Ich bin nicht ich ohne dich.
Seit meinem neunten Geburtstag hingen die Metallschilder mit den geschwungenen Lettern in unseren Kinderzimmern. Ich besaß eins, Marie besaß eins. Kurz zuvor hatte Marie den Satz zu mir gesagt.
Ich bin nicht ich ohne dich.
Wir saßen damals auf der Schaukel unter dem Apfelbaum im Garten, Papa schubste uns an. Unsere Mutter kam durch die Verandatür mit einem Fotoapparat in der Hand. »Haltet mal still«, sagte sie. »Und jetzt nehmt euch mal in den Arm.«
Marie schlang ihren sonnengebräunten Arm um mich, drückte mir einen Kuss auf die Backe und sagte: »Ich bin nicht ich ohne dich.« Und dann hatte ich gesagt: »Was sich reimt, das stimmt.«
Ich wusste, dass es genau so passiert war. Ich konnte mich daran erinnern, und ich konnte meine Eltern fragen, die die Geschichte bestätigen würden. Außerdem gab es noch immer die Schilder. Doch in dieser ersten Nacht in New York sollte es nur ein Traum gewesen sein.
Ich wünschte mir für einen Moment, mich nie wieder erinnern zu können, nie wieder an irgendetwas denken zu müssen, am wenigsten an die Vergänglichkeit der Dinge. Meine Augen waren wie mit Blei gefüllt, ich konnte sie nur schwer öffnen, wollte sie aber nicht wieder schließen. Hinter ihnen spukten Bilder, von denen ich viele nicht mehr von der Wahrheit unterscheiden konnte, und so herzzerreißend schön manche Streiche des Unterbewusstseins waren, so sehr wollte ich nach ihnen greifen und in die Zukunft verlegen. In eine geteilte Zukunft, in der unsere einzigen Probleme unterschiedliche Zeitzonen, Jobwechsel oder Dating-Apps sein würden oder auch weniger banale Probleme, echte, existenzielle Krisen – aber nicht, dass wir uns verlieren würden.
Ich strampelte das Bettlaken von mir. Ich funktionierte nicht mehr, wie ich es in Deutschland getan hatte. Stattdessen fiel ich. Und das, woran ich mich festzuhalten versuchte, riss ich mit.
Das Kissen roch noch immer mehr nach Marie als nach mir, obwohl ich schon zwei Wochen zuvor ein paar Nächte in ihrem Bett geschlafen hatte. Der Geruch ihres Shampoos hing ganz leicht im Stoff, sie war oft mit nassen Haaren ins Bett gegangen. Und da waren auch noch der frühlingshafte Duft ihres Parfüms und ihr eigener Körpergeruch, nicht greifbare Überbleibsel ihrer Essenz, die sich bereits aufzulösen begannen. Als Kinder hatte uns lange die Frage beschäftigt, ob wir gleich rochen, doch egal, wie oft wir aneinander schnüffelten und Familienmitglieder zu Rate zogen, eine zufriedenstellende Antwort hatten wir nicht gefunden.
»Natürlich riecht ihr unterschiedlich«, sagte Mama irgendwann. »Genauso unterschiedlich, wie ihr seid. Jede von euch ist ein eigenständiger Mensch, und jeder Mensch hat das Recht auf einen eigenen Geruch.« Marie kicherte, dann Papa und dann ich.
Marie ist tot. Bäm. Du bist allein in New York. Bäm. Du hast diese Fotos gefunden. Bäm. So arbeitete mein Kopf dieser Tage. Meldung, Verdrängung, die Nächste. Nebel, Nebel, Nebel. Meldung, Verdrängung, die Nächste, von vorn.
In der Wohnung gegenüber hatte ich niemanden gesehen, seitdem ich hier war. Die Befürchtung, das Paar wäre bereits wieder ausgezogen und ich würde nie dahinterkommen, was es mit den Bildern auf sich hatte, nagte zuerst an mir, doch mit Hilfe von Maries Teleobjektiv konnte ich erkennen, dass das Apartment voll möbliert war. Aufgeräumt, aber nicht leer. Leben hing darin, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, woran ich das festmachte. Vielleicht waren sie im Urlaub.
Natürlich war Marie neugierig gewesen. Wer fotografierte und sich dabei vor allem auf Menschen und ihre Geschichten, auf das, was ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung ausdrückten, fokussierte, musste hungrig auf das Leben sein. Sie hatte immer wissen wollen, wie Dinge funktionierten, und wenn sie es nicht taten, suchte sie nach einem Grund. Ihre erste Kamera zerlegte sie am Küchentisch und baute sie wieder zusammen, weil sie der Meinung war, sie würde nur gut fotografieren können, wenn sie genau wusste, welcher Handgriff welche Funktion auslöste und vor allem, warum.
Doch das hier war anders. Dieses Paar zu fotografieren, in der Intensität dieser Ehe, bei dem, was sie taten und vor allem wie, das war ein Einbruch in ihre Privatsphäre. Das war nichts, was man fotografierte, es sei denn, man wollte die Verantwortung dafür übernehmen. Und Marie war sich dessen bewusst gewesen, da war ich mir sicher.
Was ich brauchte, war die Antwort auf meine Frage, warum sie trotzdem auf den Auslöser gedrückt hatte.
Doch ich blieb einfach liegen. Nach einer Weile drehte ich mich zur Seite und vergrub mein Gesicht in ihrem Kissen. Und dann weinte ich wieder.
Toast war gut, der blieb drin. Kaffee, aber nicht zu stark, mein Magen zog sich schon ohne Reizung von außen zusammen. Toast und dann ein Schluck. Ich stand in der Küche und zählte in Gedanken auf, was weitergeht, während alles andere stillsteht: Man geht aufs Klo. Man trinkt. Man isst, wenn man ansatzweise auf sich achtgibt oder gefüttert wird. Man fährt U-Bahn. Man lüftet. Man putzt sich die Nase. Man wechselt die Unterwäsche. Man hebt Geld ab. Man nimmt einen Anruf entgegen. Man bindet sich die Schuhe. Man sagt ›stimmt so‹. Manchmal duscht man.
Man lacht. Nur wann?
Nach dem Frühstück ging ich duschen, zog mir eine Jogginghose und ein T-Shirt an und cremte mein Gesicht ein. Meine Augen brannten noch immer ein wenig, wenn ich sie schloss und meine Handflächen auf die Lider legte. Ich lief ziellos durch die Wohnung, zog Bücher aus dem Regal, öffnete Rechnungen, verschob die Magneten am Kühlschrank. Dann setzte ich mich aufs Sofa, das gegenüberliegende Apartment im Rücken. Am Abend zuvor hatte ich noch mehrfach aus dem Fenster gesehen, doch niemand war zu Hause gewesen. Ich griff nach meinem Handy. Kein verpasster Anruf von Marie, keine Nachricht, kein Foto. Ich musste mich an so viel Neues gewöhnen und fragte mich, ob das nur gelang, indem ich Altes herausstrich. Meine Schwester würde mich nie wieder anrufen. Ich würde sie nie fragen können, warum sie all diese Fotos gemacht hatte. Dieser Kontrollverlust ließ mich nun durch mein Leben schwanken. Ich stellte alles in Frage.
Ich schrieb Lynn und fragte sie, ob sie mich am Abend treffen könne. Dann schaltete ich den Fernseher ein, drehte die Lautstärke runter und schlief für mehrere Stunden.
Lynn hatte darauf bestanden, mich abzuholen. Als ich ihr die Tür öffnete, sah sie mich durch nasse Augen an. Wir umarmten uns lange, dann sagte sie: »Dass du hier bist, erinnert mich nur noch mehr an sie. Weißt du, was ich meine? Ist es blöd, dass ich das sage?«
Ich zuckte die Achseln, weil es natürlich blöd war, aber ich wusste auch, wie schwierig es war, die richtigen Worte zu finden. Ich kam mit allem zurecht, was keine steife Beileidsbekundung war.
Wir standen eine Weile im Wohnzimmer und redeten. Ich erzählte Lynn von der Beerdigung und dass die Urne ins Familiengrab gelassen worden war. Eigentlich hatte ich die Asche unter dem Apfelbaum im Garten verstreuen wollen, doch meine Eltern waren dagegen. Ich vermutete, dass sie wenigstens jetzt wissen wollten, wo ihre Tochter war. Dass ihre Asche nicht umherwehte, sondern sich an einem Platz befand. Zurück in ihrem Heimatort, auf dem Friedhof, wo Verstorbene hingehörten und wo man sie besuchen konnte.
Lynn erzählte mir, dass sie fast täglich an der Unfallstelle vorbeiging und dass dort noch immer Blumen lagen.
»Jeden Morgen wird alles entfernt, aber spätestens gegen Mittag liegt wieder was da. Freunde laufen regelmäßig vorbei, aber ich schätze, es sind auch einige, die erst jetzt davon gehört haben.«
Sie ging durchs Wohnzimmer und bot mir dann ihre Hilfe an, das Apartment auszuräumen.
»Ich komme gerne darauf zurück«, sagte ich, und dann kratzte ich meinen Mut zusammen, um sie das zu fragen, weshalb ich sie überhaupt hatte treffen wollen.
»Lynn, kennst du das Paar, das gegenüber wohnt?«
Sie ging zum Fenster und nickte mit dem Kopf in die Richtung der Wohnung. »Meinst du die da? Treiben die’s nicht immer bei offenem Fenster?«
Tatsächlich huschte mir ein Lächeln übers Gesicht.
»Marie und ich haben sie nur einmal dabei beobachtet. An dem Tag, als sie eingezogen sind.«
»Ja, richtig. Ich kann mich erinnern, dass sie mir davon erzählt hat.« Sie löste den Blick von der Wohnung. »Aber mehr weiß ich nicht. Warum?«
Ich spürte Erleichterung in mir aufsteigen, die sich sofort wieder zusammenzog und verschwand. Lynn wusste nichts über das Paar und auch nichts über die Fotos, was bedeutete, dass Marie es nicht nur mir verheimlicht hatte, sondern auch ihr. Nun war es also wirklich ein Geheimnis. Auf beiden Seiten des Atlantiks.
»Nur so«, sagte ich. »Marie hat sie ab und an erwähnt.«
Die Bar The High war nichts Besonderes, und doch würde jeder Ort, an dem Marie gewesen war, genau das für mich sein. Ein Fähnchen auf einer Landkarte, das mir neue alte Orte zeigte. Ich konnte sie besuchen, befühlen und inhalieren, ich konnte Marie nicht zurückholen, aber ich wollte sie genauso wenig loslassen.
Es gab einen langgezogenen Tresen, der indirekt goldenes Licht ausstrahlte und somit der Mittelpunkt eines relativ kleinen und sonst sehr dunklen Raumes war. Der aufgedrehte R ’n’ B-Sound war nicht zu laut, um sich unterhalten zu können, die Drinks lagen bei fünfzehn Dollar, Erdnüsse standen auf den Tischen. Wir setzten uns in eine kleine Nische, und Lynn zeigte auf einen Tisch auf der anderen Seite des Raumes. Dort war das Bild von ihnen beiden entstanden, das Marie zuletzt online gestellt hatte.
Ein Kellner kam zu uns und fragte uns nach Getränkewünschen. Ich bestellte einen Chardonnay und Lynn zwei Tequila. Als er wieder ging, fragte ich sie, ob einer davon für mich gedacht war, denn Schnaps wollte ich wirklich nicht trinken, doch sie sagte: »No worries, ich brauche beide. Ich hatte vergessen, dass Marie den Typen abgeschleppt hat, und jetzt frage ich mich, ob wir ihm von ihr erzählen müssen. Also, ich meine –«
»Welcher Typ? Der Kellner?«
Sie nickte, und ich drehte mich Richtung Tresen. Der Mann schenkte gerade einen Wein ein, wahrscheinlich meinen Chardonnay.
»Wann?«, fragte ich.
»Als wir das erste Mal hier waren. Und das letzte Mal. Wir haben hier auf ihre erste Therapiestunde angestoßen.«
»Ich weiß«, sagte ich dann und spürte ein Gefühl von Isolation in mir aufsteigen. Wie früher, wenn ich im Sportunterricht beim Völkerball darauf hoffte, nicht die Letzte zu sein, die übrig blieb und einem Team zugeordnet werden würde, das mich gar nicht haben wollte.
»Girls«, sagte der Kellner und stellte die zwei Tequila auf den Tisch. Den ersten stürzte Lynn sofort hinunter, und ich nutzte die Gelegenheit, den Typen zu mustern, als er mir das kalte Glas Weißwein gab. Der Mann sah aus wie Ende zwanzig und hatte ein schönes Gesicht mit weichen Zügen. Er bemerkte meinen Blick und lächelte mich an. Ich zog einen Mundwinkel nach oben. Als er ging, sah ich ihm nach. Er hatte einen lässigen Gang. Vielleicht spürte er, dass mein Blick noch immer auf ihm haftete.
Es schmerzte mich, dass ich nichts über ihn wusste. Seit zwei Tagen war ich zurück in New York und hatte erst den Ordner A gefunden und nun von einem One-Night-Stand – war es überhaupt einer? – erfahren. Marie hatte mir immer alles erzählt. Warum schien es plötzlich, als gäbe es mehr Geheimnisse als geteilte Geschichten? Ich wusste, dass mir die Eifersucht ins Gesicht geschrieben stand.
»Wie heißt er?«
Lynn zuckte die Achseln und trank den zweiten Tequila.
»Er hat sie gesehen, sie hat ihn gesehen, bäm. Da war’s schon klar, wie der Abend verläuft. Ich meinte noch, dass sie Boys erst mal sein lassen soll, weil sie mit der Therapie genug am Hut hatte.« Sie drehte eins der leeren Gläser hin und her. »Als später dann kaum noch was los war, haben wir uns an den Tresen gesetzt. Ich bin aber irgendwann gegangen und hab die beiden allein gelassen. Sie hat mir am nächsten Tag geschrieben, dass ich recht hatte und sie das Daten ab sofort pausieren würde. Das ist die ganze Geschichte.«
Ich trank einen Schluck, um meine herausbrechende Frage zu verzögern. »Warum hat sie mir nicht von ihm erzählt? Ich weiß von eurem Abend, ich weiß von der Therapie. Ich weiß von Benji!«
Lynn beugte sich über den Tisch. »Hör zu Karla, das bringt nichts. Vielleicht hat sie es einfach vergessen, weil es so unbedeutend war oder weil sie keinen Bock darauf hatte, dass du ihr das Gleiche sagen würdest wie ich.« Sie sah mir in die Augen. »Der Grund ist auf jeden Fall nicht, dass sie dir irgendwas verheimlichen wollte. Wenn ich nicht sowieso schon dabei gewesen wäre, hätte sie es mir im Nachhinein wahrscheinlich auch nicht erzählt.«
Die Gewissheit, alles Wichtige in Maries Leben mitbekommen zu haben, zerbröselte seit meiner Rückkehr nach New York wie weicher Sandstein in meinen Händen. Bei jeder Antwort, die Lynn mir gab, war da diese ekelhafte Angst, noch mehr zu erfahren, wovon ich nichts wusste.
»Was ist eigentlich mit ihrem Ex?«, fragte Lynn.
»Adam?«
»Ja, hat den jemand kontaktiert?«
Wieder so ein Schuss in Brusthöhe.
»Nein«, sagte ich und dachte: Ich hätte Adam kontaktieren müssen, vielleicht sogar sofort an Maries Todestag. Doch ich tat es einfach nicht. Und je mehr Zeit verstrich, desto entfernter schien mir die Aufgabe. Wie etwas, das man sich immer und immer wieder vornimmt und das durch den Aufschub irgendwann obsolet wird. Es sah mir nicht ähnlich, denn ich hatte mich um so vieles gekümmert, so war ich eben, schon immer gewesen. Die, die anpackte, machte, funktionierte, unterstützte, sortierte, erledigte und abhakte, weiter. Doch beim Gedanken an Adam hatte ich mich zusammengefaltet und nicht gerührt. Vielleicht, weil er mich einzig daran erinnerte, wie schmerzhaft die letzten Monate ihrer Ehe und die Scheidung gewesen waren. Aber das reichte nicht als Begründung, und das wusste ich auch.
»Vielleicht weiß er es mittlerweile«, schob ich nach. Sie hatten noch ein, zwei gemeinsame Bekannte. »Gemeldet hat er sich aber nicht.«
Lynn wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Du mochtest ihn nicht besonders, was?«
Wie hätte ich Adam je mögen sollen. Gut, das war etwas dramatisch, denn ich hatte ihn ja gemocht, aber seit drei Wochen war nun mal alles dramatisch, und meine Gedankenfilter funktionierten nicht mehr. Ich saß nicht mit Marie in dieser Bar und sinnierte darüber, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie Adam bei ihrer Vernissage in München nicht in die Galerie gezogen und damit in ihr Leben, sondern hätte sie ihn daran vorbeigehen lassen. Wir gaben uns keinen »Was wäre wenn«-Gedankenspielen hin oder heckten Zukunftspläne füreinander aus, denn es war nur noch eine von uns übrig, und deren Zukunft war mir egal. Ich saß hier und durchlebte die Wahrheit sehr vieler Sprichwörter. Alles kommt immer anders, als man denkt.
Adam hatte meinen Eltern großen Kummer bereitet, auch wenn sie es bis heute nicht zugaben. Aufgrund der Sprachbarriere konnten sie sich nie wirklich unterhalten, und seine Eltern hatten sie nie kennengelernt, weil Adam und Marie sehr schnell und sehr heimlich und ohne geladene Gäste geheiratet hatten. Die Feier, die die beiden immer hatten nachholen wollen, war Jahr für Jahr verschoben worden. Das traf uns alle, doch ich konnte besser damit umgehen als meine Eltern. Besonders meine Mutter, die mit Maries Auswanderung immer zu kämpfen hatte und Adam nicht traute, weil sie sagte: »Wie soll ich jemandem trauen, mit dem ich mich nicht mal unterhalten kann?«
Ich gönnte meiner Schwester diesen emotionalen Ritt, sich Hals über Kopf in einen mysteriösen Amerikaner zu verlieben, der sie vergötterte, ihr einen Antrag machte, um ihr an der Ostküste der USA eine ganz neue Welt zu öffnen. Das passte zu ihr, sie hatte immer rausgewollt aus dem, was sie kannte. Sie war glücklich und hungrig auf neue Impulse. Und zwischen uns galt das ungeschriebene Gesetz, dass nur das zählte. Wir wollten die andere immer glücklich sehen. Letztendlich machte es genau das einfacher, die Umstände, die sie dafür wählte, zu akzeptieren.
Adam war Marie gegenüber sehr liebevoll gewesen. Er unterstützte sie in allem, was sie tat, auch als sie kurz nach ihrem Kennenlernen für ein Stipendium in die Schweiz zog. Auf Partys stellte er sich in ihren Schatten, was alle immer sympathisch fanden. Er sprach von ihr, wenn man ihn nach seinem Wohlbefinden fragte. Marie ging das manchmal auf die Nerven, sie brauchte jemanden, der nicht nur sein eigenes Ding durchzog, sondern auch den nötigen Raum dafür beanspruchte. Jemanden, der nicht nur ihre Hand hielt, sondern wirklich neben ihr stand, Seite an Seite.
Doch Adam strauchelte beruflich. Seine Familie war stinkreich, theoretisch hätte er gar nicht arbeiten müssen, und genau das zermürbte ihn. Sein Leben bekam immens viel Platz, doch er wusste nicht, ihn zu befüllen. Dass Marie aus verhältnismäßig einfachen Verhältnissen kam und sich innerhalb weniger Jahre an einen Punkt arbeitete, an dem sie Geld mit dem verdiente, was sie liebte und worin sie gut war, wurde später in Boston eine Belastung für die Beziehung. Oft erzählte sie mir, dass er nachts kaum schlief, dass er mürrisch war und sich darüber beklagte, wie viel sie arbeitete.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich jeden Tag aufs Neue überlegte, was ich ihr raten sollte. Adam war dorthin zurückgekehrt, wo er aufgewachsen war, und er hatte eine Frau mitgebracht, die alle beeindruckte. Er konnte sich nicht mehr hinter Marie verstecken, hier wartete man darauf, dass er beruflich endlich nachzog. Ich wusste von Marie, dass sich manche Familienmitglieder darüber lustig machten, dass sie Geld verdiente und er nicht. Einmal rief sie mich mitten in der Nacht von einer Familienfeier aus an. Nachdem Adams Vater von einem ihrer Bilder geschwärmt hatte, hatte Adam – zu seiner Verteidigung sehr betrunken – gesagt, dass sich »alle mal wieder einkriegen sollen«. Er warf sich vom einen ins andere Extrem. Ich glaubte damals, dass er nicht wusste, welcher Mensch er ohne Marie war. Und wer er selbst wirklich sein wollte.
In jener Nacht weinte sie lange. Nicht, weil er ihre Arbeit diskreditierte und ihre Beziehung vor der gesamten Familie blamierte, sondern, weil sie ihn liebte und befürchtete, dass er es nicht mehr tat. Da wusste ich, dass es nicht halten würde. Meine Erleichterung darüber, dass Marie danach jemanden finden könnte, der sie zu schätzen wusste und ihren beruflichen Erfolg nicht als Bedrohung verstand, vermischte sich mit dem schmerzhaften Wissen darüber, wie sehr der Gedanke an eine Trennung meine Schwester belastete.
Ich riss mich zusammen und sagte schließlich: »Er kriegt das alleine nicht hin, Marie, er ist so viel schwächer als du. Macht gemeinsam eine Therapie, nehmt euch eine Auszeit zusammen, aber macht irgendwas. Oder –«
Ich unterbrach mich selbst, doch sie bat mich mehrfach, den Satz zu beenden.
»Oder du gehst, Marie«, sagte ich schließlich.
Weil es ihr niemand sonst sagte. Und weil einem Satz, der lediglich im Kopf herumgeisterte, keine Tat folgen konnte. Solche Dinge mussten ausgesprochen werden. Etwas, das mir selbst schwerfiel. Wie einfach es doch war, Schlaglöcher im Weg eines anderen zu erkennen und zu wissen, was zu tun war.
»Ich kann nicht glauben, dass sie weg ist«, war Lynns Satz, der mich aus meiner Erinnerung an Adam riss. »Ich meine, das ist jetzt wahrscheinlich die härteste Zeit, weißt du? Die, in der Marie noch so richtig spürbar ist und gleichzeitig aber weg.«
Lynn deutete auf den leeren Tisch, an dem sie vor wenigen Wochen gesessen hatten. »Ich seh sie da sitzen. Sie ist noch da, und ich muss mich dran erinnern, dass sie es eben nicht ist. Das macht mich fertig.«
Ich starrte sie an, dann beugte sie sich über den Tisch zu mir.
»Scheiße, Mann, ich wünschte, Karla, ich wünschte echt, ich könnte dir helfen. Und ’ne bessere Freundin sein.«
Meine Augen wanderten zu dem Kellner, und da dachte ich, dass ich mir selbst, zum allerersten Mal in meinem Leben, nicht helfen konnte. Ich hatte keinen Plan parat.
Als wir zahlten, sagte er »bis bald« und lächelte. Lynn meinte daraufhin, dass er sie nicht wiedererkannt hätte, sie hatte an dem Abend schließlich kaum mit ihm gesprochen.
»Ich begleite dich noch zum Apartment«, sagte sie, als wir nach draußen traten. Die Klimaanlage hatte mich frösteln lassen, aber jetzt in den Straßen hing eine warme Sommerluft, überall lachte jemand, und überall nahm irgendwer irgendwen in den Arm.
Ich dankte Lynn, sagte aber, dass ich lieber einen Spaziergang machen und etwas allein sein wollte.
»Okay. Wenn du Hilfe brauchst mit der Wohnung oder mit allem anderen, dann ruf mich an, ja?«
Als Lynn um die Ecke bog, öffnete ich wieder die Tür zur Bar, und ein kühler Luftstrom kam mir entgegen. Ich ging auf den goldschimmernden Tresen zu und blieb neben einem freien Barhocker stehen. Der Kellner unterhielt sich gerade mit einem Kollegen, doch als er mich sah, kam er zu mir.
»Hey, hast du was vergessen?«
Ich wurde nervös. Wie schwer würde es mir fallen, einer fremden Person vom Tod meiner Schwester zu erzählen? Was, wenn es ihn kaltließ? Wenn er nicht gleich wusste, wen ich meinte? Oder wenn es ihm das Herz brach, weil er sich mehr als einen One-Night-Stand erhofft hatte?
Schließlich sagte ich etwas. Und erst als ich es selbst hörte, realisierte ich, dass mein Unterbewusstsein einen ganz anderen Weg einschlug: »Kennen wir uns?«
Er grinste. »Noch nicht.« Er stemmte die Arme in die Hüften und musterte mich eine Weile. Ich spürte die Röte in mir aufsteigen. »Bist du aus Deutschland?«
»Ja.«
»Dachte ich mir. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater kommt aus Jamaika. Ich kann die Sprache zwar nicht, aber den Akzent entlarve ich sofort. In New York gibt es viele Deutsche …«
Ich weiß, dachte ich. Eine davon war meine Schwester.
»Wie auch immer: Ich bin Cole.« Lächeln. »Das ist der Moment, in dem du deinen Namen sagst.«
Ich setzte mich auf den Barhocker. »Ich bin Karla.«
»Karla. Schön. Warte hier, ja?«
Wie schnell sich die Dinge drehten. Das war mein Gedanke gewesen, als ich mit Max nach der Beerdigung von Marie zu meiner Wohnung gefahren war. Ich hatte die Drehung der Dinge gespürt, ich hatte mein Leben rotieren sehen, doch ich wusste nicht, wann es jemals anhalten würde. Und wo.
Jetzt, ein paar Tage später, lag ich im Bett eines fremden Mannes und spürte, dass ich nun in eine entgegengesetzte Richtung rannte. Und ich unternahm nichts dagegen. Starrte an die Zimmerdecke und war mir selbst so fremd geworden.
Max war bis zu diesem Zeitpunkt der einzige Mann gewesen, mit dem ich geschlafen hatte. Diese Wahrheit war nun überschrieben worden, und die Bedeutungslosigkeit der letzten Stunden lag so schwer auf meinem Körper wie die Decke, in die ich mich trotz der Hitze eingewickelt hatte. Ich wusste nicht, warum ich hier lag, vielleicht versteckte ich mich.
Cole schnarchte nicht. Seine Atmung ging leise, sein Brustkorb hob und senkte sich ganz ruhig. Er spürte nicht den Sturm neben sich, ich unterdrückte ihn, und ich schwitzte dabei.
Auch das ging weiter, während man trauerte. Schwitzen. Und Sex. Es hatte immer irgendjemand irgendwo Sex, niemals hätte ich aber geglaubt, dass ich diejenige sein würde. Jetzt, hier, mit dieser Drehung im Kopf.
War es das, was man von Trauernden erwartete? Dass sie etwas taten, was sie herauszog aus ihrem Tunnel, etwas, das sie wiederbelebte oder einfach nur ablenkte? Ich hatte meinen ersten One-Night-Stand mit dreiunddreißig, vermutlich war es auch mein letzter. Nun gab es zwei Männer: meine große Liebe und einen Barkeeper, mit dem auch meine Schwester geschlafen hatte.
Ich konnte Cole nicht sagen, warum Marie sich nicht bei ihm meldete, ich wusste ja nicht mal, ob er darauf wartete. Stattdessen lag nun ihre Schwester in seinem Bett, und die verlor langsam, jedoch sehr wahrscheinlich ihren Verstand.
Je länger ich mich mit ihm unterhalten hatte, desto anziehender hatte ich ihn gefunden. Als hätte ich nach den Anzeichen gesucht für Maries Entscheidung, sich verführen zu lassen. Oder umgekehrt. Ich hätte sagen können: »Hey, ich bin die Schwester von Marie«, und dann hätte ich ihm das Foto gezeigt. Ich hätte ihm erklärt, dass sie vor kurzem verstorben war und ich gern wüsste, ob sie in der Nacht, in der sie mit ihm zusammen war, glücklich schien. Ob sie ihm etwas Lustiges erzählte oder ob sie besorgt wirkte. Oder ob es nur Sex gewesen und er danach nach Hause gegangen war.
Stattdessen war ich mit Cole nach Brooklyn gefahren, wo er wohnte, und hatte mich in ein ungemachtes Bett gelegt. Seine Lippen auf meinen gespürt. Auf Maries Lippen. Seine Finger in mir. In Marie. Sein Keuchen an meinem Ohr. An Maries Ohr.
Ich hatte nicht entschieden, mit ihm zu schlafen, ich hatte es einfach getan. Fremde Arme gespürt, die mir plötzlich Halt gaben, und dabei Muttermale gezählt. Einen so intensiven Orgasmus gehabt, dass ich mich danach seltsam beschämt in die Kissen hatte fallen lassen.
Die Nacht, die nun fast hinter mir lag, klang nach einer, von der mir Marie am nächsten Morgen belustigt erzählt hätte, während ich zu Hause in Deutschland am Schreibtisch in meinem Büro saß und darüber nachdachte, dass es in Seekirch unmöglich war, eine Nacht mit einem Mann zu verbringen, ohne ihm danach wieder begegnen zu müssen. Andererseits … hatte sie es nicht erzählt.