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Senta vergewissert sich, dass Kreuger nach wie vor reglos daliegt, dann geht sie in die Küche, wo ihr jedoch nichts Besonderes auffällt.
Inzwischen erklingen auch Hilferufe, schwach und gedämpft wie aus einem Schrank. Senta betritt die angrenzende Waschküche und stellt fest, dass die Rufe von jenseits einer Holztür kommen. Jemand hat in großer Hast oder Wut aufs Geratewohl fünf Bretter davorgenagelt, und Senta muss nicht lange überlegen, wer das war. Auch was Kreuger als Nächstes vorhatte, ist unschwer zu erkennen: In einer Ecke liegen leere Flaschen, die Bretter an der Tür sind mit Spiritus getränkt, und vor der Tür hat sich eine tellergroße Pfütze gebildet.
Senta beugt sich vor und ruft: »Ist da jemand?«
»Ja! Wir sind eingeschlossen! Bitte helfen Sie uns!« Eine Frauenstimme.
»Die Tür ist vernagelt! Ich suche rasch etwas, um die Bretter zu entfernen!«, ruft Senta.
»Werkzeug ist in der Garage, aber die ist abgeschlossen!« Die Stimme der Frau klingt ganz nahe, vermutlich steht sie direkt hinter der Tür.
Sentas Blick geht zur Garagentür. Der Schlüssel steckt. Als sie öffnet, schlägt ihr wieder dieser merkwürdige Geruch entgegen, nur stärker, irgendwie muffig, metallisch. Im nächsten Moment sieht sie einen Menschen am Boden liegen.
Entsetzt prallt sie zurück und will schnell die Tür zuschlagen, doch dann fasst sie sich ein Herz, knipst das Licht an und wirft einen Blick auf den Mann. Sie ist sich sicher, dass er nicht mehr lebt. Er liegt zwar auf dem Bauch, aber die breite Blutspur von der Tür bis zu seinem Körper spricht eine deutliche Sprache. Draußen ist das Blut offensichtlich aufgewischt worden, nicht aber in der Garage.
Sie wendet den Blick ab, geht an der Leiche vorbei und sucht nach Werkzeugen. Es liegt mehr als genug herum.
Mit einer Brechstange betritt sie die Waschküche und schiebt sie entschlossen hinter das erste Brett. Sie stemmt einen Fuß gegen die Wand und zieht. Es geht langsam und kostet weit mehr Kraft als gedacht, doch schließlich hat sie es geschafft, und alle Bretter liegen am Boden.
»Die Bretter sind weg, aber ich habe keinen Schlüssel!«, ruft sie.
Als Antwort hört sie ein Schließgeräusch, und die Tür geht einen Spalt auf.
Ein blasses Gesicht, umrahmt von strähnigem blondem Haar, sieht sie an. »Wo ist er?«
»Im Wohnzimmer. Er ist bewusstlos. Oder tot, ich weiß es nicht. Kommen Sie doch raus!«
Senta hält der Frau die Hand hin und zieht sie sanft aus dem Keller. Tiefes Mitleid überkommt sie. Was hat die Arme bloß durchstehen müssen!?
»Ich heiße Senta«, sagt sie leise. »Keine Angst, es ist vorbei. Er kann Ihnen nichts mehr tun. Zur Sicherheit nehmen wir die Brechstange mit.«
Die Frau wischt sich die Tränen aus den Augen. »Meinen Sie wirklich? Ist er tot?« Dann zeigt sich Erkennen auf ihren Zügen. »Sie haben vor ein paar Tagen hier am Fenster gestanden!«
Senta nickt. Ja, so muss es gewesen sein, auch wenn sie es nicht mehr weiß.
»Wohnen Sie hier? Sind Sie Lisa?«
Ein Nicken.
Die zwei Frauen sehen sich an, dann dreht Lisa sich um und steigt die Kellertreppe hinab. Mit einem Mädchen auf den Armen kehrt sie zurück, geht in die Küche und legt das Kind auf den Fußboden. Es schlägt die Augen auf und murmelt etwas Unverständliches.
Senta wird leichenblass. »Um Gottes willen!«
»Wasser«, sagt Lisa nur.
Mehr Worte braucht es auch nicht. Rasch füllt Senta ein Glas, sieht einen Beutel Trinkhalme auf dem Tisch an der Wand und nimmt einen heraus.
Während sie das kleine Mädchen ein wenig aufrichtet, hält Lisa ihr das Wasser hin. Der Halm erweist sich als hilfreich, denn das Kind ist völlig geschwächt, kann sich erst nach ein paar Schlucken aufs Trinken konzentrieren.
Senta wendet sich an Lisa: »Das Mädchen ist völlig ausgetrocknet, es muss ins Krankenhaus.«
Lisa geht nicht darauf ein.
Unvermittelt steht sie auf, tritt in die Tür zum Wohnzimmer und betrachtet wortlos Kreugers reglosen Körper. »Der ist nicht tot«, sagt sie gepresst.
Senta ist ihr gefolgt und legt ihr die Hand auf den Arm. »Er kann uns aber nichts mehr anhaben, er ist schwer verletzt. Und ich habe die Polizei gerufen. Hören Sie doch!«
Sie hält den Finger hoch, um Lisa auf das Sirenengeheul in der Ferne aufmerksam zu machen.
»Der lebt noch!« Vorsichtig beugt Lisa sich über ihn.
Plötzlich stöhnt Kreuger und versucht, sich aufzusetzen. Sein Blick fällt auf Lisa, er stößt ein bösartiges Knurren aus und will sie packen.
Mit einem Schrei weicht sie zurück und greift nach der Brechstange, mit der Senta sie befreit hat.
Inzwischen hat Kreuger sich aufgerichtet und taumelt, eine Hand an sein Auge gedrückt, auf sie zu.
Als er die Stange sieht, bleibt er stehen und starrt Lisa an. Sie hält seinem Blick stand. Vor ihrem inneren Auge ziehen die Ereignisse der letzten Tage vorbei: Sie durchlebt noch einmal die Angst, als er in ihr Haus eindrang und sie zu Boden schlug, sieht sein rot angelaufenes Gesicht, als er sie in ihrem eigenen Bett vergewaltigte, und sich selbst in völlig desolatem Zustand vor der Kloschüssel.
Und schließlich denkt sie an Menno, an die Liebe in seinen Augen, bevor sie brachen.
Ihre schlummernde Wut beginnt zu brodeln, kocht in ihr hoch und lässt Rachegelüste aufflammen. Lisa hat ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle, ihre geballte Wut bricht sich Bahn.
Ihr Gesichtsausdruck wird hart, sie macht einen Schritt auf Kreuger zu. Als sie mit beiden Händen die Brechstange hebt, weicht er zurück, stolpert und stürzt. Sein Blick hat nun etwas Flehendes, doch Lisa sieht nur den Spott und die Machtgier, die sein Gesicht die ganze Zeit zu einer bedrohlichen Maske verzerrt hatten.
»Dein Freigang ist beendet«, sagt sie. Sie spürt keinerlei Schmerz mehr in der verletzten Hand und lässt die Brechstange mit aller Kraft auf seinen Schädel sausen.
»Es ist vorbei, vorbei, vorbei!«
Erst als Kreuger sich nicht mehr rührt und der Fußboden und ihre Kleidung voller Blutspritzer sind, lässt sie die Stange fallen.
»Setzen Sie sich.« Senta, die das Geschehen entgeistert verfolgt hat, führt Lisa zum Sofa, wo diese lautlos zu weinen beginnt. Sie holt Anouk und setzt sie so neben ihre Mutter, dass sie die übel zugerichtete Leiche Kreugers nicht sehen muss. Sie geht zu ihr, es kostet sie große Überwindung, in seinen Taschen nach dem Haustürschlüssel zu suchen. Ihre Hände sind blutig, als sie damit in den Flur geht. Es kommt ihr vor, als wäre es viele Stunden her, dass sie hier stand und an der Klinke rüttelte. Mit zitternden Fingern dreht sie den Schlüssel im Schloss und macht die Tür weit auf.
Dann geht sie wieder ins Wohnzimmer und setzt sich neben Lisa und Anouk aufs Sofa. Niemand sagt ein Wort, sie lauschen der sich nähernden Polizeisirene. Zu dritt warten sie, bis das Geheul vor dem Haus verstummt.