»Okay Joe«, sage ich und fange das Handtuch auf, das er mir zuwirft. »Heute wird ein guter Tag. Und deshalb lege ich auf meiner Joggingrunde einen Stopp bei Tompkins ein und hole uns zwei Bagels, denn, Joe …«, ich hebe den Zeigefinger, »… heute wird ein guter Tag.«

»Den Jersey für mich, bitte«, sagt Joe nur trocken.

Ich reibe mit dem Handtuch mein Gesicht ab. »Weiß ich doch. Gibst du mir noch ein Glas Wasser?«

Ich trinke es in einem Zug.

»Du hast gut geschlafen. Oder gar nicht«, sagt Joe.

»Ich habe tatsächlich gut geschlafen. Und zu viel Energie, deswegen verlängere ich meine Runde. Was macht Gabe?«

Sein Mundwinkel zuckt.

»Oh, oh.«

»Gabe ist verstorben.«

»Du meinst, er ist freiwillig von uns gegangen?«

Er verschränkt die Arme. »Es ist sehr human abgelaufen.«

»Was bringt das einer Ratte?«

»Du tropfst hier alles voll. Raus mit dir!«

 

Joggen hat mir schon immer dabei geholfen, mich zu ordnen. In Boston hat mich das Laufen aufrecht gehalten. Meine rennenden Beine, meine gleichmäßige Atmung, meine

Ein paar Tage bevor ich Adam verließ, hörte ich mit dem Laufen auf. Es war der Morgen, nachdem Matthew die neue Businessidee von Adam bei einem gemeinsamen Abendessen zerschlagen und sein angekündigtes Investment zurückgezogen hatte. Adam kam daraufhin betrunken nach Hause und wütete im Wohnzimmer, während ich ins Gästezimmer schlüpfte und mich einschloss, bebend vor Angst, was passieren könnte, und weil ich wusste, dass ich in der Hektik mein Handy auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Adam schlief jedoch vor Erschöpfung in seinem Alkoholdunst auf dem Sofa ein. Dieses Mal war ich davongekommen. Am nächsten Morgen schnürte ich meine Laufschuhe, doch ich blieb auf der niedrigen Bank im Foyer sitzen. Ich konnte mich nicht bewegen. Da wusste ich, dass ich nicht mehr funktionierte. Dass ich mir nichts mehr vormachen konnte.

Ich weiß, dass ich jetzt langsam in einen Prozess der Klarheit eintrete, und auch wenn sich dieser ebenfalls wie ein emotionaler Ritt anfühlt, ist es einer der guten Sorte. Wie einen Stapel Spielkarten in die Luft zu werfen. Sie fliegen eine Weile und drehen sich, dann fallen sie zu Boden. Alle liegen vor mir ausgebreitet, alle Kapitel, alles Gesagte, Gefühlte, Erlebte und vor allem das Verdrängte. Ich werde die Karten langsam nacheinander vom Boden aufklauben, sie ansehen, neu sortieren.

Keine zerreißen.

 

Es ist kurz nach zehn, als ich in den Washington Square Park einbiege. Zwei ältere Touristinnen sitzen am Brunnen, ihre nackten Füße im Wasser, die Köpfe haben sie in eine faltbare Karte ihres Reiseführers vertieft. Zwei Mütter mit Kinderwagen unterhalten sich über das Rauschen des Wassers hinweg,

Ich laufe zum Ausgang und beschließe, meine Runde zu beenden, denn der Sommer dreht nun so richtig auf. Da will ich lieber in Joes kühlem Souterrain den Vormittag verplempern. Außerdem habe ich Hunger. Ich laufe ein paar Blocks Richtung Norden und, sobald eine Ampel auf Rot schaltet, Richtung Osten, um so schnell wie möglich an der Tompkins-Filiale an der 2nd Avenue anzukommen.

Nach fünf Minuten stehe ich am Village East Cinema an einer roten Ampel, und mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen: Schräg gegenüber tritt ein junger Mann aus dem Laden und beißt in seinen Bagel. Mein Magen knurrt. Schweiß tropft mir ins Auge, und ich kneife es zu. Dahinter ist alles hell erleuchtet, und mein Puls rauscht in den Ohren. Ich denke an meine erste Therapiestunde bei Dr. Ramirez: Gestern haben wir angefangen, die Geschichte neu aufzurollen. Meine Gedanken sind dabei immer wieder zu Alison gewandert.

Seit Tagen suche ich noch verzweifelter als zuvor nach dem Grund, warum ich so lange nichts unternommen habe. Gerade ich, wo ich mich doch so seltsam zu Hause in Alisons Geschichte fühle. Ich will kein schlechter Mensch sein. Und doch habe ich Angst, dass genau das der Grund ist. So oft predige ich Verantwortung, wenn ich gefragt werde, was mich die Fotografie lehrt. Doch im schlimmsten aller Fälle habe ich versagt. Zumindest bisher, zumindest zu lange. Ich habe einen Ausweg aus meiner gewaltvollen Ehe gefunden. Und ich will, dass Alison das ebenfalls schafft.

Dr. Ramirez und ich haben am Ende der Stunde überlegt, ob ich meine Wut auf mich selbst irgendwann auf Alison übertragen habe. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich mich immer in einer Art Schockstarre gefangen fühle, sobald ich den Blick über den Hof nach drüben werfe. Ich nehme mir vor, meine Therapeutin zu fragen, was ich konkret tun kann, um Alison zu helfen, ohne selbst den Triggern ihrer Erlebnisse ausgesetzt zu sein.

Die Ampel hat noch immer nicht geschaltet. Ich balanciere auf dem linken Bein und dehne den rechten Oberschenkel. Auf der anderen Seite prangt an einer roten Hausfassade ein neues Mural – ein blauer Gorilla, wenn ich es richtig erkenne. Davor parkt ein weißer Minivan, irgendein Zustelldienst. Direkt mir gegenüber wartet ein alter Mann an der roten Ampel. Er stützt sich auf einen Gehstock, trägt eine weite Cordhose und trotz der Hitze eine braune Weste über seinem langärmeligen Hemd. Er geht einen Schritt nach vorn, blickt nach Süden. Ich wechsle das Standbein und dehne nun das andere. Für einen Augenblick schließe ich die Augen und spüre die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, die sich mit der Hitze meines Körpers multipliziert.

Eine friedliche Ruhe legt sich um mich. Bis hierhin habe ich es geschafft. Und ich bin stolz. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich den alten Mann, der bereits losgegangen ist. Ich schaue nur auf ihn. Endlich. Endlich geht es los.