August vor einem Jahr. Marie, Max und ich hatten uns gemeinsam mit Lynn, ihrem Bruder Choi, der zu Besuch war, Matt, Fiona und deren Schwester Kate ein Ferienhaus an einem kleinen Strand in Connecticut gemietet. Ein Traumurlaub. Jeder ging seinem eigenen Rhythmus nach und genoss die Gesellschaft der anderen. Wir waren eine perfekte Reisegruppe. Ganz unverhofft wie füreinander gemacht. Wenn ich morgens aufwachte, duftete es im ganzen Haus nach frischem Kaffee. Irgendjemand war immer schon joggen gewesen oder hatte auf der Veranda gelesen oder war bereits zum Markt gefahren. Wir ließen uns treiben an trägen Strandtagen, wir kamen in der Küche zusammen und kochten gemeinsam, wir stellten überall Kerzen auf und spielten Backgammon, als ein schweres Gewitter über die Region zog und der Strom für ein paar Stunden ausfiel. Es war ein ruhiger, ein leiser Urlaub. Lynn machte Witze darüber und betitelte uns als Seniorenverein. Doch ich war mir sicher, dass es ihr dort genauso gefiel wie allen anderen. Max und ich lebten sowieso dieses ruhige Leben, in dem wenig passierte und bei dem ich immer das Gefühl hatte, irgendjemand würde irgendwann sagen, dass das als Leben einfach nicht reiche, und ich würde antworten, doch, genau so.

Am letzten Abend in dem Ferienhaus kochten wir

»Auf uns, auf wen sonst!«, sagte Matt, und dann stand Marie auf und flüsterte vor Rührung: »Ich bin ehrlich dankbar, euch in meinem Leben zu haben. Und ich wünsche mir von Herzen, dass wir diesen Urlaub wiederholen.«

 

Max flog am nächsten Tag zurück nach Frankfurt, weil er zu viele Aufträge angenommen hatte, um sich länger als zehn Tage freizunehmen. Außerdem überforderte ihn generell das Konzept Urlaub. Als Kind war er mit seiner Familie jeden Sommer für drei Wochen an den Großen Brombachsee südlich von Nürnberg gefahren, später machte er oft Radtouren mit Achim und Freunden, doch insgesamt hielt sich die Zeit, die er sich freinahm, in Grenzen, und das bis heute.

Ich dagegen liebte das Konzept von Urlaub. Meine Überstunden, die ich regelmäßig samstags machte, legte ich obendrauf, um zweimal im Jahr für mehrere Wochen zu Marie fliegen zu können. Auch nach den Tagen in Connecticut blieb ich noch zwei Wochen bei ihr, und Max verpasste die beste Nacht, die Marie und ich jemals in New York erlebten. Das Schöne daran war, dass wir das damals nicht gewusst hatten. Wir wachten am nächsten Morgen auf, lachten über die vergangenen Stunden und sprachen davon, dass wir einen Glückslauf hatten. Dass auch diese Nacht unbedingt wiederholt werden musste. Darin lag jedoch die traurige Schönheit: dass solche Erlebnisse nur selten, manchmal nur ein einziges Mal passierten.

Der besagte Abend fügte sich also nahtlos an den vorangegangen Urlaub an. Nicht in seiner Ruhe, vielmehr in seiner Perfektion. Marie, Lynn, Choi und ich aßen in einem winzigen Restaurant in Chinatown zu Abend und marschierten

Vor dem Eingang des Clubs parkte eine schwarze Limousine. Eine Frau Ende vierzig lehnte an der Beifahrertür, sie trug einen Smoking und rauchte.

»Na, wie ist die Party?«, rief sie uns zu und lächelte.

»Party ist aus, wir geh’n nach Haus!«, rief Marie auf Deutsch und legte ihren Arm um mich.

»Kannst du uns nach Hause fahren?«, fragte Lynn, als sie zu uns aufschloss.

Die Frau überlegte einen Moment. »Klar. Wohin soll’s gehen?«

»Im Ernst?«, fragte Lynn wieder.

»Ich werde dafür bezahlt, hier zu warten, und ich weiß ganz genau, dass die erst in ein paar Stunden rauskommen.« Sie nickte in Richtung der Eingangstür, warf ihre Zigarette auf den Asphalt und trat sie aus. »Ist ziemlich langweilig, hier herumzustehen.« Dabei zwinkerte sie uns zu, auf eine fast mütterlich-beschützende Art. Dann öffnete sie die Hintertür. »Ladys, wenn ich bitten darf.« Wir kreischten laut auf, und Rosie, das war ihr Name, verdrehte die Augen.

In der Limousine sah es aus wie in unserem Wohnzimmer zu Hause, als wir fünfzehn waren und sturmfrei hatten. Auf dem Boden lagen leere Bier- und Sektdosen, und als ich

Lynn quiekte. »Hier sitzt eine, hier sitzt eine«, rief sie nach vorn, und Rosie warf einen Blick in den Rückspiegel. Lynn hob Maries Arm nach oben, und ich lachte, weil sie so betrunken war.

Rosie bog in die schmale Suffolk Street, um dann auf die Williamsburg Bridge zu fahren, während sie Marie über ihren Job ausfragte und immer größere Augen bekam. Als wir auf die Brücke fuhren, drückte Lynn ein paar Knöpfe in ihrer Armkonsole, und die Dachluke schob sich auf. Sie stand auf und schmiss die Arme in die Nachtluft. »Ich habe einen Musikwunsch!«

»Was?«, rief ich, während Marie an Lynns Beinen vorbei weiterhin versuchte, sich mit Rosie zu unterhalten.

»Der Tunnel-Song!«

»Was für’n Ding?«, fragte ich.

»Na, The Perks of being a Wallflower! Das ist der Song, der im Radio läuft, wenn die Kids durch den Tunnel fahren und Emma Watson auf der Ladefläche des Pick-ups steht und ihre Arme ausbreitet. Rosie, kannst du mal Heroes spielen?«

»Bowie?«

»Ja.«

Rosie drehte auf, und das Gespräch zwischen ihr und Marie pausierte. Lynn schrie »I, I will be king!« in die Nacht, und

Nach dem Song setzte sich Lynn wieder und gab Rosie ihre Adresse. Dann schrie sie unvermittelt auf. »Wir haben Choi vergessen!«

Wir hatten tatsächlich Choi vergessen.

»Ich dachte, er wollte noch bleiben. Du bist ja alleine rausgekommen«, sagte Marie.

»Weil ich euch hinterhergelaufen bin. Dachte, du rauchst was.«

Marie zog die Augenbrauen hoch.

»Ruf ihn an«, sagte ich, »er sucht uns wahrscheinlich überall.«

Ein paar Minuten später bog Rosie in die Wilson Avenue, und Lynn stieg aus. Dann fuhren wir zurück, und weil mit Lynn die Euphorie dieser Nacht ausgestiegen war, hatte die Rückfahrt etwas Melancholisches an sich. Das Ende der Party. Ich döste ein, bevor wir zurück auf der Brücke waren, und wachte erst wieder auf, als Marie mich weckte.

 

Ich stand auf dem Gehweg und starrte noch immer auf die geparkte Limousine vor mir, die mich auf einen Schlag in den Sommer des letzten Jahres katapultiert hatte. Nach ein paar Augenblicken riss ich mich los und ging weiter, die Bleecker Street entlang, das Herz des West Village, in das es mich an diesem Tag gezogen hatte.

In der Magnolia Bakery holte ich mir einen lächerlich teuren Cupcake. Draußen vor der Tür biss ich hinein und fühlte nichts. Ich biss noch mal hinein, ich verschlang ihn regelrecht, als ob ich irgendetwas suchte, das nicht in einem Dessert zu finden war. Während ich kaute, stand plötzlich eine Frau vor mir. Ich trat zur Seite, um ihr den Weg zur Tür

»Oh, hi.«

Ich schluckte schnell, um nicht mit vollem Mund zu sprechen. »Hi.«

Plötzlich musste ich daran denken, wie Lynn einmal gesagt hatte, dass sie es liebte, Menschen zu beobachten, die sich zufällig trafen – im Supermarkt, auf der Straße, im Urlaub –, sich allerdings lieber aus dem Weg gegangen wären. »Die Unfähigkeit, mit spontanen Aufeinandertreffen elegant umzugehen, ist mit das Beste, was Menschen an Unterhaltung bieten können.«

Sie legte ihre Hand auf den Türgriff und sah mich an. »Ist das ein Vanilla Cupcake mit Chocolate-Buttercream-Füllung?«

Ich nickte und fuhr mit meiner Zunge über die Zähne, weil ich befürchtete, gleich etwas erwidern zu müssen.

»Die mag ich am liebsten.«

Es irritierte mich, dass sie viel gelassener mit der Situation umging als ich. In ihrer Gegenwart kam ich mir plötzlich vor wie ein kleines Kind, das ihr ein paar Tage zuvor einen Klingelstreich gespielt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wusste jedoch nicht, wofür.

»Wollen wir einen Kaffee trinken?«, fragte sie mich.

 

Ihr Name war Alison. Wir setzten uns mit den heißen Kaffeebechern auf eine Bank in dem kleinen Park direkt gegenüber. Ich war schon oft daran vorbeigelaufen und fand es immer schön, wenn jemand zwischen den gepflegten Blumenbeeten

»Schön, eine Nachbarin hier zu treffen. Ich schätze es zwar, für mich sein zu können, aber ab und an sitze ich in meiner Wohnung und denke mir, dass es schon sehr kurios ist, ein Haus mit so vielen Menschen zu teilen und sich gar nicht zu kennen.«

Mein Kiefer spannte sich an, weil ich mich unwohl fühlte. »Ja, ich kann das gut verstehen. Das Dorf, aus dem ich stamme, hat nur ein paar hundert Einwohner. Das komplette Gegenteil ist manchmal genauso anstrengend. Jeder weiß alles über jeden.«

Sie trank einen Schluck, und ich hoffte, dass sie meine belanglosen Worte nicht als Anspielung darauf verstand, was ich über sie wusste – und ihr als Notizzettel in die Hand gedrückt hatte. Ich lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.

»Sind Sie hier geboren?«

Sie winkte ab. »Oh, nein. Ich komme aus einem Nest in Rhode Island. Mein Vater ist Anwalt, ihm gehört eine große Kanzlei in der Stadt, und er ist meine ganze Kindheit über immer gependelt. Ich bin dann zum Studium in sein Apartment in New York gezogen.« Sie hielt inne. »Ich arbeite als Architektin.«

»Spannend.«

Sie schlug die Beine übereinander und fuhr sich durch das braune Haar. Ihr Haarschnitt war perfekt, er schmeichelte ihrem schmalen Gesicht. Ihre hellbraune Stoffhose saß wie angegossen, das blaue T-Shirt war einfach und strahlte doch neben meinem verknitterten Baumwollkleid Eleganz aus. Auf den Lippen trug sie einen blassrosafarbenen Ton, ihre Wimpern waren leicht getuscht. Ich fragte mich, ob sie für ihr Erscheinungsbild zehn Minuten oder zwei Stunden brauchte. Und ob unter ihrer Erscheinung das kleine Mädchen aus Rhode Island steckte oder die Frau, die von ihrem Ehemann geschlagen wurde. Oder beide.

Sie erkundigte sich, wie mir die Stadt gefiel, und ich antwortete das Gleiche wie damals in meinem Gespräch mit Cole. Dann wollte sie wissen, was ich beruflich machte, und auch da erzählte ich die Wahrheit. Dass ich als Journalistin arbeitete, jedoch für deutsche Arbeitgeber, und lediglich vorübergehend in der Stadt war. Das reichte ihr als Erklärung. New Yorker waren es gewohnt, ständig auf Leute zu treffen, die für eine Weile in der Stadt ihre Zelte aufschlugen, die es hier probieren wollten – was auch immer das bedeutete –, und viele verschwanden irgendwann.

Ich hätte ihr viele Fragen stellen können, vor allem jetzt, nachdem sie auf mich zugekommen war und angeboten hatte, einen Kaffee zu trinken. Doch wir schlitterten gemeinsam über eine Oberfläche, und ich konnte nicht einschätzen, ob sie untertauchen wollte. Vielleicht war sie nur einsam und suchte ein bisschen Gesellschaft. Vielleicht war sie der Typ Mensch, der ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums auf eine

»Ich war nur einmal in Europa. Während meines Studiums.« Ihr Blick verlor sich zwischen zwei jungen Mädchen, die ihre Köpfe über ein Smartphone zusammensteckten. »Mit zwei Freundinnen sechs Wochen durch Westeuropa. Madrid, Barcelona, Paris. Dann London, Berlin, Rom, Neapel und zum Abschluss Ischia. Unglaublich, wie die Zeit vergeht.«

»Hat es Ihnen gefallen?«

»Oh ja. Und nicht nur, was wir gesehen haben. Wir waren unzertrennlich. Ich glaube, das bleibt für immer die beste Reise meines Lebens.«

Ich bekam eine Gänsehaut, weil ich mich selbst vor wenigen Minuten in eine ähnlich bedeutsame Erinnerung geschlichen hatte. In meinen letzten perfekten Urlaub. Alison schüttelte sich zaghaft, als würde sie die Nostalgie freundlich bitten, die Gegenwart zu verlassen. Dann drehte sie sich mir zu.

»Ihr Zettel hat mich etwas irritiert«, sagte sie unvermittelt. »Aber ich möchte mich bedanken für die Aufmerksamkeit.« Sie zögerte kurz und sagte dann: »Nein, das ist das falsche Wort. Für die Zuwendung.«

Meine Kehle schmerzte sofort.

»Und natürlich möchte ich mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Oliver, mein Mann, steht beruflich unter großem Druck. Er arbeitet in der Kanzlei meines Vaters und ist seit Monaten für eine Fusionierung zuständig. Er wird schnell laut und – na ja, das sind dann wohl nicht die Höhepunkte unserer Ehe.« Sie trank einen Schluck und fügte dann lächelnd hinzu: »Wenn er weiterhin so gern streitet, müssen wir wohl alle paar Monate umziehen, sobald wir es uns wieder mit den Nachbarn verscherzt haben.«

Ich hatte mir vorgestellt, dass sie die Situation

Und doch fehlten mir nun die Worte. Ihr Mann wurde nicht einfach nur laut, er wurde handgreiflich. Ich hatte es selbst gesehen. Und auch die Fotos erzählten diese Wahrheit. Was ich mich fragte, war, ob diese Frau die Abgründe ihrer Ehe nach außen hin verschleierte oder ob sie so tief in einer Beziehung steckte, dass sie vor der Wahrheit schon lange die Augen verschloss? Wie ließ sich so etwas aushalten?

Meine Gedanken fielen so schnell in sich zusammen, wie sie sich aufbauten. Ich überlegte fiebrig, was ich antworten sollte. Dann kam mir eine Idee.

»Ich wollte Ihnen wegen der Lautstärke auf keinen Fall ein schlechtes Gewissen machen. Aber um ehrlich zu sein, höre ich Sie seltener, als dass ich Sie … sehe. Bitte nicht falsch verstehen.«

Meine Lippen zitterten sich zu einem Lächeln zusammen. »Seitdem ich hier bin, sitze ich gern draußen auf der Feuerleiter und schaue in den Hof. Da ist es manchmal einfach unmöglich, das Geschehen in den gegenüberliegenden Wohnungen zu übersehen.«

Ich spürte die Bewegung der Energie zwischen uns. Sie wusste, was sich mit meinem Eingeständnis nun nicht mehr leugnen ließ. Meine Finger verkrampften sich um den noch warmen Kaffeebecher.

»Sie haben die Polizei gerufen.«

Alison sah mich an, und wahrscheinlich konnte ich nur antworten, weil ich kein Urteil und keine Abneigung in ihrem Gesicht las. Einzig Verwunderung.

Sie lehnte sich zurück und blickte in die Baumkrone über uns. Der Wind ging durch die Blätter, und es raschelte.

Sie atmete laut aus. »Ich habe es unter Kontrolle. Oliver war schon immer etwas unkontrolliert und aufbrausend, das ist nichts Neues für mich.«

Ich überflog ihr Profil, dann senkte ich den Blick. Ihr letzter Satz fühlte sich wie eine Zurückweisung an, wenn auch eine subtile. Wir saßen eine Weile schweigend da, und ich überlegte, was ich sagen sollte. Ob es hier für mich überhaupt etwas zu tun gab. Ich wollte mich ihr nicht aufdrängen, doch ich spürte auch eine spaltbreit geöffnete Tür zwischen uns, die mich ratlos zurückließ.

Dann begann sie, über den Wechsel der Jahreszeiten zu sprechen. Da lockerten sich meine Finger, die den Kaffeebecher umschlossen, und ich sah ein paar Blättern nach, die über den Asphalt wirbelten.

***

Als Cole mich anrief, zögerte ich, abzunehmen. Nach dem Gespräch mit Alison war mir aufgefallen, wie erschöpft ich war, und nicht nur aufgrund der unkontrollierbaren Trauerschübe, die mich tagsüber und nachts überfielen und deren Erholungsphasen manchmal direkt in den nächsten übergingen. Es lag auch daran, dass ich es nicht gewohnt war, Menschen, die ich kaum kannte, Facetten von mir zu zeigen, die sonst nur enge Freunde zu sehen bekamen. Doch Cole gegenüber empfand ich ein schlechtes Gewissen, seitdem wir uns das letzte Mal getroffen hatten. Also nahm ich ab.

»Mir ist eine Idee gekommen. Bezüglich deines Apartments.«

»Okay …?«

»Du hattest gesagt, dass es dir schwerfällt, alles auszuräumen. Dann kam mir ein Gedanke: Warum nicht andere machen lassen?«

Ich dachte an Max und dass er mir ein ähnlich klingendes Angebot gemacht hatte. Dass Cole sich nach unserem Abschied plötzlich wieder meldete und mir sogar helfen wollte, klang nach Mitleid.

»Lieb gemeint, aber danke. Du musst nicht alles ausräumen –«

Er unterbrach mich lachend. »Lass mich mal ausreden, ja? Ich rede nicht von mir. Ich rede von einem open house

»Ich soll einen Tag der offenen Tür veranstalten?«

»So ähnlich. Ein Kumpel von mir hat das mal gemacht, und es hat irre gut funktioniert. Du schaltest einfach eine Anzeige zur Wohnungsauflösung. Wenn du alles verschenkst, rennen die Leute dir innerhalb von Minuten die Bude ein. Aber du kannst natürlich auch verkaufen. Du kannst machen, was du willst, aber glaub mir: Wenn es irgendwo was günstig und schnell zu holen gibt, ist das Ding in einer halben Stunde leergeräumt.«

»Cole, ich …«

»Ich weiß. Es hört sich einfach an und so, als wüsste ich nicht, worum es wirklich geht. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, dann hängst du mittlerweile seit fünf Wochen in New York herum und hast nichts gemacht. Du steckst fest.«

Ich sagte nichts.

»Schöne Metapher«, sagte ich.

Wir schwiegen.

»Ich konnte es nicht lassen und habe deine Schwester gegoogelt«, begann er dann. »Starke Arbeit, die sie da hinterlassen hat.«

Ich schloss die Augen.

»Ich hab auch ein Interview mit ihr gelesen, in dem sie über eine bestimmte Reihe spricht. Mir fällt gerade der Titel nicht ein. Die mit den Schussverletzungen.«

»The (w)hole story.«

Cole schnalzte mit der Zunge. »Damn. Und weißt du, was echt verrückt ist? Da hat’s mir fast den Stecker gezogen. Ich kenne einen davon. Den weißen, dünnen Typen aus der Bronx, der die Schusswunde in der Backe hat? Der hat vor ein paar Jahren regelmäßig in einem Club aufgelegt, wo ich gearbeitet habe.«

Er wartete gar nicht erst eine Antwort von mir ab, ging nahtlos über zu: »Karla, ich muss auflegen. Überleg’s dir mit dem open house. Ich komme vorbei und helfe dir, das ist mein Abschiedsgeschenk. Aber ich dränge mich nicht auf.«

Ich fand meine Sprache wieder, begann plötzlich in Deutsch, korrigierte mich. »Der Tag auf Coney Island … das war doch dein Abschiedsgeschenk.«

Er hielt inne. Ich konnte sein Lächeln hören, als er hinzufügte: »Dann gibt es eben zwei Geschenke. Ist ja nicht so, als hättest du gerade eine Glückssträhne.«

 

Ich saß auf dem Boden und lehnte mich ans Sofa, ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen. Es wurde Zeit. Zeit zu gehen, ich wollte nicht länger hier sein. Ich wollte nach Hause. Es gab auch dort viele Orte, um weiterzutrauern, sogar viel mehr als hier. Die scheiß Schöne Aussicht zum Beispiel, auf der wir hinter einem Baum mit dreizehn unsere erste Zigarette gepafft hatten.

Ich richtete mich auf. Es gab genügend Minenfelder in Unterfranken, auf die ich ganz bewusst treten konnte, ohne zu wissen, ob sie mich zerreißen oder trösten würden. Oder beides, hintereinander. Mein Blick fiel auf den einzig auseinandergefalteten Umzugskarton, in den ich ein paar von Maries Büchern gelegt hatte, von denen ich mich zu trennen vermochte.

Man kann Trauer nicht einfach wegpacken, sagte ich in Gedanken, wütend.

Aber man kann Raum schaffen für alles andere, antwortete meine Schwester, sanft.