Weil es regnete, trafen wir uns drinnen. Ich hatte vorgeschlagen, auf der High Line spazieren zu gehen. Jetzt im September hing die Wärme noch immer in den Gassen und wurde vom Teer zurückgeworfen, doch ich wollte es vermeiden, dass wir uns direkt ansehen müssten, deshalb schien ein Spaziergang eine gute Idee. Als es zu regnen begann, schlug Patrick Dawson eine Starbucks-Filiale an der Canal Street vor. Dass er die immer überlaufene und seelenlose Cafékette für so ein intimes und sensibles Gespräch wählte, verwirrte mich anfänglich. Aber vielleicht musste er den Trubel der Großstadt um sich haben, weil der so wahnsinnig gut Zwischentöne verschlucken konnte.

 

Patrick Dawson hatte seine Frau mitgebracht. Sie stellte sich als Shelly vor. Beide waren um die dreißig und zumindest optisch ein Paar, das auffiel. Patrick war groß und sehr dick, er trug eine Jeans, ein graues Shirt und darüber ein offenes Flanellhemd, obwohl die Straßen aufgrund des Regens dampften. Die Hitze des Spätsommers zischte noch mal so richtig über der Stadt auf.

Shelly Dawson war zwei Köpfe kleiner als ihr Mann und beinahe mager. Ihr dünner Körper steckte in einem gepunkteten Sommerkleid mit Spaghettiträgern. Beide wirkten

»Ich hol die Getränke«, sagte Shelly und blieb stehen. »Das geht auf uns. Was willst du trinken?«, fragte sie an mich gerichtet und wirkte kindlich stolz auf diese Einladung.

»Danke, das ist nett. Ich nehme einen kleinen Cappuccino.«

Sie nickte und ging, ohne ihren Mann zu fragen, was er wollte. Wahrscheinlich war dieser Teil im Vorfeld abgesprochen worden. Patrick Dawson wischte sich mit seiner Hand über die Stirn. »Vielen Dank, dass es doch noch geklappt hat.«

Ich nickte. Auch ich war nervös. Ich wusste nicht, was er von mir wollte, und hatte keine Fragen an ihn. Doch in ein paar Tagen würde ich New York verlassen. Und ich hatte nicht vor zurückzukehren. Vielleicht empfand ich es deshalb als wichtig, mich doch mit ihm zu treffen. Ich hatte mich daran gehalten, was Joe mir geraten hatte: Dass ich mich mit dem Mann, der meine Schwester überfahren hatte, verabreden sollte, wenn er mir nicht aus dem Kopf ging. Vielleicht hatte er mir etwas Wichtiges zu sagen. Vielleicht half mir ein Gespräch.

Es fiel mir schwer, nicht wütend auf ihn zu sein, auch wenn ich ihn so oft vor anderen verteidigt hatte. Aus der Ferne hatte mein Verstand mich immer gerettet. Sobald ich begonnen hatte, die Fakten zu verdrängen, hatte ich noch einmal den Polizeibericht gelesen. Doch nun saß dieser Mann vor mir. Ein mir fremder Name hatte sich zu einem realen Menschen geformt.

Während wir auf seine Frau warteten, redeten wir über Banalitäten, die ich in dem Moment vergaß, in dem ich sie aussprach. Ich beobachtete seine Hände, die schwitzten. Das

»Danke«, sagte ich, und dann atmete ich hörbar aus, um ein Zeichen zu geben, dass wir nun zum unangenehmen Teil unseres Treffens kommen konnten. Shelly stieß ihren knochigen Ellbogen sanft gegen den Arm ihres Mannes und rührte dann mit ihrem Strohhalm die Eiswürfel hin und her.

»Also, ja. Es ist schwer für mich, mit dieser Schuld zu leben. Ich weiß, dass mich im Prinzip keine trifft, ich hab nichts falsch gemacht, hab mich korrekt verhalten. Sogar mein ehemaliger Fahrlehrer hat mich angerufen, als er von der Sache gehört hat. Dem hab ich alles erklärt, und er meinte nur, dass er stolz auf mich ist.«

Darauf hatte ich keine Antwort. Alle wussten, dass Patrick Dawson keine Schuld traf. Aber den Gedankengang, in diesem Zusammenhang auf etwas stolz zu sein, konnte ich nicht nachvollziehen. Ein Mensch war gestorben. Meine Schwester.

»Na jedenfalls, also, Shells und ich, wir sind schon immer treue Kirchenmitglieder in unserer Gemeinde, aber seit dem Unfall engagieren wir uns so richtig.« Er suchte ihren Blick, und sie nickte ihm zu. »Wir treiben Spenden ein. Zum Beispiel.«

Ich kam kaum hinterher, doch als Patrick nichts hinzufügte, sagte ich: »Jeder geht anders mit so einer Situation um.«

Shelly lächelte mich an und stieß ihren Mann wieder in die Seite.

»Ich hab seit dem Unfall schlimme Rückenschmerzen«, sagte er. »Mir springen immer wieder drei Wirbel raus, und nachts hab ich Albträume, in denen ich deine Schwester und den Unfall sehe.«

Ich schloss die Augen und spürte meine Lider flackern. Ich

»Wir glauben, dass du uns helfen könntest«, sagte sie dann.

»Was meint ihr?«

Shelly faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. Mein Blick wanderte zum ersten Mal zu ihrem blondierten Haar, das strohig auf ihre Schultern fiel.

»Wir geben in unserem Glauben das zurück, was genommen wurde …«

»Was genommen wurde?«

Beide nickten.

Verstand ich das alles richtig? Manchmal tat ich mich in Gesprächen auf Englisch mit fremden Menschen etwas schwer, aber die beiden sprachen in recht einfachen, kurzen Sätzen, so dass ich mir bisher sicher gewesen war, ihnen folgen zu können – wenn auch nicht dem, was sie tatsächlich sagten.

»Das hilft uns sehr. Aber Patrick sollte eine Therapie machen, findest du nicht auch? Und er sollte Physiotherapie bekommen. Leider können wir auf Dauer nicht mal seine Medikamente bezahlen.«

Shelly rührte wieder in ihrem Plastikbecher.

»Wir glauben, dass der Tod deiner Schwester uns mit dir verbunden hat. Nichts geschieht ohne Grund. Ich leide Schmerzen, für die ich nichts kann, noch dazu kann ich mir die Hilfe, die ich brauche, nicht leisten«, sagte Patrick.

»Wie gesagt, das tut mir leid, aber –«

»Wir segnen dich bis an dein Lebensende!«, rief Shelly, und ich warf einen Blick zu den Nachbartischen. Niemand hatte aufgesehen. Manchmal vergaß ich, dass den New Yorkern so ziemlich alles egal war, während jeder Cafébesucher in Seekirch längst die Ohren gespitzt hätte.

»Ihr meint, dass ich dafür aufkommen soll?«

Schlamassel? Ich zog meinen Arm zurück.

Patrick rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ihm war die Situation wenigstens etwas unangenehm. »Bitte versteh uns nicht falsch. Wir sind uns deines Verlustes bewusst –«

»So bewusst!«, grätschte seine Frau ein.

»Doch wir – also, wir alle – müssen ja auch nach vorn schauen. Shells und ich, wir haben so viele Pläne. Und deine Schwester hatte doch Geld. Also, das haben wir gehört, sie war ja eine bekannte Fotografin, oder nicht? Und wir wollten nur sichergehen, dass mit ihrem Geld etwas Sinnvolles unterstützt wird.«

Ich starrte ihn an. Ich spürte, dass in meinem Körper gleich etwas passieren würde.

Bei Patrick schlich sich Scham in das Gesicht. Ich konnte nicht mehr. Mein Zwerchfell begann zu zittern, und ich fing an zu lachen. Zügellos, atemlos, eine Freiheit, wie ich sie gar nicht mehr gekannt hatte. So laut musste ich lachen, dass ich mein Gesicht in den Händen verbarg. Meine Augen tränten. Als ich mich langsam beruhigte, nahm ich die beiden wieder wahr. Shelly Dawson funkelte mich an.

Ich trank einen Schluck meines Cappuccinos. Dann stand ich auf, und Shelly tat es mir gleich.

»Deine Schwester ist schuld an allem.«

Da wollte ich sie ohrfeigen. Ich bohrte die Fingernägel in meine geballten Fäuste und ging.

 

Ich schleppte mich nach Hause und schaffte es gerade so die Treppen hoch und in die Wohnung. Die Zwischenräume in

Hey Marie, ich bin’s, Adam. Also ich, ähm, melde mich bei dir, weil ich unbedingt mit dir sprechen will. Ich krieg unser Treffen Ende Juni einfach nicht aus dem Kopf. Ich denke jeden Tag an dich, und Scheiße, Mann, das ist echt schlecht gelaufen. Lass uns noch mal reden, ja? Was sagst du dazu? Ich bin nächste Woche wieder in der Stadt. Deswegen melde ich mich auch jetzt. Ich würde dich gern sehen. Ich muss dich sehen. Und ich will nicht noch mal so unangekündigt auftauchen. Shit. Ich weiß, dass ich dich allein gelassen habe. Scheiße, ich hab dir echt weh getan … ob du es glaubst oder nicht, aber ich erinnere mich an vieles überhaupt nicht mehr. Was ich so gemacht habe … und all das. Aber ich weiß, dass ich uns aufgegeben habe und nicht du. Lass uns … – melde dich bitte bei mir. Ich muss dich wirklich sehen. Bis dann.

Mit voller Wucht schmiss ich das iPhone gegen die Wand und hörte das Glas endgültig brechen. Meine Gliedmaßen zitterten unter der Anspannung. Dann ging ich zum Bett und warf die Kissen und Bettdecke auf den Boden. Ich schob den Paravent zusammen und stieß ihn um. Ein schriller Blechsound zerschnitt den Raum. Ich riss den Holzschrank auf, schob die Klamottenstapel heraus und warf alles auf den Boden. Dann die Socken, die Unterwäsche. Die nächste Tür war dran. Kleider, Blusen, alles schmiss ich auf das Bett. Ich nahm die Kissen vom Boden und zerriss die Bezüge entlang der Nähte. Ich schleppte mich zu Maries Schreibtisch und fegte ihn mit einer Handbewegung leer. Das halbvolle Glas Wasser ging zu Boden. Wie ein Tier kroch ich unter den Schreibtisch und zog die Ordner mit den Steuerunterlagen und Verträgen hervor. Ich begann, Dokumentenstapel zu zerreißen, doch die Anstrengung stand in keinem Verhältnis zur Befriedigung, also ließ ich davon ab. Das Bücherregal mit den gerahmten Fotos. Perfekt. Lynn, unsere Eltern, Max, Fiona – alle Erinnerungen flogen, Glas zerschellte.

Inmitten der Scherben ließ ich mich zu Boden gleiten. Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich meinen Schrei mehr fühlte als hörte. Ich schrie ein einziges Mal, lange und laut. Dann musste ich husten, die Erschöpfung übernahm und ließ mich zusammensacken.

Nach der Ohnmacht kam die Wut. Ich war noch nie so wütend.

***

In den vergangenen drei Stunden hatte ich freundlich gelächelt, hatte mich mit »Miss, Miss!« anschreien lassen, Hände geschüttelt, mit mir verhandeln und mich am Arm herumzerren lassen, bis Cole dazwischengegangen war.

Eine halbe Stunde vor Beginn hatten die Ersten an der Tür geklingelt. Cole war noch gar nicht hier, also öffnete ich zögerlich und sah dabei zu, wie nach und nach Studentinnen, die noch wie Kinder aussahen, mehrere Paare und Familien, die ihre Kinder herumscheuchten, Maries Möbel aus der Wohnung trugen. Ein alter Mann in weiter Cordhose, Weste und einem Gehstock nahm sich Maries Schreibtischlampe und ging nickend an mir vorbei. Was ich verschenkte, war mit einem blauen Notizzettel versehen, was zu verkaufen war, mit einem gelben. Wovon ich mich niemals trennen würde, war in Boxen verstaut, die ich im Auge behielt, weil ich panisch war, jemand würde sich in dem ganzen Chaos auch daran bedienen.

Drei Stunden später war das Apartment praktisch leer geräumt, und nachdem ich zum Schluss den verzierten Bauernschrank des Vormieters für ein paar hundert Dollar verkauft hatte, bemerkte ich den Hall im Raum. Cole half den Käufern, einem Ehepaar aus Hoboken, gemeinsam mit zwei Nachbarn den Schrank nach unten zu tragen, während ich mich im Badezimmer einschloss.

Hier stellte ich mich für einen Moment selbst ab. Am Abend zuvor hatte ich die Wohnung verwüstet, daraufhin Stunden damit verbracht, sie aufzuräumen, um mich nur wenige Stunden später von allem darin und schließlich auch von den Wänden drum herum zu trennen. Es fühlte sich tatsächlich an wie das Abreißen eines Pflasters. Die Aktion rauschte an mir vorbei, und irgendwo fand ich ein Stückchen

Im fensterlosen Bad war es stickig. Ich öffnete die Tür und lugte in den Flur. Er war leer, und auch das Magnetboard war längst mitgenommen worden. Ein verlassener Clip lag auf dem Boden.

Im Wohnbereich warf ich einen Blick in das Eck, in dem nur noch mein Koffer stand, daneben die Kartons mit Gegenständen, von denen ich mich nicht trennen wollte: die Keramiktasse, aus der sie ihren Kaffee trank. Ein paar Kleidungsstücke, der fast ausgelesene Roman, Fotobücher, eine Sonnenbrille mit Gläsern in Herzform, ihr Parfüm. Und die Notizbücher, in die Sätze von mir gekritzelt waren, aber auch kleine Zeichnungen von ihr, dazwischen Zeitungsausschnitte, Post-its, kreuz und quer geklebt. Erinnerungsfetzen.

Auf dem Boden lag die Bettwäsche, in der ich heute Morgen nach nur wenigen Stunden Schlaf aufgewacht war. Wollmäuse flogen über den Boden, als ich die Tür ganz aufstieß. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe.

»Das war’s!«

Cole schloss die Wohnungstür hinter sich und schob den Riegel vor.

»Wir sind fertig?«

Er nickte und ging ins Badezimmer. Dort drehte er den Wasserhahn auf und gab ein lautes Stöhnen von sich. Als er zurück im Flur erschien, wischte er sich über das nasse Gesicht und lächelte mich an.

 

Das Fenster, unter dem noch vor ein paar Stunden Maries Schreibtisch gestanden hatte, war offen, es drangen wenige Geräusche herein außer den verlässlichen Sirenen sich entfernender oder sich nähernder Krankenwagen. Die süßlich-warme New Yorker Sommerluft vermischte sich mit dem Geruch von schwarzer Essigsoße in den kleinen Pappbechern vor uns. Ich hatte Cole gebeten, noch zu bleiben, doch weil so ein Essen für mein Verständnis gar nicht reichte, um mich für alles zu bedanken, hatte ich etwas vorbereitet, versteckt hinter meinem Koffer, das ich jetzt hervorholte.

»Was ist das?«, fragte Cole.

»Ein Dankeschön«, sagte ich und hielt das Bild umgedreht, so dass er es noch nicht sehen konnte.

»Aber es gab doch schon eins.«

»Vielleicht hast du ja eine Glückssträhne.«

Er lachte. Ich drehte das Bild um. Cole studierte es einen Augenblick, dann beugte er sich nach vorn. »Das ist …«

»… die Jamaica Avenue. Ich habe auf Maries Laptop ein paar Aufnahmen aus Queens gefunden. Die hier gefiel mir am besten. Es ist analog geschossen.«

Cole stand auf, griff das Bild am Rahmen und kniete sich davor. Es war eine dynamische Aufnahme, die Marie wohlmöglich im Gehen gemacht hatte. Im linken Bildhintergrund war die mit Graffiti überzogene Außenfassade des Beverly Hills Furniture zu sehen, im rechten Bildvordergrund ging ein

»Ich kenne jeden Zentimeter dieser Straße«, sagte Cole. »Genau da an der Ecke vor dem Beverly Hills Furniture hat mich meine Mutter mal angeschrien, weil sie mich im Laden daneben dabei erwischt hat, wie ich eine Packung Bonbons klauen wollte.« Irgendwann nahm er das Bild und stellte es an eine der nackten Wände. Dann drehte er sich zu mir um. Ich ging auf ihn zu und küsste ihn. Nicht, weil ich verliebt gewesen wäre, nicht weil er so gut roch, nicht, weil ich einen Gedanken an Marie verdrängen wollte. Ich küsste ihn, weil ich zum ersten Mal nach langer Zeit spürte, dass ich etwas ganz bewusst wollte, genau jetzt, in diesem Moment brauchte. Ich kostete seine Zuneigung aus. Und ich liebte jede Sekunde, während ich mit ihm schlief, weil ich auch darin eine Vergänglichkeit spürte. Jedoch eine, die mich zum allerersten Mal seit langem lebendig werden ließ.

 

In den frühen Morgenstunden stand ich auf. Mein Nacken war verspannt. Cole schlief noch auf der Luftmatratze, als ich in die Küche ging, um mir einen Kaffee zu machen. Die Bialetti hatte ich ebenfalls behalten, ich würde sie zu Hause neben meine alte Kaffeemaschine stellen, als Erinnerung daran, wie Marie mich damit aufgezogen hatte, dass ich guten Kaffee nicht von schlechtem unterscheiden konnte.

Ich schaltete die Herdplatte ein und streckte mich. Mit der heißen Tasse ging ich zurück ins Wohnzimmer und zog die Jalousie nach oben. Cole murmelte etwas im Schlaf und drehte sich weg vom Fenster. Er würde genauso verspannt aufwachen wie ich.

Barfuß stieg ich nach draußen auf die Feuerleiter, setzte mich und nippte am Kaffee. Die Sonne stand noch tief, in ein

Die Wohnung lag im Halbdunkel, die Sonnenstrahlen erhellten immer erst am frühen Abend all die Details. Mein Mitgefühl für Alison hatte sich nicht verringert. Seit unserem Gespräch dachte ich noch öfter an sie als zuvor, sie war eine mysteriöse Erscheinung in meinem Leben, und nun klang auch ihre Sprache in meinem Ohr, eine schnörkellose Melodie, von der ich nicht wusste, ob sie in Rhode Island verwurzelt war oder einfach zu Alison gehörte.

Ich fragte mich, wie lange sie bereits die Gewaltausbrüche ihres Mannes ertrug. Vielleicht so lange, dass sich die Möglichkeit, ihn zu verlassen, nicht mehr wie eine tatsächliche, eine machbare Möglichkeit anfühlte? Ich hatte keine Ahnung, doch ich konnte es mir vorstellen und auch nur so erklären. Das, was sie erlebte, war eine Verschiebung von Liebe, hinein in einen Bereich, der sie wahrscheinlich mit seiner ganzen Wucht übermannte. Vielleicht hatte diese Beziehung tatsächlich als etwas Außergewöhnliches, Liebevolles begonnen. Vielleicht war Oliver einmal ein anderer Mensch gewesen. Wie verließ man jemanden, den man einmal geliebt hatte? Den man vielleicht immer noch liebte, oder zumindest die Vorstellung davon? Der sich jedoch radikal verändert hatte und somit zur Bedrohung wurde? Woher wusste man, dass

Wann musste man gehen, um sich selbst zu schützen – und sollte man auch nur einen Tag bleiben, für den Menschen, der nicht nur einen selbst, sondern auch sich selbst zerstörte?

Ich trank einen Schluck Kaffee, als ich in Alisons Wohnung Bewegungen wahrnahm. Die Spiegelung der geschlossenen Fenster schob sich zwischen das, was geschah, und das, was ich glaubte auszumachen. Plötzlich fröstelte es mich. Konnte das sein? Ich beugte mich nach vorn, um besser sehen zu können, auch wenn die wenigen Zentimeter nicht halfen. Doch dann war ich mir sicher. Zwischen dem Schlafzimmer und der Diele gingen zwei Menschen hin und her, die weder Alison noch Oliver waren. Von den beiden keine Spur.

Zwei Männer, die dunkle, kurzärmelige Hemden trugen. Auf Höhe der Oberarme blitzte etwas Goldenes. Abzeichen?

Uniformen.

 

In Flipflops, Shorts und dem Shirt, in dem ich geschlafen hatte, trat ich auf die Straße. Ich sah den Krankenwagen sofort. Ich begann zu rennen, obwohl es nur wenige Schritte waren. Und obwohl ich wusste, dass ich nichts ändern konnte, hatte ich den Drang, keine Zeit zu verlieren.

Die Eingangstür stand offen. Es war das dritte Mal, dass ich dieses Haus betrat, und jedes Mal hatte ich mich unwohl gefühlt, mich gefragt, was ich hier tat, und mich trotzdem angeschoben, den nächsten Schritt zu gehen. Der Aufzug hing im dritten Stock. Ich legte meine schweißnassen Hände in den Nacken. Sie waren eiskalt. Er hatte Alison krankenhausreif geschlagen, und ich hatte die ganze Zeit tief in meinem Inneren gewusst, dass es jederzeit dazu kommen konnte. Ich

Alles schwarz vor Augen.

Mein Kreislauf funktionierte am frühen Morgen nicht mit einem Puls auf Anschlag. Stehen bleiben. Atmen. Ein schwacher Lichtstrahl fiel in den Gang aus der einzigen Tür, die halb offenstand. Mir wurde schlecht. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und sah bereits vor mir, was ich in den kommenden Stunden tun würde: Den beiden Sanitätern würde ich von meinem Notruf erzählen. Davon, dass er nicht ernst genommen worden war und dass ich daraufhin das Gespräch mit Alison gesucht hatte. Bei der Polizei würde ich eine Aussage machen, und ich würde Alisons Einverständnis dazu nicht einholen.

Aus der Wohnung der MacKinnons vernahm ich mehrere Stimmen.

Klopf an und warte. Klopf an und warte.

Doch ich schob die Tür ganz auf, blickte in das kleine Foyer, an das sich die Küche anschloss. Einen Moment lang passierte gar nichts. Die leeren Anrichten strahlten eine sterile Ungemütlichkeit aus. Hatte hier jemals irgendwer gekocht? In der Mitte die kleine Insel mit einer Arbeitsplatte aus Marmor – vom ersten Tag an hatte ich sie darum beneidet. Damals, als Marie und ich auf der Feuerleiter gesessen und Alison und Oliver beim Einzug zugesehen hatten. Auf dem polierten Marmor stand eine weiße Tasse, in der ein Teebeutel hing, und auf einem der Barhocker saß sie. Alison. Unversehrt? Ihr paralysierter Blick fiel einfach durch mich hindurch. Sie trug einen zweiteiligen, cremefarbenen Pyjama, ihr Haar war ungekämmt.

»Alison … ist alles in Ordnung hier?«

Als ich einen Schritt auf sie zuging, kam ein kleiner,

»Kann ich helfen?« Er trug eine blaue Stoffhose, einen schwarzen Gürtel und ein blaues Hemd, darauf war der Schriftzug FDNY gestickt, rechts das Wort Paramedic. Sanitäter.

Ich stammelte, und der Mann wurde unruhig.

Schließlich forderte er mich auf, den Weg freizumachen, drängte mich hinaus, und dann schob ein anderer Mann, von dem ich lediglich die Umrisse wahrnahm, einen weißen Leichensack auf einer Rollbahre an mir vorbei.

***

Die betreffende Seite war mit einem pinkfarbenen Post-it markiert, das ich zwischen meinem Zeigefinger und Daumen rieb. Ich schlug das Magazin auf. Marie war gebeten worden, fünf Porträtaufnahmen von aufstrebenden Künstlern – vier Männer, eine Frau – für einen Artikel zu schießen. Ich blätterte durch die Seiten. Auf der letzten war eine kleine Anmerkung der Redaktion gedruckt.

Wir trauern um unsere Kollegin, die brillante Marie Staub, die diese Fotostrecke für das T Magazine geschossen hat. Es war unsere erste Zusammenarbeit, und wir wünschten, es wäre nicht die letzte gewesen. Marie war ein wundervoller Mensch, sie hatte ihre Umwelt immer im Blick und rückte die Menschen vor ihrer Kamera ins richtige Licht.

Marie, du fehlst.

Deiner Familie und deinen Freunden wünschen wir viel Kraft.

 

Es war vier Uhr nachmittags, und lediglich an der langgezogenen Theke im vorderen Bereich von Tompkins Square Bagels standen ein paar Menschen, die auf ihre Bestellungen warteten. Als ich mich einreihte, bekam ich eine Textnachricht von Alison. Sie fragte, ob wir uns treffen können, und ich antwortete, dass ich mich ebenfalls freuen würde, sie noch einmal zu sehen, um mich zu verabschieden. Weil der Laden nur einen Katzensprung von unseren Wohnungen entfernt lag, schlug ich vor, hier auf sie zu warten. Im hinteren Bereich von Tompkins Square Bagels war wenig los. Zumindest in dieser Filiale, denn in die an der 2nd Avenue war ich nicht mehr gegangen, seitdem Marie nur ein paar Meter entfernt verunglückt war.

Ich sah Alison schon beim Betreten des Ladens. Sie trug ein schlichtes, blaues Baumwollkleid, ihr Haar war zusammengebunden. Ich hob meinen Arm, und sie nickte, als sich unsere Blicke trafen. Meinen Mohnbagel mit Frischkäse hatte ich nicht angerührt, denn als ich wusste, dass sie kam, war ich nervös geworden.

Sie legte ihre Handtasche ab und setzte sich mir gegenüber. Ich lächelte sie an, und sie erwiderte es für einen kurzen Augenblick. Alison sah aus wie vor ein paar Tagen, als ich sie vor der Magnolia Bakery getroffen hatte. Kaum zu glauben, wie viel in der Zwischenzeit passiert war, wie randvoll so

Sie fragte, ob sie sich ein Stück von meinem Bagel nehmen dürfe. Ich schob ihr den Teller hin.

»Ich hatte heute noch nichts zu essen«, sagte sie und biss hinein. Während sie kaute, verscheuchte sie eine Fruchtfliege mit der freien Hand.

»Alison, ich habe dir noch gar nicht mein Beileid ausgesprochen. Das ging alles so schnell, und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich hätte bleiben sollen, also bin ich einfach gegangen und …«

Sie hob eine Hand und schüttelte den Kopf. »Ich danke dir, dass du dich um mich sorgst. Und ich möchte mich entschuldigen.«

»Entschuldigen? Wofür?«

»Ich hätte dich hereinbitten müssen. Die Situation erklären. Meine Ehe und unsere –« Sie hielt inne. »… die darin enthaltenen Komplikationen haben sich sicherlich negativ auf die Nachbarschaft ausgewirkt. Du bist allerdings die Einzige, die jemals das Gespräch gesucht hat.«

Sie nahm sich ein weiteres Stück des Bagels. Die Fruchtfliege setzte sich auf einen Brotkrümel, und Alison beobachtete sie.

Ich wartete einen Moment, dann fragte ich sie aufrichtig, wie es ihr ging.

Sie neigte den Kopf erst nach rechts, dann nach links, als würde sie abwägen, welche Richtung sie einschlagen wollte. »Es ist okay. Ich habe Oliver seit Jahren nicht mehr geliebt.«

Die Wucht ihrer Sachlichkeit schien mir seltsam fehl am Platz. Dann ermahnte ich mich. In meiner eigenen Familie

»Was ist denn eigentlich passiert?«, traute ich mich, die brennendste Frage zu stellen.

Sie wischte meine Frage mit einer Handbewegung weg. »Er hatte seit seiner Geburt einen Herzfehler. Das liegt in der Familie. Der Infarkt hat niemanden überrascht.«

Ihre distanzierte Sprache sparte mir sämtliche Floskeln, auch wenn mir nichts Schlaues oder Gefühlvolles einfiel. »Wie geht es nun weiter für dich?«

Da sah sie mich an mit ihren rehbraunen Augen. »Ich habe niemanden.« Sie sagte es ohne Selbstmitleid. »Das ist mir erst jetzt aufgefallen. Er hat mich in den letzten Monaten vollkommen isoliert, und meine Freundinnen haben ihn sowieso nie gemocht.« Sie nahm sich das letzte Stück des Bagels. »Ich schätze, ich fange von vorn an.«

»Du bist frei«, antwortete ich und beobachtete die Fruchtfliege, die nun zwischen uns saß. Sie lief erst in die eine, dann in die andere Richtung. Alison erschlug sie mit der flachen Hand. Ihre Fingernägel waren dunkelrot lackiert. Sie griff nach der dünnen Papierserviette auf dem Teller und wischte sich die Hand ab.

»Ja, das bin ich wohl.« Sie steckte das Papier in ihre Handtasche. »Ich hätte mich wahrscheinlich nie scheiden lassen.«

»Warum nicht?« Ich fühlte mich zunehmend unwohl. Das Verhältnis zwischen Alison und mir war nie normal gewesen, unsere bisherigen Gespräche hatten sich weit entfernt von allen bewegt, die ich bisher mit mir fremden

»Oliver und ich kommen aus recht konservativen Familien. Und unsere Väter arbeiten schon lange zusammen. Sagen wir mal so: Es wurde sehr begrüßt, als wir uns verlobten.«

Ihr Handy klingelte. Sie entschuldigte sich, stand auf und drückte sich an den wartenden Menschen an der Theke vorbei nach draußen. Ich klaubte die Krümel vom Teller und aß sie. Als Alison nach zehn Minuten zurückkam, stand ich auf, um zu gehen.

»Alison, es war schön, dich kennenzulernen. Wenn auch unter so traurigen Umständen. Ich wünsche dir nur das Beste. Ich hoffe, es wird dir bald richtig gut gehen.« Während ich das sagte, berührte ich sie leicht am Oberarm.

»Das wünsche ich dir auch«, entgegnete sie, und auch wenn sie nichts von meinem eigenen Verlust wusste, speicherte ich ihre Worte in mir ab, legte sie auf den Stapel aller guten Wünsche, in der Hoffnung, dass sie sich erfüllen würden, irgendwann.

Sie nickte kaum wahrnehmbar. »Ich habe viel gelernt in den letzten Monaten.«

»Ja? Das ist gut.«

Ihre Augen bohrten sich in meine. »Manchmal muss man die Dinge einfach selbst in die Hand nehmen. Dem eigenen Glück auf die Sprünge helfen. Dem Leben einen Schritt voraus sein.«

Ich schob die Augenbrauen zusammen. Eine Gänsehaut bildete sich an meinen Armen, und ich verschränkte sie vor meiner Brust.

»Diese schrecklichen Klimaanlagen«, sagte sie und berührte meinen Unterarm. »Draußen ist es so schön warm.«

Dann ging sie an mir vorbei, und ich blieb zurück.

 

Ich schlürfte die Nudeln und begann ein Selbstgespräch. Doch ich hatte in den letzten Wochen so oft versucht, alles mit mir allein auszumachen. Deswegen holte ich meine Schwester dazu.

»Also, Marie«, begann ich, »was wir wissen ist, dass dein Nachbar ein richtig widerlicher Typ war. Für einen Menschen wie Alison bringt man viel Sympathie auf, wenn man weiß, was sie durchlitten hat, doch das sagt ja überhaupt nichts über ihren Charakter aus. Trotzdem kann ich sie nicht greifen. Je länger ich über sie nachdenke, desto schneller entgleitet sie mir.« Ich zog mit den Stäbchen eine große Portion Nudeln aus der Suppe und ermahnte mich, weniger abzuschweifen. »Es geht um Fakten, Karla, nicht um Eindrücke. So kommst du nicht weiter.« Aber ich hatte keine Fakten, um meine Vermutung zu untermauern.

Manchmal muss man die Dinge einfach selbst in die Hand nehmen. Dem eigenen Glück auf die Sprünge helfen. Dem Leben einen Schritt voraus sein.

Empfand sie den Tod ihres Ehemanns als solche Erleichterung, dass sie von Glück sprechen konnte? Irgendwie glaubte ich nicht, dass sie es einfach so dahingesagt hatte.

Manchmal muss man die Dinge einfach selbst in die Hand nehmen. Damit meinte sie wohl, dass sie nun den Mut aufbringen musste, neu zu beginnen. Dem eigenen Glück auf die Ein banaler Kalenderspruch. Dem Leben einen Schritt voraus sein. Da spürte ich wieder ihren Blick. Als wollte sie mich etwas sehen lassen, das sonst niemand zu sehen bekommen sollte.

»Hat Alison ihren Mann umgebracht, Marie?« Meine Worte prallten an den Wänden ab und hallten durch den Raum. »Wer stirbt mit Ende dreißig an einem Herzinfarkt? Gut, wenn er ein schwaches Herz hatte, wenn er nicht regelmäßig zum Arzt gegangen ist, aber gleichzeitig viel Stress hatte, und ich nehme an, dass das so war, dann … könnte das … schon … stimmen.«

Ich setzte mich auf den Boden und stellte die Schüssel vor mich. Ich hatte mich bei Tompkins von Alison nicht nur persönlich, sondern auch gedanklich verabschieden wollen, doch ihre Worte hatten mich wieder hineingezogen in ihre Geschichte. Warum interessierte mich das alles überhaupt immer noch? Oliver war tot, das Problem, so hart das auch klingen mochte, hatte sich in Luft aufgelöst. Wenn pure Neugier mein Hauptantrieb war, ekelte ich mich vor mir selbst. War es meine Verantwortung, so einem Bauchgefühl, so einem Ziehen im Nacken nachzugehen?

»Karla, du bist Lokaljournalistin, keine Investigativreporterin.«

Ich war verrückt. Ich redete laut mit mir.

In der Brühe zwischen den dampfenden Nudeln lag eine Fruchtfliege. Mit einem der Stäbchen schob ich sie auf den Rand der Schüssel. Sie bewegte sich nicht.

Ich wollte wissen, was Alison meinte. Ich wollte wissen, ob sie so weit gegangen war, wie es sich für mich anfühlte. Vielleicht wollte ich auch einfach eine Geschichte zu Ende bringen, die Marie begonnen hatte.

***

Blieb nur noch Cole übrig. Er war aufgewacht, als ich an dem Morgen ins Nachbargebäude gestürmt war, um mich zu vergewissern, dass Alison noch lebte. Ich war aufgewühlt zurückgekommen und hatte lediglich erzählt, dass mein Nachbar verstorben war. Kurze Zeit später war Cole gegangen, und seitdem hatten wir nur ein paar kurze Textnachrichten ausgetauscht.

Es führte kein Weg drum herum. Wenn ich Alison entlocken wollte, ob sie etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte, musste ich mich nicht nur erneut mit ihr verabreden, sondern es so geschickt anstellen, dass sie mir nicht misstraute. Wir hatten uns verabschiedet, es gab keinen Grund mehr, mich erneut bei ihr zu melden. Zumindest keinen offensichtlichen. Ich brauchte eine Idee, und zwar schnell, denn meinen Rückflug wollte ich nicht verschieben. Das hätte meine Eltern beunruhigt, und die Tatsache, dass die Wohnung seit zwei Tagen fast vollständig ausgeräumt war und ich auf einer Luftmatratze schlief, sagte mir jeden Tag aufs Neue, dass es Zeit war, zu gehen.

 

Ich entdeckte die Vase bei einem Spaziergang durch Soho. Als ich auf der Prince Street meinen Blick von einem

Die Vase war perfekt. Ein schlichter, skandinavischer Krug, weiß, durchzogen von feinen, goldenen Linien. Sie kostete einhundertzwanzig Dollar, und weil ich kaum fassen konnte, was ich da tat, legte ich meine Kreditkarte auf die Theke und sah weg. Ein Betrag, der nicht nur für meine Neugier stand, sondern auch für mein schlechtes Gewissen, für Maries schlechtes Gewissen (wovon ich ausging) und für ein Geschenk: Auf einen Neuanfang, liebe Alison. Nur das Beste, Karla. Während die Frau hinter dem Tresen die Vase verpackte, sagte ich so befremdliche Sachen wie, dass ich Keramik sehr mochte und mich dieses Stück an die japanische Reparaturmethode Kintsugi erinnerte. Dabei wurden, soweit ich es in einer Dokumentation verstanden hatte, Bruchstücke wieder zu einem Ganzen geklebt und die Linien mit Pulvergold verziert. Eine Anerkennung von Fehlerhaftigkeit. Die Frau sagte nichts. Sie reichte mir meine Kreditkarte und dann die verpackte Vase über die Theke. Wahrscheinlich kamen viele Leute in ihr Geschäft und vergossen ihr Halbwissen, weil sie irgendwo irgendwas gelesen hatten.

Ein drittes Mal unangekündigt vor Alisons Tür zu stehen, wollte ich nicht. Ich schrieb ihr eine Nachricht und fragte, ob sie am Abend zu Hause sein würde, und sie bejahte.

 

Um sieben Uhr klingelte ich. Ich trat ins Foyer und bemerkte zum ersten Mal, dass dort lediglich eine stilvolle Kommode aus Rattan stand und auf ihrer Ablagefläche eine Schale mit verschiedenen Schlüsseln. Sonst nichts.

Ich glaubte, erkennen zu können, dass Alison sich nicht nur aufrichtig über die Geste freute, sondern dass ihr die Vase auch gefiel. Sie nahm sie entgegen, drehte und begutachtete sie. Das war der Moment, in dem ich nur hoffen konnte, sie würde mich hereinbitten.

Alison deutete in die Küche und sagte: »Ich habe gerade eine Flasche Wein geöffnet. Möchtest du ein Glas, oder hast du es eilig?«

Wir saßen auf Barhockern an der Kücheninsel, als Alison mir erzählte, dass sie keinen Alkohol trank und es lange gedauert hatte, bis sie einen alkoholfreien Wein gefunden hatte, der ihr schmeckte. Ich nahm einen Schluck und sagte ihr, dass ich keinen Unterschied zu anderen Weißweinen feststellen konnte, was stimmte. Meine Hände waren feucht, und hinter meiner Brust flatterte die Luft durch meine Zellen.

Während Alison in den ersten Minuten sprach und ich sie reden ließ, hier und da nickte, lächelte und zustimmte, zoomte ich mich immer wieder aus der Situation heraus. Da saß eine junge Witwe, deren Innenleben ich nur erahnen konnte, ein paar Jahre älter als ich, in einer dunkelblauen Jeans und einer weißen Bluse, das braune Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Da saß ich, eine junge Frau, die sich innerlich zerbrochen anfühlte, in einer schwarzen Jeans, einem weißen Strickpullover, das blonde Haar offen, mehr und mehr zerzaust. Zwei Frauen, die das Leben zusammengebracht hatte, die sich vielleicht gar nicht sonderlich mochten, sich wahrscheinlich unter anderen Umständen nicht begegnet wären, und doch eine Anziehung spürten. War es

 

»Das ist eine sehr schöne Wohnung. Hast du vor, hier weiterhin zu bleiben?«

»Ich weiß es noch nicht. Olivers Eltern haben sie gekauft, als sie in der Times gelesen haben, dass die Gentrifizierung in vollem Gange ist. Manchmal frage ich mich, wie es hier wohl vor ein paar Jahrzehnten gewesen sein muss. Als die ABC-Straßen noch düster und gefährlich waren, mal ganz abgesehen von den Schießereien der Mafia. Gleichzeitig die vielen Künstler … man konnte in eine Show von Warhol stolpern. Jeff Koons auf der Straße grüßen, als ihn noch niemand kannte …«

Ich hatte keine Ahnung, wer Jeff Koons war. »Ich habe mal eine Führung durch das East Village, Nolita und Little Italy gemacht«, sagte ich. »Wusstest du, dass Robert DeNiro und Martin Scorsese in der Elizabeth Street aufgewachsen sind, nur ein paar Häuser voneinander entfernt?«

Sie drehte den Stiel ihres Glases hin und her. »Ich wusste, dass beide hier in der Nähe gewohnt haben. Oliver war ein großer Fan von Scorsese.«

»Die Führung hat ein ehemaliger Detective gemacht. Er war als Kind mit Scorsese befreundet und hat erzählt, dass Marty – so nannte er ihn – unter starkem Asthma gelitten hat und deshalb jeden Sommer in klimatisierten Kinosälen war. Der einzige Ort, an dem er durchatmen konnte.«

Alison lächelte. »Das sind diese Momente. Da denke ich

»Tut mir leid.«

»Ach was.«

»Wann ist die Beerdigung?«

»Er wird verbrannt. Wir haben noch keinen Termin. Meinen Schwiegereltern passt das gar nicht, aber es war sein Wunsch. Ich finde es kurios, dass er sich all die Jahre nicht um sein Herz geschert hat, sein Testament aber lückenlos war.«

Sie trank einen Schluck, und ich strauchelte. »Hast du viel zu regeln? Hilft dir da jemand?«

Sie winkte ab. »Nein, wie gesagt, er hat alles geregelt. Anstrengend war nur meine Vernehmung. Möchtest du ein Glas Wasser?« Sie stand auf und nahm zwei Gläser aus dem Schrank.

»Vernehmung?«

Alison ging zum Kühlschrank und hielt die Gläser nacheinander unter den integrierten Wasserspender.

»So hat es sich zumindest angefühlt. Ich musste mindestens drei Mal erzählen, was genau passiert ist beziehungsweise wie ich die Nacht erlebt habe.«

»Und was genau ist passiert?«

Sie sah mich an. Ich bereute meine Frage und überlegte, ob ich etwas hinzufügen sollte, doch dann entschied ich mich, den Augenblick auszuhalten. Sollte es hier vorbei sein, dann war es eben vorbei.

»Eis?«, fragte Alison.

»Nein danke.«

Sie reichte mir ein Glas und lehnte sich an die Kante des Spülbeckens.

»Nichts ist passiert. Mein Wecker hat geklingelt, und es

Sie stieß einen belustigten Laut aus, und ich versuchte, ebenfalls belustigt zu wirken. Das Surreale an der Situation beängstigte mich allerdings.

Während ich einen großen Schluck Wein trank, spürte ich ihren Blick auf mir.

»Warum bist du hier, Karla?«

Und dann flog ich auf.

»Oh, also – ich wollte die Vase vorbeibringen und, na ja, einfach noch mal nachfragen, wie es dir geht.«

Das nahm sie mir nicht ab, das merkte ich an ihrem Blick. Es war die glatteste Lüge überhaupt.

»Ich sitze in einer leeren Wohnung und werde ständig daran erinnert, dass dieses Kapitel nun zu Ende ist. Ich glaube, ich wollte einfach etwas Gesellschaft.«

Sie schmunzelte und ließ mich in der Luft hängen. Dann sagte sie: »Ich meine – warum bist du hier in New York?«

Erst da spürte ich die Röte in meinem Gesicht. Auch wenn mein Besuch bei Alison auf einer Lüge aufgebaut war, fühlte ich mich in diesem Moment schuldig, ihr eine ehrliche Antwort zu geben. Wie sollte ich ihre Wahrheit erfahren, wenn ich meine versteckte? Sie war zu klug, um mich überhaupt nicht zu durchschauen.

»Meine Schwester hat New York geliebt. Sie hat ein paar Jahre hier gelebt, bis sie im Juli gestorben ist.« Ich zuckte die Achseln in dem Bewusstsein, mir Zeit und Sympathiepunkte

Alison sprach mir nicht ihr Beileid aus, und sie hakte auch nicht nach. Stattdessen begann sie, von ihrem ersten Jahr in New York zu erzählen. Ich hörte nur mit einem Ohr zu, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, alles in mir zu sortieren. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Moment, in dem man über den Tisch hinweg nach der Hand des anderen griff. Zumindest in Gedanken.

»…vor zwei Jahren lag ich im Bett in unserem alten Apartment in Tribeca und fragte mich: Ist das meine Stadt? Ist das mein Mann? Ist das mein Job? Bin das alles wirklich ich? Ich bekam plötzlich keine Luft! Ich bin aufgestanden und saß die ganze Nacht auf dem Sofa. Hab die Wand angestarrt und nichts gefühlt.«

»Und dann …?«

»… passierte einfach nichts. Ich bin in New York geblieben. Bei Oliver und bei meinem Arbeitgeber. Die Panikattacke war vollkommen umsonst.« Sie lachte, und ich musste ebenfalls lachen.

»Geht es nicht den meisten New Yorkern so? Dass sie lieber unglücklich in New York sind als glücklich irgendwo anders?«

»Das ist Quatsch«, sagte sie, »aber es stimmt.«

Erst viel später, als ich unser Gespräch immer und immer wieder rekonstruierte, verstand ich, dass diese Feststellung auch eine Metapher für ihre Ehe war. An dieser Stelle begann

»Ich konnte mich nie als Opfer häuslicher Gewalt sehen. Wenn er mich geschlagen hat, habe ich mir gesagt: Alison, du hast dir diesen Mann ausgesucht, und ihr gehört zusammen. Du bist kein Opfer. Und das gerade ist nicht euer Leben, sondern nur ein winziger Punkt, eine Momentaufnahme eurer Geschichte. Du stehst das mit ihm gemeinsam durch. Du – bist – kein – Opfer.«

Ihr Mundwinkel zuckte, und dann wirkte sie verlegen. »Ich hatte immer Angst zu gehen. Mehr als zu bleiben. Ich habe mich immer geschämt und … war so drin in dieser Ehe, dass ich gar nicht mehr wusste, was normal war und was nicht. Oft habe ich mich so müde gefühlt, so leer, dass ich mir dachte: Lieber bleibe ich hier, schlafe, tue einfach gar nichts, und gebe mich diesem Leben hin, das ich mir so ausgesucht habe, als dass ich aufstehe und gehe.«

Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, auch wenn ich keine sehen konnte.

»Alison, ich kenne niemanden, der das erlebt hat, was du hast erleben müssen, aber ich glaube, du gehst da zu hart mit dir ins Gericht. Jeder kann zu einem Opfer gemacht werden. Das sagt nichts über dich als Person aus, über deine Stärke oder deinen Charakter. Es hat alles und nichts mit dir zu tun. Ergibt das Sinn?«

»Ich weiß. Ich wollte mich nur nie mit dieser Situation identifizieren.«

Sie wartete einen Augenblick, bevor sie sagte: »Gegenüber von meinem Büro ist ein Frauenhaus. Jeden Tag sehe ich Frauen, die reingehen oder rauskommen. Viele haben kleine Kinder dabei. Den meisten sehe ich die Gewalt an. Entweder an ihrem Gesichtsausdruck oder, na ja, an ihren

Sie schämte sich im Stillen. Gleichzeitig versuchte sie, die Illusion aufrechtzuerhalten, die sie selbst schützen sollte und abgrenzte von den Menschen, die sich nicht in denselben Kreisen bewegten wie sie. Die über keine Mittel und Wege verfügten, auf die sie sich stützen konnten. Das, was ihr widerfahren war, war nicht offensichtlich gewesen. Doch wann war es das schon?

Je länger wir sprachen, desto weiter entfernte ich mich von der Frage, ob sie etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte. Alison schenkte nach, als ich mich Satz für Satz nach vorn tastete.

Ich hatte in den letzten Tagen viel gelesen über Gewalt, insbesondere häusliche Gewalt gegen Frauen. Eine Statistik besagte, dass jede dritte Frau in Deutschland partnerschaftlicher Gewalt ausgesetzt war, und ich dachte an meine bisher einzige Beziehung mit einem Mann, dessen Gemüt vor allem auf innerer Ruhe und Gelassenheit beruhte. Max trug selten seine Wut nach außen. Zum einen, weil viel passieren musste, damit er sie überhaupt empfand, zum anderen, weil er sie schnell kanalisierte in Arbeit oder Sport. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, einen Partner zu haben, dem ich nicht vertrauen konnte. Der mir Angst machte. Ich hatte mein halbes Leben in einer so liebevollen Beziehung verbracht, dass an mir vorbeigezogen war, was so viele andere erlebten. Wobei – vorbeigezogen? Damit machte ich es

Gewalt innerhalb einer Partnerschaft hatte mich nie betroffen. Sie hatte niemanden betroffen, den ich kannte. Dachte ich. Denn jetzt wusste ich, dass ich mir gar nicht mehr so sicher sein konnte. Hinter verschlossenen Türen passierte so viel, das verborgen blieb vor denjenigen, die auf der anderen Seite standen.

 

»Darf ich dich etwas sehr Persönliches fragen, Alison?«

»Du kannst alles fragen, ich muss es ja nicht beantworten.«

»Verspürst du eine Erleichterung darüber, dass Oliver gestorben ist?«

Die Zeit verging, und als wir schwiegen und ich versuchte, irgendetwas in ihrem Gesicht zu lesen, hörte ich eine Taube vor dem offenen Fenster gurren und die Gespräche auf der Straße, die ineinanderflossen.

»Am zweiundzwanzigsten Dezember 2008 bin ich in mein Zimmer im Studentenwohnheim der NYU an der Broome Street gegangen. An der Tür des Apartments stand ein kleiner Esstisch, und darüber hing ein Magnetboard. Meine Mitbewohnerin und ich haben da Notizzettel hinterlassen,

»Zwei Jahre später haben wir geheiratet. Das ist es, woran ich mich immer wieder erinnert habe, wenn ich Angst hatte, dass ich diesen einen, nächsten Schlag nun nicht mehr überleben würde. Die Erinnerung an den Mann, der mich doch immer geliebt hatte.« Sie legte den Kopf schief, als würde sie etwas in weiter Ferne betrachten. »Seltsam, wie sich das ändert. Ja, ich glaube, ich bin erleichtert, dass er tot ist.«

Ich überlegte, ob und wenn ja, wie man einem Menschen wie Oliver verzeihen konnte. Als ich keine Antwort fand, sprach ich die Frage aus.

Alisons Mundwinkel zuckten wie so oft, wenn sie über ihn sprach. »Ich werde es versuchen. Für mich. Aber ich bin nur ein Mensch. Verzeihen ist ein Prozess.« Sie trank ihr Glas leer. »Und manche Menschen kriegen es nie hin.« Auch wenn der Wein alkoholfrei war, konnte ich den

Ich schluckte. »Scheint, als wäre sie noch immer eine Bedrohung für die Gesellschaft«, sagte ich so beiläufig wie möglich.

»Sie war nur eine Bedrohung für ihren Mann. Dass sie ihn umgebracht hat, macht sie nicht zu einem Monster oder einer Serienmörderin.«

»Warum hat sie ihn denn umgebracht?«

»Weil er versucht hat, sie umzubringen.«

»Also war es Notwehr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, der Schlüssel liegt darin, zu sehen, dass Mord viel mehr ist, als jemandem im wahrsten Sinne des Wortes das Leben zu nehmen. Man kann auf so viele unterschiedliche Weisen eine Person um ihr Leben bringen.«

Ich überlegte. »Würdest du sagen, dass es pauschal betrachtet kein Richtig oder Falsch gibt?«

Sie machte eine belustigte Andeutung darüber, in welch tiefgreifende Gesprächsthemen wir abgerutscht waren. Ich stimmte ihr zu und hoffte gleichzeitig, dass sie durch ihre Feststellung nicht den Faden verlieren würde.

»Ich habe ein paar Semester lang Anthropologie studiert. Was ich daraus mitgenommen habe, übrigens auch das, was ich am meisten an der Anthropologie schätze, ist, dass sie nichts pauschal betrachtet oder bewertet. Sie setzt die Dinge in einen ganz bestimmten Kontext und beurteilt jedes Mal aufs Neue. Nichts darf losgelöst von den Umständen stehen und betrachtet werden.«

Alison kam zurück, und ich drehte mich um. Sie lehnte sich in den Türrahmen und sagte: »Danke für das offene Gespräch. Es tut gut, mit Fremden zu sprechen. Man kann viel ehrlicher sein und sich darauf einlassen.«

Ich empfand es genau andersherum. Welches Leben führte ein Mensch, der sich lieber mit Fremden austauschte als mit denjenigen, die ihm nahestanden?

Vielleicht lag es an der Nacht, die hereinzog, vielleicht auch an Alisons vorangegangener Ehrlichkeit, dass ich mich traute, das zu fragen, wofür ich hergekommen war. »Was meintest du eigentlich mit dem Satz ›Man muss das Glück oft selbst in die Hand nehmen und dem Leben einen Schritt voraus sein‹?«

Sie runzelte die Stirn. »Na, genau das. Ich werde mein Leben nicht mehr so unbedacht hergeben. Das wird mir nicht noch einmal passieren.«

Ich nickte und hatte doch so viele Fragen. Doch als Alison zur Kücheninsel ging und die leeren Gläser abräumte, spürte ich, dass sie unser Gespräch ans Ende manövrierte. Vielleicht hatte diese Frau immer alles unter Kontrolle gehabt, bis Oliver sie ihr entriss.

»Sie ist wirklich sehr schön. Aber sie passt hier einfach nicht rein.«