»Hi. Ich bin Marie. Komm doch einfach mit rein.«
Ich reichte einer Freundin meine Zigarette und streckte ihm meine Hand entgegen. Er nahm sie, ein fester Händedruck. Er lächelte, und ich wusste genau, wie er sich fühlte. Ich kenne diese Welt nicht, dachte er, und damit hatten wir schon so viel gemein.
Ich zog die Tür zur Galerie auf und bat ihn hinein. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ging an mir vorbei. Er befand sich auf der Schwelle zwischen Wollen und Sollen, doch ich konnte ihm den Weg weisen.
Auf Englisch sagte er, dass er eigentlich verabredet sei. »In der Bar gegenüber.« Ein breiter, amerikanischer Akzent.
»Macht ja nichts.«
Ich fand ihn umwerfend. Als ich mit ihm durch den Raum ging und mein Blick den von Karla streifte, wusste sie es auch. Ich erzählte ihm, dass das hier meine erste Vernissage war und sie mich mehr überwältigte, als ich es mir anmerken ließ. Ich hatte schon drei Gläser Crémant getrunken, auch das verriet ich ihm.
Dann drückte ich dem Mann ein Glas in die Hand.
»Das ist auch meine erste Vernissage«, sagte er. »Ich hab’s nicht so mit Kunst. Aber hey, herzlichen Glückwunsch!«
Wir stießen an. »Ich auch nicht, ich mache nur Fotos.«
Er musterte mich. »Hätte ich was anderes sagen müssen? Im Theater wünscht man sich doch auch kein Glück, da sagt man was gleich noch mal?«
»Break a leg.« Toi, toi, toi.
Wir lächelten uns an. Der Moment, in dem man realisiert, dass man sich verliebt, ist der Moment, in dem man sich beinahe ekelhaft benimmt.
Ich drückte mir das kühle Glas an meine Wange, fuhr mir durchs Haar, und meine Stimme verrutschte, obwohl sie das sonst nie tat. Ich war souverän, schon immer, doch jetzt nicht mehr. Und daran störte mich nichts.
Jetzt fuhr er sich durchs Haar. Dunkel und voll. Hohe Stirn. Braune Augen. »Das muss ein überwältigendes Gefühl sein, die eigenen Bilder auszustellen.« Er scannte den Raum. Ein paar Sekunden lang konnte ich ihn unbemerkt beobachten. Er war komplett schwarz gekleidet, der Wollmantel saß perfekt, seine Füße steckten in schweren Lederboots. Spannend fand ich das: wie unsicher er wirkte und wie bewusst er sich doch kleidete.
»Das da. Was kostet das?«
Er zeigte auf etwas hinter mir. Ich drehte mich um und lugte durch ein paar zusammenstehende Menschen hindurch. Das Herzstück meiner Ausstellung und auch mein eigenes. Es zeigte meine Schwester, barfuß im Regen stehend, auf einem Feldweg zu Hause in Franken. Sie trug ein gelbes Kleid, das an ihrem Körper klebte. Ihr Kinn war nach oben gereckt, allerdings nur so zart angedeutet, dass einem weniger das Kinn ins Auge stach als ihre wache und herausfordernde Ausstrahlung. »Das ist doch nicht Karla«, hatten viele gesagt, und ich hatte geantwortet, dass meine Schwester der Kamera eben eine Facette zeigte, die viele nicht kannten. Doch ich sehe sie immer. All ihre Gesichter.
Karla ist furchtlos, auch wenn sie das selbst nicht weiß. Wenn sie versehentlich Marzipan isst, spuckt sie es in ein Taschentuch. Sie liebt amerikanische Anwaltsserien und hat alle Staffeln von The Good Wife bisher fünf Mal gesehen, insgesamt 546 Stunden. Manchmal wird sie in Seekirch auf der Straße angesprochen, als handelte es sich bei Karla um die Bürgermeisterin anstatt die Lokaljournalistin. Sie hört sich immer alles an. Sie schläft bei gekipptem Fenster, auch im Winter, und sie trägt selten Socken, auch im Winter.
Karla mag es nicht, wenn man sie Karli nennt, weil sie es als Verniedlichung empfindet, doch sie versucht immer, es sich nicht anmerken zu lassen. Wenn ihr eine Freundin zu viel wird, meldet sie sich nicht mehr zurück, bis der Kontakt von allein abreißt. Es fällt ihr schwer, sich einzugestehen, dass das nichts anderes ist als Ghosting. Sie ist sich bis heute unsicher, ob sie Mutter werden will, was manche aufgrund ihres beinahe vorhersehbaren Lebenslaufs überhaupt nicht nachvollziehen können.
Karla wurde einmal auf einer Party für die Schauspielerin Claire Danes gehalten. Sie hat in der Pubertät geraucht und mit neunzehn von heute auf morgen aufgehört. Sie liebt Wälder und träumt davon, die Kaltregenwälder in Kanada zu besuchen. Sie hat mit zwanzig einen Kaugummi verschluckt und seitdem nie wieder einen gekaut. Sie räuchert ihre Wohnung mit Palo Santo, was ihr in einem Shop in Nolita aufgeschwatzt wurde. Sie liebt Brettspiele. Sie macht sich nichts aus Hochzeiten. Sie geht mit anderen liebevoller um als mit sich selbst. Sie zieht einen perfekten Lidstrich, auch wenn sie sich selten schminkt. Karla hasst Handarbeit und hat Socken mit Löchern oder Kleider mit aufgerissenen Nähten immer Max gegeben. Sie hat eine Schwäche für Udo Lindenberg. Sie trägt ihr Herz nicht auf der Zunge. Sie besitzt rund fünfzig Kassetten und hört manche bis heute, am liebsten TKKG. Sie hat Englischunterricht an der Volkshochschule genommen, als ich mit Adam zusammenkam.
Karla liebt bedingungslos. So fühlt es sich für mich an.
Lange habe ich sie überreden müssen, dass ich das Bild mit in die Reihe aufnehmen darf. Und dann war es das Erste an jenem Abend, das ich verkauft habe.
»Das ist meine große Schwester. Sie steht dort drüben. Und das Bild ist schon weg.«
Seine Augen wanderten wieder, blieben auf Karla haften, die sich gerade an Max lehnte, beide in ein Gespräch mit einer Freundin vertieft.
Dann wandte er sich wieder mir zu. »Ihr steht euch ziemlich nahe, oder?«
Ich kniff die Augen zusammen und wusste, dass ich nicht allein nach Hause gehen würde.
So hat alles angefangen. Zehn Jahre ist unsere erste Begegnung nun her. Kurz darauf sind wir zusammengekommen, wenig später folgte der Antrag, mein Umzug nach Boston, die Ehe mit gerade einmal fünfundzwanzig und auch das Ende: unsere Scheidung vor vier Jahren. Dann kam der zweite Umzug. Meiner, nach New York.
Warum ich in letzter Zeit so oft an Adam und auch an unsere erste Begegnung zurückdenke, kann ich nur erahnen. Seit zwei Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch genauso lange nichts mehr von ihm gehört. Doch in letzter Zeit nimmt er sich wieder ungefragt Raum in meinen Gedanken.
Mein Handy klingelt.
»Hi Lynn. Kommst du gut voran?«
»Kommst du gut voran?«
Wir lachen. »Lass uns ein bisschen um die Häuser ziehen«, sagt sie. »Nichts Großartiges. Wir holen dich ab und bleiben im Viertel.«
»Wir?« Ich stehe auf und strecke mich.
»Matt und Fiona wollen auch mitkommen.«
Ich setze mich auf die Kante des Sofas, während Lynn laut überlegt, ob man in dem ukrainischen Restaurant bei mir ums Eck reservieren kann. Mein Blick geht nach draußen. In der Wohnung gegenüber öffnet jemand das Schlafzimmerfenster. Ich stehe auf und sehe, dass sie es ist.
»Also?«, fragt Lynn.
»Also was?«
»Wir sind um acht Uhr bei dir, okay?«
»Ich kann nicht. Ich muss noch fast achthundert Bilder durchsehen und einige davon bearbeiten. Und morgen zum Sonnenaufgang muss ich am Hudson sein. Modestrecke.«
Die Frau gegenüber geht durch die Wohnung und öffnet auch alle anderen Fenster.
»Okay. Aber dann versprich mir wenigstens, dass wir uns morgen nach dem Shooting treffen? Es ist zu lange her, und ich muss mir dringend was von deiner Energie abschneiden.«
»Ich ruf dich an, Lynn.«
Als wir auflegen, löse ich meine Aufmerksamkeit auch von meiner Nachbarin. Sie ist nicht mehr zu sehen.
Ich erkenne Lynn schon von weitem. Sie läuft schnell, wie alle New Yorker, und ihre Arme schwingen dazu fast wie im Takt. Ich kann sie deshalb schon immer von weitem ausmachen, so auch an diesem Vormittag, als ich vor dem Bluestone Lane im West Village auf sie warte.
Als ich nach Manhattan zog, lief ich oft durch dieses Viertel. Ich bildete mir ein, es aus all den Filmen und Serien zu kennen und mich dadurch ein bisschen aufgehoben zu fühlen. Es war schön, mich in den von Bäumen dicht besäumten Straßen treibenzulassen. Ich holte mir immer einen Cupcake in der Magnolia Bakery und schlenderte damit die Perry Street entlang, während ich den Gesprächen der Touristen lauschte und mich selbst daran erinnern musste, dass ich nun wirklich hier lebte. Okay, nicht genau hier, das West Village war den echten, den alteingesessenen New Yorkern vorbehalten, den Broadwayproduzenten, Autoren, Filmemachern, Fotografen – Robert Frank hat bis zu seinem Tod hier gelebt, und ich habe immer gehofft, ihn auf der Straße zu treffen.
Sie alle wohnen in den edlen Brownstone-Stadtvillen mit ihren wuchtigen Aufgängen, einem Klavier im Wohnzimmer, schweren antiken Möbeln und Bücherregalen bis unter das Dach. Das aufgeräumte, gesittete New York ist hier zu finden. Das, was alle Touristen zu kennen glauben. In Wahrheit steigt man jedoch am JFK in die Metro, fährt durch Queens und Brooklyn, die ganze krasse Welt in einem Abteil, wird an der 42nd Street ausgespuckt und hat im ersten Moment keine Antwort darauf, warum zur Hölle man in dieses ohrenbetäubend laute, hektische und ausschließlich auf abartigen Konsum ausgerichtete Midtown kommen wollte. Im West Village kann man durchatmen. Ruhige Straßen, kleine Parks, sich grüßende Nachbarn, das gibt es vor allem hier. Eine Zuflucht für alle Touristen, die gleichzeitig auf Promisuche sind – eine Erinnerung an die Mehrheit der Einheimischen, dass sie sich nicht mal den Gedanken an eine Stadtvilla aus braunem Sandstein leisten können. Auch nicht in Park Slope in Brooklyn.
Als Lynn mich an diesem Vormittag Anfang Mai durch ihre Sonnenbrille hindurch entdeckt, läuft sie noch schneller. Sie trägt lilafarbene Leggins, einen schwarzen Kapuzenpullover und Turnschuhe, ihr schulterlanges, schwarzes Haar hat sie zu einem hohen Zopf gebunden, der im Takt ihrer Schritte wippt. Lynn ist zierlich und einen Kopf kleiner als ich, was mir immer wieder auffällt, wenn wir uns umarmen.
»Warst du im Pilateskurs?«, frage ich und gehe mit ihr durch die offene Tür des Cafés.
»Nein, aber wenn ich heute noch Bock habe, bin ich schon richtig angezogen.«
Lynn kommt aus einer Kleinstadt in Colorado. Ihre Eltern haben Südkorea in den Achtzigern verlassen, Lynn wurde kurze Zeit später in den USA geboren. Ihre Eltern führen, wenn ich mich richtig erinnere, einen koreanischen Imbiss in einem Kaufhaus. Lynn, die mit neunzehn Jahren für ein Kunststipendium nach New York zog, spricht selten von Colorado, und in Südkorea ist sie noch nie gewesen. Nach ihrem Studium machte sie eine Ausbildung zur Bildhauerin, mittlerweile malt sie jedoch mehr und arbeitet auch als Schmuckdesignerin. Lynn ist vielseitig begabt und damit oftmals überfordert, so dass sie sich nie zugesteht, sich auf etwas zu fokussieren. Sie beginnt alles und bricht vieles ab. Das einzig Beständige in ihrem Leben ist ihre Wohnung in Bushwick, in der sie seit ihrem neunzehnten Lebensjahr wohnt, und das nur, weil es sich um eine der letzten mietpreisgebundenen Wohnungen handelt. Zu meinem Glück lernte ich sie bereits kennen, als ich noch in Boston lebte. Für einen Auftrag in New York schoss ich einmal Porträtaufnahmen in ihrem kleinen Showroom in Brooklyn. Wir kamen ins Gespräch und tauschten Nummern aus. Als ich dann ein Jahr später nach Manhattan zog, rief ich sie an. Sie wurde schnell eine gute Freundin, wahrscheinlich sogar meine beste auf dieser Seite des Ozeans.
Ich gähne, als wir uns am Tresen hinter einem Pärchen anstellen.
»Wie lange bist du schon wach?«, fragt sie.
»Seit vier Uhr. Ich nehme einen großen Kaffee, und heute Nachmittag mache ich Feierabend.«
»Du arbeitest zu viel. Mach’s wie ich, hol dir eine Schaffenskrise.«
»Lynn«, sage ich, »hätte ich deine Schaffenskrisen, würde ich längst wieder bei meinen Eltern hocken.« Und wahrscheinlich, füge ich in Gedanken hinzu, würde ich vor allem Studioporträts von Kommunionkindern machen.
»Dann musst du dich besser organisieren. Du sitzt jeden Abend bis spät in die Nacht am Schreibtisch. Arbeite tagsüber, damit du abends Zeit hast. Für mich zum Beispiel.«
Ich verkneife mir mein Lachen darüber, dass mir die chaotischste Person, die ich kenne, nahelegt, mich besser zu organisieren. Lynn arbeitet die Nächte durch, wenn sie einen kreativen Schub hat, vergisst zu essen und auch alles andere.
Als wir dran sind, bestellt sie einen Flat White, und ich überlege einen Moment, ihr zu sagen, dass ich nicht am Schreibtisch sitze, sondern am Fenster. Manchmal auf der Feuerleiter, wenn mich der Übermut nach zwei Gläsern Wein überkommt.
Lynn dreht sich zu mir. »Großer Kaffee? Schwarz?«
»Ja, bitte.«
Ich kann es ihr nicht erzählen. Wenn ich es tun würde, müsste ich alles erzählen, mich erklären, und dabei verstehe ich selbst so wenig. Ich habe so viele Bausteine meiner Vergangenheit verdrängt, dass ich immer unsicherer werde, welche Erinnerungen der Wahrheit entsprechen. Und ob ich mir nicht zumindest manches eingebildet habe? Wenn ich mir so sehr wünsche, dass all das nicht passiert ist, müssen die Erinnerungen nicht irgendwann mit neuen Bildern überschrieben werden?
»Wunschdenken versus Wahrheit«, sagt Lynn, und ich zucke zusammen. Doch sie deutet auf das Instagram-Foto einer Freundin, das ihre perfekt aufgeräumte Wohnung zeigt.
Ich tauche wieder in meinen Gedanken ab. Wenn, dann würde ich es meiner Schwester sagen. Aber Karla, und das ist ein Teil meiner schmerzlichen Wahrheit, weiß mittlerweile so vieles nicht. Und wo soll ich anfangen, wenn ich die vielen richtigen Momente für ein Geständnis immer wieder habe verstreichen lassen? Mit Karla ist es nie zu spät für die Wahrheit, aber ich weiß auch, wie sehr ich sie nach all der Zeit damit verletzen würde.
Als Lynn ihren Espresso und meinen Kaffee entgegennimmt, lege ich meine Karte auf die Theke: »Ich lade dich ein.«
Als wir uns vor dem Café verabschieden, bricht die Sonne durch die Wolken. Endlich Frühling. Die New Yorker sind im Winter noch schlechter gelaunt als alle anderen Menschen zu dieser Zeit, und die zurückliegenden Monate waren wirklich hart. Ein Blizzard zog Stromausfälle, Chaos auf den Straßen und mehrere Todesopfer nach sich, ich habe mich eine Woche lang nur in meiner Wohnung aufgehalten und am Laptop gearbeitet, bis der Schneefall endlich nachließ.
Jetzt explodieren die Magnolien im Central Park in Pink, und am Hudson joggen die ersten Männer oberkörperfrei. Das weiß ich, weil ich an diesem Morgen dort fotografiert habe und zwei junge Frauen, die sich gerade dehnten, darüber sprachen, dass die Zurschaustellung nackter männlicher Oberkörper staatlich verboten werden sollte, solange weibliche Nippel noch immer im Netz zensiert würden.
Ich beschließe, nach Hause zu laufen, auch wenn meine Kameratasche zu schwer ist für einen Spaziergang. Die Wärme tut gut, nach der Arbeit in den frühen Morgenstunden war mir noch lange kalt. Als ich durch den Washington Square Park laufe, klingelt mein Handy. Ich ziehe es aus der Gesäßtasche. Unbekannte Nummer.
»Marie Staub.«
»Hallo Marie. Wir wollen uns nur schnell erkundigen, ob du uns nicht finden kannst?«
Ich bleibe stehen und beiße mir auf die Unterlippe, weil ich den Termin vollkommen vergessen habe. Dem arroganten Unterton zufolge vermutet die junge Frau das ebenfalls.
»Oh, hi«, sage ich und laufe in die entgegengesetzte Richtung, ohne zu wissen, wohin ich überhaupt muss. »Sorry für die Verspätung, mein Lyft kommt nicht. Ich bin gleich da!«
»Prima. Ich sage Raoul Bescheid.«
Sie legt auf, bevor ich antworten kann. Ich rufe meinen E-Mail-Posteingang auf und lese in Raoul Garrels Signatur die Adresse des Magazins.
»Shit!«
Dann winke ich ein Taxi heran.
»Wow, du bist aber eine Erscheinung, was?«
Ich trage ausgewaschene Jeans, ein Shirt mit dem Aufdruck The Notorious RBG, eine Anspielung auf die Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg, und eine uralte Lederjacke aus einem Secondhandladen. Mein Haar empfinde ich mittlerweile als zu lang, es hat keinen richtigen Schnitt und reicht mir weit über die Schultern. Vor meiner Ankunft habe ich es mit meinen Fingern durchkämmt.
»Würdest du das auch zu einem Mann sagen, der hier reinspaziert?«
Ich setze mich, schlage die Beine übereinander und lächle Raoul an, was nicht freundlich gemeint ist, jedoch von Männern nie durchschaut wird.
Raoul trägt eine sandfarbene Leinenhose, ein hellblaues Hemd und darüber ein dunkelblaues Sakko, ebenfalls aus Leinen. Er lacht laut.
»Ach ja, die Zeiten nach ›MeToo‹.« Er zeichnet Gänsefüßchen in die Luft. »Wer Komplimente vergibt, wird in Handschellen abgeführt, was? Mit Dank an die Times!«
Und an den New Yorker, denke ich. Ich sage nichts.
»Also, Marie: Glückwunsch zum Blow Up Award. Verdient, absolut verdient.«
»Danke.«
»Okay, hör zu. Wir machen eine Reihe mit allen Gewinnern und widmen die ganze Ausgabe der Fotografie. Aber ich weiß, dass du im Gegensatz zu ein paar der anderen schon ein altes Häschen im Business bist. Großartig, dass du Zeit für einen Besuch gefunden hast!«
Ich sitze auf einem Sessel im amerikanischen Country-Style. Daneben steht ein Marmortisch, auf dem ein Silbertablett mit einer Schale verzierter Pralinen angerichtet ist. Niemand aus meinem Freundeskreis wohnt in dieser Gegend. Und trotzdem bin ich bereits in Dutzenden Hochhäusern am Portier vorbeigegangen und mit dem Aufzug nach oben gefahren, in eins der klassischen Sechs-Zimmer-Apartments der Upper East Side. Vor allem High-Fashion-Modestrecken werden in den übertrieben eingerichteten Zimmern abgelichtet. Hier wohnt das alte Geld. Hier wird nichts vermietet, die Wohnungen sind seit Generationen im Besitz reicher Familien. Es gibt wenige Magazine, die an der Upper East Side ihren Sitz haben. Normalerweise fühle ich mich nicht unwohl, wenn ich solche Räume betrete, weil sie für mich als Kulissen dienen. Doch ich bin nicht hier, um zu fotografieren.
»Oh, fast vergessen«, sagt Raoul. Er kramt in der Tasche seines Sakkos und zieht ein Aufnahmegerät heraus. »Ich hoffe, das stört dich nicht?« Ich verneine, und er schaltet es ein. »Ich bin von der alten Schule.« Ich verkneife mir die Frage, warum er sich dann keine handschriftlichen Notizen macht.
Auf dem Weg hierher habe ich einen Artikel über Raoul Garrel überflogen. Multimillionär, vierundfünfzig Jahre alt, Investmentbanker, passionierter Kunstsammler. Sein Magazin edge of culture gibt es seit drei Jahren, ein Hobby auf der Seite, eine ›Liebhaberei‹, um ihn zu zitieren. Ich habe die Anfrage für das Interview angenommen, weil mir das Magazin ab und an in die Hände fällt und es möglich ist, dass auf unser Gespräch Fotoaufträge folgen. Deshalb überrascht es mich umso mehr, welches Gesicht hinter edge of culture steckt, befasst sich das Heft doch vordergründig mit kleinen Galerien, Urban Art und jungen Nachwuchskünstlern. Doch vielleicht tue ich Raoul unrecht und bin zu voreingenommen.
»Lass uns mit dem Interview beginnen!« Er streicht sich über seinen gestutzten Vollbart, der von ein paar weißen Strähnen durchzogen ist. Ich hoffe, er wird nicht der Chauvinist sein, der sich gerade abzeichnet, und das hoffe ich mehr für ihn als für mich. Ich brauche keine sexistischen Bemerkungen. Ich brauche eine Badewanne und ein bisschen Gras.
»Wenn ich mir die Frage erlauben darf«, sage ich. »Du bist der Chefredakteur. Gibt es sonst niemanden, der so ein Interview übernimmt?«
Er lächelt vielsagend. »Wir sind ein kleines Team, und die Titelgeschichte mache immer ich.«
»Titelgeschichte?«
»Sicher. Alle Gewinner müssen aber ein bisschen zusammenrücken.« Zwinkern. »Also. Ein paar Fragen zum Aufwärmen. Aufgewachsen in …?«
»Unteroberheim. Soll ich es buchstabieren?«
»Das ist in Deutschland?«
»Ja. Ein kleines Dorf in Nordbayern, knapp zwei Stunden von Frankfurt entfernt.«
»Perfekt«, sagt er, und ich kann mir schon vorstellen, woran er meine Geschichte aufhängen wird. »Wie kommt man denn vom deutschen Land zu dieser Karriere, und noch dazu in die Staaten?« Bingo und von vorn.
Ich kann diese Frage nicht leiden, weil ich sie seit Jahren gestellt bekomme und weil sie suggeriert, dass ich etwas Außergewöhnliches erlebt hätte – was in meinen Augen nie passiert ist. Doch die Leute lieben solche Geschichten: Landmädchen, einfach aufgewachsen – was stimmt, geht nach New York, um ihren Traum zu leben – was nicht stimmt. Zumindest nicht, wenn man es so linear erzählt. Ich weiß schon jetzt, dass er am Ende die Frage nach dem Prinzen stellen wird, der mit der Aufenthaltsgenehmigung gewedelt hat.
Ich bin Fotografin, weil ich gut darin bin und das früh genug erkannt habe. Und ich bin in New York, weil das Leben mich hierhergespült hat. Magisch ist daran wenig. »Mit fünfzehn habe ich meine erste Spiegelreflexkamera von meinem Vater bekommen. Ich habe meine Familie fotografiert, vor allem meine Schwester und meine Mutter. Dann Freunde, Nachbarn, mit neunzehn die erste Hochzeit.«
Ich bemühe mich, die Geschichte nicht allzu sehr herunterzuleiern. »Mit zwanzig bin ich nach München gezogen, um zu studieren, habe aber früh wieder abgebrochen. Drei Jahre später hatte ich meine erste kleine Vernissage in der Galerie eines Bekannten. Ich habe viel Presse aus Künstlerkreisen bekommen und alle Bilder verkauft. Darauf folgte ein Artist in Residence-Stipendium in der Schweiz, und ich habe angefangen, das Fotografieren wirklich ernst zu nehmen.«
»Und New York?«
»Bei der besagten Vernissage in München habe ich einen Amerikaner kennengelernt. Wir haben geheiratet, und ich bin mit ihm nach Boston gezogen. Mittlerweile sind wir aber geschieden.«
»Raffiniert.«
»Ja, sehr.«
Einen Moment lang spüre ich Adams weiche, schützende Hand auf meiner. Wir sitzen im Flugzeug, und vor mir liegt mein neues Leben. Neben mir der Mann, den ich bald heirate, der mich verliebt ansieht, mich küsst, langsam und leidenschaftlich. All das ist plötzlich mein Leben. Alles, was ich mir nicht erträumt habe.
Raoul Garrel reibt sich das Kinn und schweigt.
»Ich brauche da ein bisschen mehr Fleisch für mein Porträt«, erklärt er dann. »Wenn du deine Heimat mit New York vergleichst, wie würdest du das beschreiben? Und wie spiegeln sich diese Welten in deiner Arbeit wider?« Raoul lehnt sich zurück. Er scheint sehr zufrieden mit sich und seinen Fragen.
»Meine Schwester und ich sind behütet aufgewachsen. Großer Garten, weite Felder, ein See im Wald. Liebevolle Eltern. Jeden Sonntagnachmittag gab es Kuchen, danach gemeinsam Brettspiele.«
Er unterbricht mich. »Bildungshintergrund?«
»Wer?«
»Deine Eltern.«
Ich zögere. »Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater hat bei einer Versicherung gearbeitet.«
Mit einer Handbewegung bedeutet mir Raoul fortzufahren. »Das alles hat sich auch in meinen Porträts gespiegelt. Eine gewisse Glückseligkeit. Und auch jugendlicher Leichtsinn.«
»Inwiefern?«
Ich überlege. »Einmal hab ich meiner Schwester befohlen, auf den Baum im Garten zu klettern und bei drei zu springen, damit ich ein Foto von ihr im freien Fall machen konnte. Sie hat sich den Arm dabei gebrochen.«
Raoul lacht. »Das ist perfekt«, sagt er, und dann spricht er ins Tonbandgerät: »Eventuell für Headline.«
Ich trinke einen Schluck Wasser.
»Die Schwester lebt nicht in New York?«
»Karla wohnt in einer Kleinstadt in der Nähe unserer Eltern. Man muss wissen, dass es auch nie mein Plan war, nach New York zu gehen. Das ist einfach passiert.«
Raoul überschlägt die Beine und streicht sich erneut über den Bart. »Richtig. Den Vergleich bitte.«
»Welcher Vergleich?«
»Zwischen der Heimat und Manhattan.«
Ich atme tief ein und lange aus. »Man muss das Landleben mit allen Facetten auf den Kopf stellen und kommt dann in dieser Metropole heraus. Aber ich habe vorher ja schon in München und auch in Boston gelebt. Die Story, dass ich von heute auf morgen vom Land- zum Stadtmädchen aufgestiegen bin, kann ich leider nicht anbieten.«
Sein Mundwinkel zuckt kurz, und ich reiße mich zusammen. »Seitdem ich in Großstädten lebe, fotografiere ich auch gesellschaftliche Missstände. Wer mit einer Kamera Geld verdient, trägt meiner Meinung nach eine soziale Verantwortung.«
Er klatscht in die Hände. »Perfekter Übergang. Den Blow Up Award hast du in der Kategorie Porträt bekommen. Für ein Foto der Reihe The (w)hole story. Eine beeindruckende Arbeit.«
»Es handelt sich um eine Reihe aus fünfzehn Fotos, auf denen Menschen Einschusslöcher an ihren Körpern zeigen. Sie alle sind unschuldige Opfer von Schusswechseln.«
»Erzähl mir von Selena. Für ihr Foto hast du ja den Preis bekommen.«
»Sie ist acht, ihre Mutter ist illegal in den Staaten, der Vater ist tot. Er wurde erschossen, als er mit Selena einkaufen war. Eine der Kugeln hat sie unter dem linken Schlüsselbein getroffen.«
Raoul schüttelt den Kopf, doch ich kann nicht ausmachen, ob er ernsthaft erschüttert ist oder lediglich nicht weiß, was er als Nächstes fragen soll.
»Was macht das mit dir?«
»Ich bin wütend. Die Arbeit ist mein Ventil.«
Nach einer Weile sagt er: »Deine Familie. Ist sie stolz? Was sagt die Schwester zu deiner Arbeit?«
Zynischer Themenwechsel.
»Ich denke, jede Familie ist stolz, wenn das Kind erfolgreich ist in dem, was es tut. Aber meine Eltern haben zu manchem, womit ich mich befasse, wenig Bezugspunkte. Meine Schwester weiß da schon mehr, sie besucht mich oft, und wir stehen uns sehr nahe.«
»Und dein Mann? Pardon, Exmann?«
»Mehr Fleisch, was?«
Er lacht. Dann greift er nach den Pralinen und wirft sich eine in den Mund. Ich sehe ihm beim Kauen zu und denke, dass ich Adam nie hätte erwähnen sollen. Wenn ich jemals wieder ein Interview geben werde, werde ich einfach eine andere Geschichte erzählen. Eine, die ohne meine gescheiterte Ehe auskommt und trotzdem glaubwürdig ist. Eine, die ich mir dann irgendwann selbst erzählen kann.
»Das ist privat.«
Raoul hebt entschuldigend die Hände. »Ich wollte nicht unfreundlich sein, pardon, pardon. Eine letzte Frage.«
»Gern«, sage ich und richte mich auf, bereit zum Gehen.
»Marie, du hast dich spezialisiert auf Porträtfotografie. Wen würdest du niemals ablichten?«
»Niemanden«, sage ich.
Als ich nach draußen trete, ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Karla hat versucht, mich zu erreichen. Wir telefonieren fast jeden Tag um die Zeit, wenn sie zur Arbeit fährt. Ich rufe sie zurück.
»Hi Sis. Mal ’ne Frage«, sage ich. »Wie stolz bist du auf mich?«
»Gar nicht.«
Ich muss lachen.
»Meinst du die Frage ernst, Marie?«
»Nein. Ich hatte nur eben das schlimmste Interview aller Zeiten. Wegen der Auszeichnung.«
»Oh, der böse Erfolg.«
»Du bist aber gut gelaunt«, sage ich.
»Ja, ich fahre jetzt aufs Amtsgericht. Herr P. hat die Zeche geprellt und zehn Weißbiergläser geklaut. Willst du tauschen?«
»Wie klaut man denn zehn Weißbiergläser?«, frage ich. »Und warum landet so etwas vor Gericht?«
»Ich finde es für dich heraus.«
Ich überquere die Straße und laufe in Richtung U-Bahn.
»Karla?«
»Hm?«
»Ich bin stolz auf dich«, sage ich.
Mein Weed ist verschwunden. Weil Weed nicht einfach so verschwindet, muss es jemand mitgenommen haben. Ich schiebe den Inhalt der Schublade hin und her, doch es ist nichts mehr da.
Lynn hat mir immer wieder davon abgeraten, Dates zu mir nach Hause einzuladen. »Du spinnst ja wohl, die in deine Wohnung zu lassen. Das hat nur Nachteile. Sei lieber selbst Gast, dann kannst du auch gehen, wann es dir passt. Und außerdem klauen die dir alles unterm Arsch weg, wenn du nicht aufpasst.«
Ich habe sie ausgelacht und ihr gesagt, dass sie sich in ihre These mit einschließen muss, schließlich geht sie ja selbst bei ihren Dates ein und aus.
Trotzdem ist das Gras weg, und ich weiß, dass Benji, mit dem ich mich seit ein paar Monaten ab und an treffe, es mitgenommen haben muss. Als wir zusammen was geraucht haben, habe ich die Schublade nämlich zum letzten Mal geöffnet.
Ich rufe ihn an, aber er nimmt nicht ab. Ich versuche, das Beste aus dem Abend zu machen, und lege mich zumindest in die Badewanne. Als meine Haut rot und aufgequollen ist, trockne ich mich ab und setze mich in ein großes Handtuch gewickelt mit einem Bagel aufs Sofa. Normalerweise würde ich an einem so warmen Abend Mitte Mai mit Lynn in ihrer liebsten Rooftopbar Lemon’s sitzen, doch sie arbeitet in ihrem Studio.
Ich schalte den Fernseher ein und drehe den Ton so leise, dass ich nicht verstehe, was der Nachrichtensprecher sagt. Das Hintergrundrauschen reicht mir, um die aufkeimende Einsamkeit abzufangen, bevor sie sich über mich legt. Ich weiß gar nicht, ob Einsamkeit das richtige Wort ist, es wirkt zu groß für jemanden wie mich. Ich habe eine wunderbare Schwester, fürsorgliche Eltern, einen tollen Freundeskreis. Doch ich bin auch geschieden und wohne nun allein. Und weiß, dass Empfindungen manchmal wenig mit äußeren Umständen zu tun haben. Mit der Welt, die ich mir gebaut habe, die ich an guten Tagen besonders liebe und für die ich mir selbst auf die Schulter klopfe.
Seitdem ich in Manhattan lebe, besucht mich immer wieder ein dumpfes Gefühl. Etwas, das aus mir herauskommt und dann von einer spontanen Verabredung zwar aufgefangen, aber nicht gelindert werden kann. Um ehrlich zu sein, finde ich mich ziemlich armselig, wenn es mal wieder so weit ist und ich mit Handtuchturban auf dem Sofa sitze, der Fernseher angeschaltet, mich parallel dazu stundenlang am Handy ablenke und dann mit brennenden Augen in einer unbequemen Position einschlafe. Man kann alles unter Kontrolle haben, sogar die Buchhaltung, und trotzdem immer wieder leidvoll auf dem Sofa unter den eigenen Erwartungen zerfließen.
Nach der Scheidung von Adam habe ich überlegt, zurück nach Deutschland zu gehen. Nicht zurück aufs Land, aber zumindest nach München. Oder nach Hamburg, vielleicht Berlin. Als ich das Karla und Max bei einem Besuch zu Hause erzählt habe, konnte ich meiner Schwester die Erleichterung ansehen, genauso jedoch die Kraft, die sie aufwenden musste, um mir die Entscheidung selbst zu überlassen. Es fällt ihr, genauso wie meinen Eltern, immer schwer, mich so weit entfernt von ihnen zu wissen. Trotzdem ist mir bewusst, dass sie niemals der Grund für meine Rückkehr würde sein wollen. Dass sie ihre Empfindungen oft hinten anstellt, ist eine Eigenschaft, die sie von unserem Vater hat, und sie treibt mich bei beiden manchmal in den Wahnsinn. Immer wieder sage ich Karla, sie müsse ihre Gefühle nicht verstecken, schließlich weiß ich, wie es in ihr drinnen aussieht, wenn ich sie nur anschaue. Practice what you preach, huh? Denn ich weiß auch, wie anstrengend es ist, etwas vor denjenigen, die man liebt, zu verbergen.
Am nächsten Tag bekam ich ein Jobangebot aus New York. Eine zehnseitige Modestrecke in der amerikanischen Vogue. Der Vorgeschmack eines Durchbruchs. Ich ging gerade mit meinem Handy wie mit einer Wünschelrute auf dem Spielplatz in Unteroberheim auf und ab, als die E-Mail kam. Meine Eltern haben keinen Internetanschluss, und das Haus befindet sich am Rande eines Funklochs. Auf dem Spielplatz ist der Empfang am besten.
Nachdem ich die E-Mail gelesen hatte, ging alles ganz schnell. So schnell, dass Karla mir nur »… du schaffst das!« hinterherrufen konnte, als ich am Flughafen durch das Gate lief und zurück in die Staaten flog. Voller Schuldgefühle, nicht ausführlich genug mit ihr und auch mit meinen Eltern darüber gesprochen zu haben. Aber auch voller Stolz über den Auftrag – darüber, gesehen zu werden, über die Möglichkeit, in die Stadt aller Städte zu ziehen, mich dort verlieren zu können … und vor allem zu wissen, dass mich die Tatsache einer gescheiterten Ehe mit achtundzwanzig nicht zurückhalten würde, das zu tun, worin ich gut war. Ich wollte mich nicht durch diese Erfahrung definieren lassen. Viel mehr schlummerte in mir eine extreme Sehnsucht, mich in einen Neuanfang zu werfen, mich zu überarbeiten, mir etwas aufzubauen, das mir niemand wegnehmen konnte.
Und natürlich hatte ich auch Angst. Aber meine Angst, noch länger zu Hause zu sitzen und Karla zu verschweigen, was mich nachts kaum schlafen ließ, war größer.
In New York schlug ich mir die Nächte um die Ohren. Was auch sonst. Ich verdrängte, was ich nicht mehr spüren wollte, und ließ mein aufkommendes Heimweh nach tickenden Standuhren, dem Gestank von Gülle, dem Geschmack eines guten Bieres vernebeln. Meine Sehnsucht danach, Kreuzworträtsel mit Mama zu machen und mit ihr und Karla in Nürnberg erst frühstücken und dann shoppen zu gehen. Oder Mama dabei zu helfen, die aufwendigen Faschingskostüme für sich und ihre Freundinnen zu schneidern, womit sie bereits Mitte September begann.
In meinem Heimatort gibt es eine steinalte Tradition. Sie geht auf die mündliche Überlieferung zurück, dass im dreizehnten Jahrhundert eine Gräfin eine schwere Geburt überstand und von den Frauen des Ortes nicht nur Wein geschenkt bekam, sondern auch in den nachfolgenden Wochen gepflegt wurde. Aus Dankbarkeit ließ die Gräfin den Frauen einen Tag im Jahr zur freien Verfügung schenken. Daraus entwickelte sich die Tradition, dass alle zwei Jahre am Rosenmontag eine Feier in der Mehrzweckhalle ausgerichtet wird, die ausschließlich von den verheirateten Frauen des Dorfes besucht werden darf. Die vier Dorfviertel wechseln sich mit der Ausrichtung ab, woraus sich der Name Vierteltrinken ableitete. Niemand anderem ist der Zutritt an dem Abend gewährt, außer ein paar Männern, die sich um den Ausschank und die Bewirtung kümmern. Sie müssen jedoch als Frau verkleidet sein, manche von ihnen kaufen sich alle zwei Jahre ein neues Kleid und machen sich den gleichen Spaß aus der Veranstaltung wie die Frauen selbst. Am besagten Abend werden dann Sketche aufgeführt, es gibt Büttenreden, Showeinlagen, den ganzen Faschingsfirlefanz eben. Außerdem wählt jedes Viertel für insgesamt acht Jahre eine Bürgermeisterin, eine Stellvertretung und eine sogenannte Ausschellerin, die sich in den kommenden Jahren um die Zusammenstellung des Programms kümmert. Es gibt noch viel mehr Rituale rund um das Vierteltrinken, doch manche kenne ich gar nicht oder habe sie über die Jahre vergessen. Mama geht bis heute am Rosenmontag zu der Veranstaltung, sie wurde sogar vor vielen Jahren für eine Amtszeit als Bürgermeisterin ihrer Nachbarschaft gewählt, was immens viel Arbeit bedeutete, weil sie nicht nur die Kostüme für rund zwanzig Frauen nähte, sondern auch ihre eigene Rede vorbereitete und einstudierte. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich ganze Wochenenden mit ihr in der Waschküche verbrachte, sie bei den Entwürfen beriet, ihr beim Nähen half und manchmal, wenn sie ganz vertieft war, bei der Arbeit fotografierte. Am Morgen des Faschingsdienstags erzählte sie uns dann immer von dem Abend, weil weder Karla noch ich teilnehmen durften. Ich hätte alles dafür gegeben, einmal das Vierteltrinken mit meiner Kamera zu begleiten. Und meine Mutter, die sonst so zurückhaltend lebt, damals auf der Bühne stehen zu sehen.
Ich feierte also gegen das Heimweh an, während ich in einer Stadt saß, die mir Zuflucht vor meinem alten Leben in Boston bot. Und betäubte mich zugleich, um mein neues Leben auszuhalten. Ich war bei der letzten Party im Marquee, einer überteuerten Clubinstitution in West Chelsea, und auch bei der Wiedereröffnung ein Jahr später, obwohl ich weder den Club mochte noch das Geld hatte, das ich hierfür zum Fenster rausschmiss. Ich landete auf Hauspartys in Williamsburg und schlich mich in den frühen Morgenstunden durchs Treppenhaus auf die kargen Betondächer, um den Sonnenaufgang über Manhattan zu sehen. Und ich feierte meinen ersten Geburtstag in der Stadt – im ukrainischen Restaurant Veselka bei mir ums Eck, das jeder im Viertel kennt.
Jetzt, vier Jahre später, gehören die Partys der Vergangenheit an. Ich habe mich an die Stadt gewöhnt, bin in ihre Anonymität reingewachsen, finde mich zurecht. Und finde mich doch oft allein.
Am Abend kann ich die Stille des Apartments selten genießen. Nach Karlas Trennung von Max habe ich sie gefragt, wie sie sich in ihrer neuen Wohnung fühlt. Ob es auch so still ist wie bei mir.
»Bei dir ist es doch nie still, du hast immer die Stadt als Hintergrundgeräusch«, sagte sie, und ich antwortete – zugegeben – etwas bedeutungsschwanger:
»Zu wissen, wie viel Leben da draußen gelebt wird, macht das eigene manchmal sehr leise.«
Ein paar Minuten später heulten wir beide und legten erst auf, als ich ihr mehrfach versicherte, dass bei mir alles in Ordnung war. Trotzdem schickte sie mir eine Stunde später ein Dutzend Links zu Tiervideos, weil »sicher ist sicher«.
Ich vermisse Karla. Ihre Lösungsorientiertheit, ihren Pragmatismus. Vor allem vermisse ich jedoch ihre bloße Anwesenheit. Wenn sie neben mir auf dem Sofa einschläft und ich durch Netflix zappe, dann ist die Wohnung zwar genauso leise wie jetzt, aber ich kann mich entspannen. Wenn niemand sonst da ist, male ich mir manchmal aus, dass jemand an der Tür klopfen oder gar einbrechen würde. Ein Tick, den ich nie ganz abschütteln konnte, nachdem im Nachbarhaus in Unteroberheim einmal eingebrochen wurde, als Karla und ich noch Kinder waren.
Ich beiße in den Bagel und drehe mich, um aus dem Fenster zu sehen. Die Wohnung gegenüber ist dunkel, und weil es erst kurz vor acht ist, vermute ich, dass sie nicht zu Hause sind. Ich frage mich, wo ein solches Paar in Manhattan ausgeht. Dinner and a movie? Drinks mit ein paar Freunden in einer schicken Dachterrassenbar? Gehen sie in Jazzclubs im West Village oder lieber in ein Off-Broadway-Stück? Oder arbeitet sie spät, und er trifft sich mit einem Freund? Sind sie ganz normale Menschen, oder wissen ihre Freunde, wissen ihre Familien, wie sie wirklich leben? Ich habe keine Ahnung, ob sie wählen gehen, in New York aufgewachsen sind, welche Jobs sie haben oder ob sie sich Kinder wünschen. Aber ich weiß so viel anderes.
Gegen halb zwölf öffne ich die Augen. Ich bin wie so oft auf dem Sofa eingeschlafen, und als ich versuche, meinen Kopf zu heben, fühlt sich mein Nacken verspannt an. Im ersten Moment denke ich, ich bin von selbst aufgewacht, doch dann höre ich jemanden rufen. Ich richte mich auf und schaue über die Sofalehne hinweg aus dem Fenster.
»Halt dein verdammtes Maul!«, schreit eine tiefe Männerstimme so laut, dass es durch die geschlossenen Fenster dringt. Ich sehe niemanden. Gegenüber brennt Licht in der Küche und im Schlafzimmer. Ich stehe auf und öffne das Fenster, dann schraube ich mein Teleobjektiv auf das Gehäuse meiner Kamera, setze mich wieder aufs Sofa und zoome das gegenüberliegende Apartment heran. Der Ausschnitt zittert leicht. Ich schieße kein Foto, ich will lediglich genauer sehen, was diesmal passiert. Sie steht im Schlafzimmer, das Fenster ist offen. Sie ruft etwas, das ich nicht verstehe. Ihr Haar trägt sie offen, eine Strähne klebt auf ihrer Wange. An ihrem Hals zeigen sich rote Flecken. Ich schwenke die Kamera. Er steht in der Küche und schenkt sich etwas in ein Glas. Er wirkt ruhig, fast schon gelassen. Ein unscheinbarer Mann Mitte vierzig, Bauchansatz und Kurzhaarfrisur.
Sie weint, schreit, und dann hustet sie. Kein schöner Anblick und auch kein neuer für mich. Was sie schreit, verstehe ich nicht. Er trinkt einen Schluck, lehnt sich gegen den Küchentresen und zieht sein Handy aus der Hosentasche.
»Sei endlich still!«, schreit wieder jemand. Ich senke die Kamera und beuge mich über die Sofalehne nach draußen. Zwei Stockwerke unter ihnen streckt ein Mann mit Glatze und zornigem Blick den Kopf aus dem Fenster.
Und dann schweigt sie. Sie wischt sich über die Wangen und geht in das Zimmer, das sich ans Schlafzimmer anschließt und das ich deshalb als Bad vermute. Er steht noch immer in der Küche, jetzt telefoniert er. Er lacht, dann dreht er sich weg, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann.
Ich lege die Kamera zur Seite und reibe mir die Augen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, die ich in meiner dunklen Wohnung sitze und darauf warte, dass sie wieder aus dem Bad kommt. Doch sie taucht nicht auf. In der Zwischenzeit hat er sich ins Wohnzimmer gesetzt und den Fernseher angeschaltet. Die bizarre Vorstellung ist vorbei. Meine Atmung beruhigt sich langsam.
Ich stehe auf und gehe ebenfalls ins Bad. Als ich wieder herauskomme, checke ich meine Wohnungstür. Dreifach verschlossen. Ich beuge mich über das Sofa, um das Fenster zu verschließen. Im Schlafzimmer gegenüber ist das Licht nun aus, doch mein Blick bleibt an einer Bewegung haften. Und dann sehe ich die Frau. Sie sitzt am offenen Fenster und raucht. Ich greife nach meiner Kamera, ein Reflex. Dann entscheide ich mich dagegen.
Ein paar Züge lang beobachte ich meine Nachbarin. Leicht nach vorn gebeugt, ein abwesender Blick. Dann hebt sie ihren Kopf.
Ich rühre mich nicht. Es ist zu dunkel, um zu erkennen, ob sie mich ansieht. Doch es fühlt sich so an.