren Augen, dazwischen leuchtet knallgelb der Nothammer auf.
Während sie mit einer Hand vergeblich weiter an dem Kabel zerrt, tastet sie mit der anderen nach der Jackentasche und greift hinein. Sofort spürt sie den schmalen Hammer mit der Stahlspitze. Sie nimmt ihn aus der Tasche, holt aus und schwingt ihn nach unten, zwischen Kreugers Beine.
Sein Aufschrei verrät, dass sie getroffen hat.
Das Kabel lockert sich. Senta schiebt rasch die Hand darunter, und bevor Kreuger reagieren kann, schwingt sie den Hammer nach hinten.
Ein Volltreffer ins Gesicht!
Er lässt das Kabel los, und Senta reißt es sich vom Hals.
Aus einiger Entfernung beobachtet sie ihn. Er hat die Hand ans Auge gedrückt und wimmert wie ein kleines Kind.
Senta keucht, den Hammer drohend im Anschlag. Der Schweiß läuft ihr in die Augen.
Langsam geht Kreuger in die Knie und presst beide Hände an das Auge. Blut rinnt zwischen den Fingern hindurch.
Senta zögert. Noch vor wenigen Minuten hat sie in Notwehr gehandelt, aber einen verletzten Menschen gezielt totschlagen, das bringt sie einfach nicht über sich.
Den Tränen nahe, nimmt sie ihr Handy, wählt den Notruf und gibt rasch durch, was passiert ist und wo sie sich befindet.
»Wir kommen sofort!«, sagt die Frau am anderen Ende.
Senta sieht, dass Kreuger halb gebückt auf sie zukommt. Blitzschnell hebt sie ihre Waffe.
»Bleib mir vom Leib, oder ich schlag dir den Schädel ein!«, schreit sie. »Ich habe die Polizei gerufen, sie ist gleich da!«
Langsam richtet er sich auf, die Hand nach wie vor am Auge. »Elendes Miststück! Glaubst du etwa, du kommst so davon? Ich werd dich …« Mit einem Wutschrei stürzt er sich auf sie, doch er kann seine Bewegungen nicht mehr richtig koordinieren. Senta tritt schnell zur Seite, und er knallt mit dem Kopf an den Rahmen der Küchentür.
Es kracht so laut, dass sie glaubt, er habe sich den Schädel gebrochen. Langsam sinkt er zu Boden.
Reglos und mit geschlossenen Augen liegt er da, dennoch traut Senta der Sache nicht. Zitternd geht sie in einem weiten Bogen um ihn herum und betrachtet ihn argwöhnisch von allen Seiten.
Wenn er sich bewegt, muss sie ihn erneut k. o. schlagen. Die Polizei ist unterwegs, in zehn Minuten, höchstens einer Viertelstunde wird sie da sein – bis dahin muss sie durchhalten. Dann ist der Albtraum vorbei …
Plötzlich hört sie etwas und spitzt die Ohren. Irgendwo im Haus hat es geklopft. Das Geräusch ertönt in kurzen Abständen immer wieder. Irritiert sieht sie sich um. Ist hier etwa noch jemand?
Ihr Blick fällt auf ein Foto von der Frau und dem Mädchen, und mit einem Mal weiß sie, warum sie dieses Haus immer wieder vor sich gesehen hat.