»Der Unfallfahrer hat mich angerufen.«

Im Hintergrund heulte eine Polizeisirene auf. Stimmen wurden lauter, verschwanden wieder. Ich stellte mir vor, wie Ms. Hayes vom Madison Square Garden die East 23rd Street überquerte. Die scharfe Kante des Flatiron Building direkt vor ihr schnitt die Straße in zwei Spuren. Ich stellte mir vor, wie sie den Mund verzog, weil sie diesen Satz nicht auf dem Weg ins Büro hatte sagen wollen.

»Ms. Staub?«

»Warum muss ich das wissen?«

Ich mochte Maries Anwältin und wollte nicht unfreundlich sein, doch alles, was mich mit Ms. Hayes verband, war meine tote Schwester, und das machte es mir unwahrscheinlich schwer, Haltung zu bewahren. Seit Maries Unfall hatte ich so viele Menschen kennengelernt, die mir sonst wahrscheinlich nie begegnet wären. Ärzte, Krankenschwestern, zwei Polizisten. Immer wieder hatte ich mich gefragt, welche Leben diese Menschen abseits des Schicksals führten, das uns nun für eine kurze Zeit zusammenbrachte. Die netten Krankenschwestern hätte ich gern in einem anderen Kontext getroffen. In einer Bar oder über Freunde, und dann hätten sie mir von ihrem fordernden Alltag erzählt, von grausamen und berührenden Geschichten, die weit entfernt vom eigenen Leben pochten.

 

Ms. Hayes räusperte sich: »Der Fahrer … Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er sich gern mit Ihnen treffen würde.«

»Nein.«

Ich hörte, wie Aufzugtüren sich öffneten und schlossen, begleitet von einem zurückhaltenden Pling.

Ms. Hayes senkte die Stimme. »Das verstehe ich.«

Ich stellte mir vor, wie sie nun selbst im Aufzug stand und alle anderen durch stummes Zunicken begrüßte.

»Dann richte ich das so aus?«

»Ja. Danke«, sagte ich, und wir legten auf.

Ich warf mein Handy aufs Sofa, rannte ins Bad und übergab mich ins Waschbecken. Die Vorstellung, mit dem Mann, der meine Schwester überfahren hatte, an einem Tisch zu sitzen, fühlte sich zu eklig an, um sie in mir zu behalten.

Ich musste mich mit Menschen umgeben, die meine Schwester lebend gekannt hatten, die mir irgendetwas von ihr zurückgeben konnten, einen Satz, den sie gesagt hatte, einen Witz, über den sie besonders laut hatte lachen müssen – irgendetwas.

Wäre er über eine rote Ampel gefahren, hätte ich keine Sekunde gezögert, ihm gegenüberzutreten und meinen ganzen Hass entgegenzuschleudern. Ich hätte eine Projektionsfläche

Doch er war nicht schuld. Er war ein bisschen zu schnell gewesen, zwei bis drei Kilometer die Stunde, genau in dem Rahmen, wie es jeder tat, der nicht penibel darauf achtete, die Tachonadel auf der vorgegebenen Kilometerzahl zu halten. Er war bei Grün auf die Ampel zugefahren, und als Marie plötzlich losgelaufen war, hatte er sofort scharf gebremst. Schwarze Spuren waren auf dem Asphalt zurückgeblieben. Doch er hatte keine Möglichkeit gehabt auszuweichen.

Ich war mir sicher, dass er mir sagen wollte, wie leid es ihm tat und dass er das, was passiert war, niemals vergessen würde. Dass er schlecht schlief, von seiner Arbeit freigestellt war, Medikamente nahm und mit seiner Frau nicht über seine Albträume sprechen konnte.

Aber es gab nichts zu verzeihen. Ich wusste, dass er genauso wie Marie dem Schicksal ausgeliefert gewesen war und er nichts anderes hätte tun können als genau das, was er getan hatte.

Ich putzte mir die Zähne und wusch mein Gesicht. Dann öffnete ich eine Schublade unter dem Bett, in der sie ihre Sportkleidung aufbewahrte, zog eine Leggins an, die mir etwas zu kurz war, einen Sport-BH, der mir nicht richtig passte, und ein Top. Ich setzte mich aufs Bett und nahm einen ihrer vielen Laufschuhe in die Hand. Die, die sie am Unfalltag getragen hatte, waren kaputt gegangen und auf meinen Wunsch vom Krankenhaus entsorgt worden. Sie waren weiß gewesen und mit Blut besprenkelt.

Ich drehte den Schuh um und strich über die Sohle. Ein kleiner Stein steckte in einer der Rillen. Schließlich zog ich meine eigenen Sneaker an und ging nach draußen.

 

»Hi Joe.«

Meine Stimme erstickte hinter dem Versuch, lange Atemzüge zu nehmen.

Joe hielt mir die Tür auf und machte eine Kopfbewegung nach drinnen. Er brachte mir einen Stuhl, und ich setzte mich. Er gab mir ein Glas Wasser, dann lehnte er sich an die Theke und verschränkte die Arme. Ich trank das Glas in einem Zug aus und drehte es dann in meinen Händen hin und her.

Ich hatte Joe bereits drei Wochen zuvor besucht, ihm alle Fragen gestellt, die ich gehabt hatte, und dann war ich gegangen. Ein bisschen hatte es sich so angefühlt, als würde ich ihn nie wiedersehen.

»Ich jogge nie«, sagte ich schließlich. »Ich tue es, weil Marie es getan hat.« Und ich habe mit Cole geschlafen, weil Marie mit ihm geschlafen hat.

Joe sagte nichts. Es war still im Laden, nur die Klimaanlage surrte. Dann ging die Tür auf.

»Geschlossen!«, rief er.

»Was meinst du, wer recht hat – das Schild oder ich?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Genau so, wie es auf Yelp steht: ›Gut sortierter Laden, schlimmer Typ‹!« Er drehte sich um und ging.

Ich sah zu Joe, und als sich unsere Blicke trafen, zuckte er die Achseln, und ich musste lächeln.

»Hab gar nicht gewusst, dass du wieder da bist, Karla.«

»Ich muss die Wohnung auflösen. Aber ich hab noch nicht mal Umzugskartons gekauft. Also werde ich wohl noch eine Weile bleiben.«

Wieder schwieg er.

»Joe, ich weiß gar nicht, warum ich hergekommen bin. Ich schätze, dass ich dir einfach noch mal danke sagen wollte. Ich weiß, dass du ihr viel bedeutet hast und dass sie, na ja … einen Freund in dir gefunden hatte.«

Joe ging einen Schritt auf mich zu und strich mir über den Kopf. Einen Moment lang schämte ich mich, weil ich plötzlich irgendetwas in mir losließ und mich am liebsten angelehnt hätte. Ich war es nicht gewohnt, mich halten zu lassen, selbst Max hatte ich oft weggestoßen. Und nun saß ich in einem Comicladen im East Village, und ein älterer Mann, den ich besser aus Erzählungen kannte als aus persönlichen Gesprächen, strich mir über den Kopf. Ich schloss ganz kurz die Augen.

Er ging zur Tür und setzte sich auf die Stufe davor. »Du musst dich für nichts bedanken. Ich habe nichts getan. Marie war diejenige, die mich regelmäßig besucht und mir irgendwelche verrückten Geschichten aus der Modewelt erzählt hat.«

»Was hat sie dir erzählt?«

Er strich sich über die grau durchzogenen Bartstoppeln, wenn er überlegte.

»Da war dieser eine Kerl vor ein paar Wochen. Weiß nicht, wie er hieß, da war sie immer diskret. Der hatte seine Privatwohnung und die Büroräume seines Magazins an der Upper East Side. Sie meinte, er hat sie schon angebaggert, als sie noch in der Tür stand. Sie hat ihn dann direkt abblitzen lassen.«

Joe kicherte wie ein kleiner Junge.

Das hatte ich nicht gewusst. Ich konnte mich an den Mann erinnern, Raoul irgendwas, und auch an unser kurzes Telefonat direkt im Anschluss. Sie hatte mir gesagt, dass sie stolz auf mich war, und ich hatte mich darüber lustig gemacht. Momente, die mich nun für immer verfolgten.

»Kann ich dich was fragen, Karla?«

Ich nickte.

»Mich beschäftigt das jeden Tag. Marie hatte … also, sie hatte doch keinen Grund, mit Absicht bei Rot über die Straße zu gehen. Oder?«

Joe war der Erste, der diese Frage aussprach. Ich hatte sie in den Gesichtern der Krankenschwestern und auch der Polizisten gelesen, ich hatte gesehen, wie meine Eltern sie wegschoben, um daran festzuhalten, dass ihre Tochter glücklich gewesen war. Und ich hatte die Frage über mein eigenes Gesicht huschen sehen, in der Flugzeugtoilette auf dem Weg nach New York, zwei Tage nach ihrem Tod.

»Ich glaube es nicht«, sagte ich und musste an die Fotos denken, die ich auf ihrem Laptop gefunden hatte. An die nicht erzählten Kapitel, die sich nun öffneten. »Aber ich weiß es nicht.«

»Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Es hat mich nur

Wir schwiegen einen Moment, und dann sagte ich: »Der Unfallfahrer möchte mich treffen.«

Joe stand auf und nahm einen Stapel Magazine aus dem Metallständer neben der Tür. »Und ich nehme an, du möchtest es nicht und erzählst mir das, damit ich dir bestätige, dass das die richtige Entscheidung ist?« Er sortierte sie neu und steckte sie wieder zurück. »Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, wie der drauf ist. Ob dir das was bringt oder ob er nur seine Schuldgefühle bei dir abladen möchte, weißt du? Ich meine, wenn du den Gedanken nicht loslassen kannst, dann solltest du es vielleicht einfach machen.«

Ich nickte.

»Sieh es als Blind Date. Vielleicht ist er gar nicht übel.«

»Das ist geschmacklos.«

»Richtig. Aber manchmal hilft nur das.«

Ich stellte das Glas auf den Tresen und berührte seinen Arm. Dann ging ich zur Tür.

»Du verabschiedest dich, wenn du nach Hause zurückfliegst, ja?«

»Ja.«

»Denn ich nehme an, dass du nicht noch mal zurückkommst?«

»Nein«, sagte ich.

***

Zwei Stunden saß ich auf der Holzbank vor dem kleinen Coffeeshop, die Eingangstür des Nachbarhauses immer im Blick. Ich wartete auf das Ehepaar von gegenüber, oder zumindest auf einen von beiden. Die Sonne war längst hinter

Ich stand auf und ging auf ihn zu. Als er die Tür aufschloss, rief ich: »Halt, Moment!«, und er drehte sich um. Ich lächelte ihn an und konnte mich über mein Spiel von Leichtigkeit nur wundern.

»Ich habe den Türcode vergessen.«

Er musterte mich, und ich tat das Gleiche. Der Mann, der vor mir stand, wirkte in seiner Erscheinung vollkommen durchschnittlich. Braunes, kurz geschnittenes Haar, braune Augen, leichtes Doppelkinn. Er lächelte mich an. Ehrlich. Freundlich. Und hielt mir dabei die Tür auf.

»Haben Sie einen Wohnungsschlüssel?«

»Der Schlüssel liegt unter der Matte, weil mir das ständig passiert. Nicht besonders clever, aber das bin ich ja anscheinend auch nicht.«

Wieder lächelte er. Spätestens jetzt hatte ich ihn. Wir gingen den schmalen Gang zum Aufzug entlang. Als die Tür sich öffnete, ließ er mir den Vortritt.

»Welcher Stock?«, fragte ich.

»Dritter.«

Ich drückte die Nummern zwei und drei und hoffte, dass ihm das Zittern meiner Hand nicht auffiel. Mein Blick blieb an dem roten Alarmknopf hängen. Ich steckte beide Hände in die Gesäßtaschen meiner Jeans.

»Wie war der Name?«, fragte er. Er wirkte aufrichtig interessiert, und seine Freundlichkeit irritierte mich.

»Oliver«, sagte er und schüttelte sie. Mein Händedruck war zu fest. Die aufsteigende Angst verbarg ich hinter einem eisernen Lächeln.

Der Aufzug hielt im zweiten Stock. Ich trat auf den Flur. »Danke noch mal.«

Er nickte. »Gute Zeit.«

Erst jetzt nahm ich das Haus wahr, in dem ich mich befand. Im Flur war ein beigefarbener Teppich ausgelegt, an jeder Wohnungstür brannte eine kleine Lampe. Das Haus schien innen renoviert worden zu sein, die Außenfassade gab keinen Aufschluss darüber, wie die Wohnungen preislich lagen, doch jetzt vermutete ich, dass sie im oberen Bereich des Mietspiegels angesiedelt waren. Vor wenigen Jahrzehnten litt das Viertel noch unter einem schlechten Ruf aufgrund einer hohen Kriminalitätsrate. Das war mittlerweile anders.

Ich legte meine flache Hand an die Wand und stützte mich für einen Moment ab. Dann ging ich zum Treppenhaus und lief in den dritten Stock. Da hörte ich das Klicken eines Schlosses. Ein paar Meter weiter ging Oliver durch die Wohnungstür, die sofort hinter ihm zufiel.

Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ging so schnell es mir möglich war. Dann stand ich davor. Das Namensschild hatte einen goldenen Rahmen. MacKinnon stand dort in geschwungenen Lettern. Ich zog mein Handy aus der Tasche und ließ es fast fallen. Für einen kaum greifbaren Augenblick presste ich meine Hände darum, öffnete die Kamerafunktion und fotografierte das Namensschild.

 

Oliver MacKinnon. Maries Ordner hieß schlichtweg ›A‹. Warum? Ich gab seinen Namen in den Browser ein und hoffte, die Suchhistorie würde mir einen Hinweis geben. Mir war wichtiger zu erfahren, womit meine Schwester ihre letzten Wochen verbracht hatte, als etwas über diesen Mann herauszufinden. Hatte sie online nach ihm gesucht? Wusste sie, wer er war, wie er hieß, welchen Beruf er ausübte?

Der Browser machte keine Vorschläge. Es gab keine Historie zu dem Namen.

Marie hatte ihn nie eingegeben, es sei denn, sie hätte regelmäßig die Chronik ihrer Suchanfragen gelöscht. Ich wusste noch immer nicht, was sie wusste.

Oliver MacKinnon.

Sein LinkedIn-Profil war der erste Treffer. Das Bild zeigte ihn genau so, wie ich ihn vor ein paar Minuten kennengelernt hatte. Ein Mann Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig, in einem dunkelblauen Anzug ohne Krawatte. Der Anflug eines Lächelns, ein sympathischer Gesichtsausdruck. Meiner Meinung nach gab es nicht viele Menschen, die auf Fotos genauso rüberkamen wie in der Realität. Doch Oliver MacKinnon war so einer.

Er arbeitete als Anwalt für eine große Kanzlei, die sich

Ich lehnte mich zurück und dachte daran, wie Marie und ich manchmal beim Spazierengehen oder Kaffeetrinken Menschen beobachtet und uns ausgemalt hatten, wer sie waren und wie sie lebten. Einen Mann in kurzen, neonfarbenen Shorts, der seinen Dackel auf dem Arm trug und besänftigend »Baby, Baby, Baby …« ins Handy sprach, sahen wir ein Loft im Meatpacking District beziehen, das er gemeinsam mit seinem Partner renovierte, was für einige Streitpunkte sorgte. Eine Frau Anfang zwanzig, die sich auf Höhe des Dekolletés eine Zielscheibe hatte tätowieren lassen, verbrachte unserer Vorstellung nach jedes Wochenende auf einer anderen Demonstration gegen die aktuelle Regierung. Einen sehr kleinen, älteren Mann, dessen vorgestreckte Kopfhaltung die Schultern fast übersehen ließ, ordneten wir einem Restaurant in Little Italy zu, wo seine Großmutter über die illegalen Machenschaften hinweg Hackbällchen auf rot-weiß karierten Tischdecken des Familienrestaurants servierte. Auf den Straßen New Yorks hatten wir so viele wundersame Gestalten gesehen, dass unsere Phantasie mehr als einmal mit uns durchgegangen war.

Ich mochte dieses Spiel zwar, hatte am Ende jedoch oftmals ein schlechtes Gewissen, Menschen in Schubladen zu stecken. Marie hatte dann immer gesagt: »Was meinst du, wie viele Leute schon über uns geredet haben?«

 

Was sagst du zu Oliver, Marie?

Er hatte einen Job, der sehr wahrscheinlich heftige Arbeitszeiten, aber gutes Geld mit sich brachte, er konnte ein nach außen hin perfekt scheinendes Leben aufbauen, mit einer hübschen Frau an seiner Seite. Wenn da nicht sein großes Geheimnis gewesen wäre.

Ich schüttelte den Kopf und wechselte zur Bildersuche. Ein wirres Sammelsurium aus Porträtfotos unterschiedlicher Männer, Gruppenaufnahmen und eingescannten Zeitungsausschnitten. Fast hätte ich es übersehen: ein einzelnes Foto von den beiden, er im schwarzen Anzug, sie im cremefarbenen Cocktailkleid. Beide lächelten in die Kamera. Das Foto war vor drei Jahren bei einer Spendengala aufgenommen worden, einer der Sponsoren war Weiss & Flexner LLC. Die Bildunterschrift lautete: »Junior Partner Oliver MacKinnon mit Ehefrau.«

Ich stöhnte. Noch immer hatte sie keinen Namen. Ein letzter Versuch. Ich griff nach meinem Handy und suchte nach Oliver MacKinnon auf Instagram. Dreihundertzwanzig Abonnenten. Sein Profil war auf privat geschaltet. Ich konnte nicht darauf zugreifen, ohne die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Das Handy klingelte in meiner Hand. Ich nahm einen tiefen Atemzug, dann lächelte ich und nahm den Anruf an.

»Hallo Papa.«

»Karli! Karli, hörst du mich gut?«

»Ich hör dich gut«, sagte ich. »Wie geht’s dir?«

 

Das leise Leben meines Vaters war zweimal durchschnitten und danach an diesen scharfen Kanten geklebt worden. Das erste Mal, als seine Exfrau ihn über Nacht mitsamt der Kinder verlassen hatte, und das zweite Mal vor vier Wochen, als eine seiner Töchter verstorben war. Wobei ich nicht zu sagen

Ich liebte meinen Vater, seinen Optimismus und seinen Gleichmut. Mein Verhältnis zu ihm fühlte sich immer etwas vertrauter an als zu meiner Mutter, aber das lag wahrscheinlich daran, dass wir uns mehr ähnelten und ich deshalb oft wusste, was in ihm vorging. Meist spiegelten wir unsere Emotionen, und es bedurfte weniger Worte dazu. Beide waren wir neugierig und mochten es, wenn man Dinge an uns herantrug, doch selbst beteiligten wir uns nicht an Gerede und den üblichen Dorfgesprächen. Lieber saugten wir auf und verstanden dadurch so manchen Zusammenhang besser. Wir mochten es, die Ränder der Geschehnisse abzulaufen. Es machte uns zufrieden, ganz so, wie man sich am allerersten Sommertag ins Gras legte und nichts tat, als zu existieren und sich zu fragen, warum der Sommer auf dem Land der allerschönste war.

Meine Mutter war anders. Wie auch mein Vater war sie eine ruhige Person, doch sie hatte sich jahrelang aktiv ins Dorfleben eingebracht. Irgendwann zog sie sich zurück, ließ ihre Emotionen immer öfter hinter einem meist ruhelosen Dasein verschwinden. Sie war weniger da. Ich hatte das Gefühl, die lange Reha nach ihrem Bandscheibenvorfall vor rund zwanzig Jahren hatte etwas mit ihr gemacht, nur wusste ich nicht, was. Eigentlich sollte man doch nach so einem Aufenthalt in gesunder Verfassung nach Hause kommen, und auch wenn das körperlich vielleicht der Fall war, hatte sie auf Marie und mich wie ausgewechselt gewirkt. Wir sprachen nicht darüber,

»Weißt du noch, als Mama so frei und herzlich gelacht und dann immer ihre Schürze hochgehoben und das Gesicht dahinter versteckt hat?«, hatte mich Marie einmal gefragt, als sie aus Boston zu Besuch war und wir nebeneinander in meinem alten Kinderbett lagen – über uns noch immer der Bravo-Starschnitt der Backstreet Boys, den ich als Jugendliche an die Decke geklebt hatte.

»Es ist so lange her. Sie schmunzelt ja nur noch, wenn überhaupt«, sagte Marie, und dann sah auch ich sie vor mir. Die kleine, üppige Frau mit dem herzlichen Lachen, das einer fast schon unangenehmen Zurückhaltung gewichen war. Die Frau, der es oft so schwerfiel, uns in den Arm zu nehmen. Dabei spürte ich ihre festen Umarmungen, wenn ich die Augen schloss und wieder vier, fünf oder acht war. Ich konnte ihre Präsenz fühlen.

 

Ein lautes Hupen auf der 1st Avenue holte mich aus meinen Gedanken zurück.

»Es geht«, sagte mein Vater, begleitet von einem langen Seufzen.

Natürlich war das nicht die Wahrheit. Er durchlitt Höllenqualen, doch er entschied, wann er ihnen die Tür öffnete und sich von ihnen mitreißen ließ. Dazwischen flickte er die Wunden meiner Mutter.

»Es geht voran«, schob er hinterher, und dann lenkte er den Fokus auf mich.

»Hier ist alles okay. Ich komme nicht so schnell voran, wie ich gehofft habe. Es gibt einfach … zu viel von allem hier. Zu viele Erinnerungen, weißt du?«

»Ja. Jetzt is halt die Vergangenheit mehr da als die Gegenwart«, sagte mein Vater.

Ich nickte stumm. Das wollte ich mir merken. Ab und an schrieb ich einzelne Sätze auf, Gefühliges, Erlebtes, und Marie nutzte diese Worte manchmal für kurze Einführungen bei ihren Ausstellungen oder, wenn jemand sie darum bat, einzelne Bilder zu erklären.

»Wenn ich was erklären muss, dann hat derjenige keine eigene Vorstellungskraft«, sagte sie immer zu mir, durchwühlte dann aber meist mein Notizbuch, und was ihr gefiel, schickte sie an Journalisten.

»Ich verstehe das nicht. Wir drücken uns doch alle irgendwie aus. Aber das reicht nicht, jetzt muss ich meinen Ausdruck auch noch in eine andere Kunstform übersetzen. Dabei verlangt doch niemand von einem Literaten, dass er seine besten Werke skizziert, damit auch die Maler sie verstehen.«

Ich musste schmunzeln, als ich daran zurückdachte, wie sie das zum ersten Mal gesagt hatte: im Wohnzimmer unserer Eltern, wir lagen auf dem Teppichboden, die Beine nach oben gestreckt und Kirschstängel mit prallen, dunkelroten Früchten zwischen die Zehen geklemmt, während wir die restlichen aus einer Schüssel aßen.

 

»Wie geht’s Mama?«, fragte ich.

»Sie räumt den Dachboden aus.«

Ich schloss die Augen.

»Karli, sie will dich sprechen.«

»Hallo Mama, wie geht’s dir?«

»Na ja.«

»Okay.«

»Und du? Ist die Stadt net zu groß für dich, so ganz allein?«

Ich erzählte ihr, dass ich mich fast ausschließlich in Maries Wohnviertel bewegte, weil ich dort alles fand, was ich brauchte. Dass Lynn mir eine Stütze war und ich sowieso viel Zeit im Apartment verbrachte. Alles, was ich wollte, war, dass sie mich nicht auch noch auf ihre Sorgenliste setzen musste.

»Du, ich hab aufm Dachboden eine Kiste mit Stramplern und Lätzchen von euch gefunden. Meinst du, die kann ich der Evelyn geben? Die hat grad ihr Baby gekriegt.«

Ich versuchte, es nicht persönlich zu nehmen, weil es das nicht war. Und doch fragte ich mich, ob meine Mutter mit dem Tod meiner Schwester und der Trennung von Max und mir die Hoffnung aufgegeben hatte, Großmutter zu werden. Dabei war sie selbst so spät erst Mama geworden.

»Evelyn, die im Winzerweg wohnt?«

»Ja. Die hat uns so a nette Kondolenzkarte geschrieben.«

»Klar, meinetwegen«, sagte ich.

Dann reichte sie den Hörer zurück zu Papa, und als Mama außer Hörweite war, sagte er: »Ich lass sie jetzt einfach. Sie geht net ins Dorf und fährt auch net zum Einkaufen, sie will niemanden sehen, weißt du, also soll sie wenigstens irgendwas machen. Des macht uns ja noch alle verrückt, wenn wir nur rumsitzen.«

»Ja schon, Papa, aber sie ist zu alt, um alleine den Dachboden auszuräumen …«

»Weiß ich. Aber sie weint jetzt endlich, Karli.«

Ich sagte nichts.

»Vorgestern bin ich nachts aufgewacht, und da lag sie net

Ich schloss die Augen. Ich wünschte mir, er hätte dieses Bild nicht mit mir geteilt.

»Ich kann ihr nicht helfen, ich weiß nicht wie, Papa«, flüsterte ich und hatte das Gefühl, zu ersticken. »Ich kann’s einfach nicht, ich hab keine Kraft für sie auch noch, ich schaff das nicht …«

»Is doch gut, Karli. Ich wollt dich doch net beunruhigen. Auch der Arzt sagt, dass er des als Fortschritt sieht. Jetzt setzt sie sich überhaupt mal mit der Situation auseinander.«

Ich rieb mir den Hals, und der Druck in meiner Kehle begann auszustrahlen. Mein Brustkorb verengte sich.

»Kümmer du dich um dich, pass du auf dich auf. Des is alles, was wir uns wünschen. Versprichst mir des?«

»Ja«, sagte ich, ohne zu zögern.

***

Die Stimmen meiner Eltern hatten mich zurück nach Hause geholt.

Nach dem Telefonat taumelte ich noch mehr in meinen Erinnerungen umher als zuvor. Ich überflog mehrere Jahre, blieb an einzelnen Szenen hängen, an Blicken, nur um dann ganze Großereignisse nicht zu fassen zu bekommen. An manche Geburtstage oder andere Veranstaltungen konnte ich mich kaum erinnern, jedoch daran, was Marie gesagt hatte, als ich meinen ersten Kuss zwei Tage nach ihrem bekam

Der Kühlschrank war wieder leer. Ich kochte mir ein paar Nudeln, goss Olivenöl darüber und würzte sie mit Salz und Pfeffer. Ich lehnte mich an den Küchentresen und begann, im Stehen zu essen, was ich immer tat, wenn ich versuchte, mich zu sortieren. Als ich das Olivenöl schmeckte, kam eine Erinnerung zu mir zurück. Ein ganz bestimmtes Abendessen, das zehn Jahre zurücklag.

 

Marie und Adam waren seit einem halben Jahr zusammen, und ein paar Tage bevor Adam zurück nach Boston flog, kamen sie gemeinsam nach Unterfranken, damit er unsere Eltern kennenlernen konnte. Am letzten Abend ihres Besuchs gingen Max, Adam, Marie und ich im Wirtshaus »Zum goldenen Schlüssel« in Seekirch essen. Beim Anblick der wuchtigen Holztische, der in Leder gebundenen Speisekarten und der Hirschgeweihe an den Wänden wurde Adam euphorisch und bedankte sich bei uns, dass er seinen letzten Abend traditionell deutsch verbringen dürfe, anstatt in Bamberg oder Würzburg chinesisch essen zu gehen. Niemand korrigierte ihn, auch wenn wir alle wussten, dass die traditionell bayerische Kulinarik – und irgendwo darin fand auch die fränkische ihren Platz – lediglich ein Teil der deutschen war und diese nicht im Ganzen repräsentierte.

Max hatte für sich und Adam Weißbier bestellt, Marie trank einen Müller-Thurgau und ich eine Saftschorle, weil

»Es sind vier. Du hast die Scheidung vergessen«, hatte Marie einmal hinzugefügt. An diesem Abend überraschte sie uns alle, als sie ganz beiläufig beim Studieren der Karte eröffnete, dass sie sich ab sofort vegan ernähre. Dieses Vorhaben war mir nicht neu. Als sie in der achten Klasse im Erdkundeunterricht einen Film über Massentierhaltung gesehen hatte, hatte Marie Flyer entworfen, mit denen sie in der Nachbarschaft auf das Leiden der Tiere aufmerksam machte. Außerdem war sie vier Tage lang Vegetarierin gewesen (sehr zum Leidwessen unserer Mutter), bis sie am Sonntagnachmittag bei einem Fußballspiel des FC Unteroberheim dem verführerisch würzigen Duft fränkischer Rostbratwürste nicht hatte widerstehen können.

»Für wie lange?«, fragte ich sie, als ein gelangweilter Teenager, die Tochter der Gasthausbesitzer, an unseren Tisch trat, um unsere Bestellung aufzunehmen. Marie klappte die Karte zu, ging nicht auf meine Frage ein und sagte zu ihr: »Ich hätte gerne eine Portion Nudeln mit Gemüse, aber ohne die Bratensoßen, ja?«

Das Mädchen, Theresa, soweit ich mich erinnerte, senkte Block und Stift und wiederholte: »Nudeln mit Gemüse ohne Soße.«

Marie nickte, und das Mädchen sagte: »Ich weiß nicht, ob das geht.«

Dreißig Minuten später schnitt Adam ein Stück seiner Entenkeule ab, ich aß Sahnegeschnetzeltes mit Kartoffelrösti, und Max philosophierte darüber, dass sein ›Fränkisches Hochzeitsessen‹ – Tafelspitz, Meerrettich, Bandnudeln und Preiselbeeren – das Gericht sei, das er mit Abstand am häufigsten in seinem Leben gegessen hatte. Marie, die noch ein Kännchen mit Olivenöl bestellt hatte und dieses nun über ihre weichgekochte Gemüsepasta goss, übersetzte für Adam, während ich Max dazu ermutigte, englisch zu sprechen, auch wenn er dafür auf seine Schulkenntnisse zurückgreifen musste.

Meine Schwester und ich waren diejenigen, die das Gespräch steuerten. Wir waren die Verbindung zwischen den beiden Männern, auch wenn Marie Max genauso lang kannte wie ich. Doch an diesem Abend lag ihr Fokus auf Adam, den ich beobachtete. Dabei, wie er seinen Arm um Marie legte, wie er ihr eine Strähne hinters Ohr klemmte – etwas, das sie nicht mochte, aber bei ihm zu dulden schien – und wie er sie ansah. Er hing an ihren Lippen. Er studierte ihr Gesicht. Er sah zu ihr auf und schien es zu lieben, wenn alle Augen auf sie gerichtet waren.

»Wann kommst du eigentlich wieder?«, fragte Max an Adam gerichtet.

»Wenn er es ernst mit mir meint, dann sollte er bald wiederkommen«, sagte Marie und stieß ihre Schulter an seine. Grinsen auf beiden Seiten.

»Ich muss ein paar Sachen klären zu Hause. Mein alter Herr geht mir gerade tierisch auf die Nerven, weil ich jetzt zweimal meinen Rückflug verschoben habe. Aber Marie ist mein Joker. Wenn er sie kennenlernt, wird er die Klappe halten.«

Marie und ich antworteten gleichzeitig mit einem Nein. Das passierte ständig, doch diesmal strafte sie mich mit einem durchdringenden Blick.

»Noch nicht. Aber spätestens im Sommer.«

Adam küsste ihre Wange und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ich spürte Max’ fragenden Blick auf mir: Weißt du mehr, als sie preisgibt? Tatsächlich hatte sie sich bedeckt gehalten, was die gemeinsamen Zukunftspläne betraf, aber ich erinnerte mich ganz genau an unser Telefonat ein paar Wochen zuvor. Sie war vollkommen mitgerissen und überschwemmt vom Verliebtsein gewesen, von diesem Übergang des Schwärmens hin zu einer Rettungslosigkeit, die ich nicht von ihr kannte. »Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, ich weiß endlich, was ihr habt, du und Max.«

Max, der sich mittlerweile warm geredet hatte, fing an, Adam immer mehr Fragen zu stellen. Wie er aufgewachsen war, ob er sich vorstellen konnte auszuwandern und was er in den Staaten beruflich machen würde.

»I don’t know, man. Ich habe Internationale Beziehungen studiert. Damit kann ich fast alles machen … oder gar nichts, weil ich keinen Abschluss habe.« Adam grinste.

Ich mochte an Adam, dass er sich und das Leben nicht so ernst nahm. Aber er blickte mit Mitte zwanzig auf ein abgebrochenes Elitestudium und acht Monate Aufenthalt in Europa zurück. Er war hergekommen, um herauszufinden, was er mit seinem Leben anstellen wollte. Das hatte zumindest in meinen Augen nicht wirklich geklappt, abgesehen davon, dass er meine Schwester kennengelernt hatte. Aber wir waren alle noch so jung, und er passte zu Marie, denn auch wenn sie ganz genau wusste, was sie wollte, kam der Begriff Karriere nicht in ihrem Wortschatz vor. Doch ich hatte keine Ahnung

»So charismatisch und schlau, wie du bist, hast du einen Job, bevor wir uns wiedersehen«, hatte Marie das Thema schließlich beendet und sich ein Stück meiner Kartoffelrösti geschnappt.

 

Ich stellte den leeren Teller in die Spüle und wischte mit dem Handrücken über meine öligen Lippen. Mir war immer klar gewesen, wie wichtig es Marie war, dass ich Adam mochte; noch viel wichtiger, als dass unsere Eltern ihn mochten. Papa hatte es ihr – und ihm – nicht schwergemacht, er wollte seine Tochter glücklich sehen, und wen das involvierte, ging ihn seiner Meinung nach nichts an. Doch unsere Mutter war kein Fan von Adam gewesen. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass er »auftauchte und sie einfach wegstahl«, wie sie einmal gesagt hatte, oder ob sie einen gewissen Mutterinstinkt, dass das mit den beiden nicht von Dauer sein würde, nicht hatte abschütteln können. Erst jetzt machte ich mir allerdings bewusst, dass Marie anfangs wohl tatsächlich geglaubt hatte, auch mich von ihm überzeugen zu müssen. Natürlich hatte ich Angst gehabt, sie an ein neues Leben in den Staaten zu verlieren. Aber ich war niemals so einnehmend gewesen, dass ich das gezeigt hätte. Vermutlich hatte sie es trotzdem immer gesehen.

***

Ich verbrachte den ganzen Nachmittag mit Lynn. Sie hatte darauf bestanden, dass ich das Apartment für mehrere

Während Lynn mich am Telefon mit vielen Argumenten überhäufte, denen ich gar nicht folgen konnte, tat es mir gut zu wissen, dass da jemand war, der sich Gedanken um mich machte. Also atmete auch ich lange aus, unterbrach sie schließlich und sagte: »Ist gut, wo soll ich hinkommen?«

Wir sahen uns eine Ausstellung im MoMa an, die verschiedene Werke von fotorealistischen Künstlern zeigte. Lynn liebte die New Yorker Malerin Gina Beavers, von der das Werk Crystal pink lip ausgestellt wurde: neun Ausschnitte, zusammengesetzt zu einem collagenartigen Bild, auf denen derselbe Mund zu sehen war, der mit verschiedenen Utensilien wie Lippenstift und Pinsel von Bild zu Bild immer stärker geschminkt wird.

»Ginas Make-up-Tutorials sind der Knaller. Siehst du«, Lynn trat näher an das Werk heran, »sie trägt extrem dick auf, Acryl über Acryl über Acryl, so dass ein reliefartiges, dreidimensionales Gemälde entsteht.«

»Eine Kritik an der Schönheitsindustrie?«

Das war eine recht platte Vermutung meinerseits, aber ich wollte irgendwas sagen, weil Lynn so begeistert war, und etwas Besseres fiel mir nicht ein.

»Ich glaube, es ist einfach eine Abbildung dessen, was nicht zu leugnen ist. Niemand hat das Selbstbewusstsein, sich einfach so zu schminken, wie er oder sie möchte. Stattdessen glotzen alle Tutorials, die es einem erklären sollen.«

»Ich nicht«, sagte ich. »Du auch nicht. Oder?«

»Wir sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen.«

Das stimmte. Auf dem letzten Bild formten sich die in meinen Augen vollkommen skurril angemalten Lippen zu einem erwartungsvollen Kussmund.

»Bei allen Werken von Gina habe ich das Gefühl, dass sie sich als ein Teil dessen sieht. Verstehst du, was ich meine? Sie ist keine distanzierte Betrachterin, sie ist ja schließlich auch ein Teil der Gesellschaft, die sie abbildet. Sie steht nicht über den Dingen.«

Ich sagte nichts, weil ich keine Ahnung von Kunst hatte und es mir sowieso reichte, Lynn einfach zuzuhören. Das Letzte, wonach mir der Sinn stand, war, eine Diskussion über die ausgestellten Werke zu beginnen. Schon gar nicht mit einer Expertin, von der ich sicherlich viel lernen konnte, allerdings über etwas, das mich wenig interessierte.

»Maries Fotos haben einen ähnlichen Effekt auf mich. Da ist kein Understatement drin. Sie bildet die eingefangene Realität ab, und gleichzeitig spürst du beim Betrachten Maries eigene Empfindungen dabei. Sie sagen mindestens genauso viel über Marie aus wie über die Menschen, die sie zeigt.«

Ich stimmte ihr zu. Maries Bilder hatten schon immer an mir gerüttelt, doch ich war mir nicht sicher, wie viel von der Tatsache mit reinspielte, dass sie meine Schwester war.

»Du sagst gar nichts, Karla. Ich nerve dich mit meinem Kunstgelaber, oder?«

»Nein, gar nicht. Ich habe nur einfach keine Ahnung von alledem.«

Sie trat hinter mich und schob mich näher an die neun Münder heran, während sie sagte, dass ich nicht so viel

Darauf hatte ich eigentlich keine Lust. Ich begann ein Streitgespräch mit mir selbst und kam aber zu dem Schluss, dass jeder Augenblick, der mich ablenkte, sinnvoll war. Also ließ ich meine Augen über die Münder wandern. Als ich beim letzten ankam, sagte ich: »Irgendwie fühle ich mich angezogen von den Lippen. Ich möchte sie küssen und …«

»Und?«

Ich lachte. »… das wundert mich, weil es der Mund einer Frau ist. Oder?«

»Ach Karla. Weiblich, männlich, nicht-binär, trans – sexuelles Verlangen ist frei, es richtet sich doch nicht nach Heteronormativitäten!«

Ich schluckte. Lynn war die einzige Person, mit der ich je über Geschlechtsidentitäten gesprochen hatte. Auf einer Party war sie vor Jahren einmal von einer Exfreundin als »gar keine richtige Lesbe« bezeichnet worden, und ich hatte Lynn daraufhin gefragt, was damit gemeint sei. Und so hatte sie auf der U-Bahn-Fahrt nach Hause erklärt, dass sie sich als pansexuell einordnete, was bei mir viele Fragezeichen ausgelöst hatte. Zu Hause hatte ich Stunden damit verbracht, mich in die Begrifflichkeiten einzulesen und mich etwas geschämt, weil so viel davon in meinem, wie Lynn sagen würde, »heteronormativ geprägten Leben« an mir vorbeigegangen war.

»Du denkst, ich bin bescheuert, oder?«, fragte ich sie.

Lynn trat vor mich und riss die Augen auf. »Quatsch! Im Gegenteil, ich finde es ziemlich heiß, wenn ich dich aufklären muss.«

Ich spürte die Röte auf meinen Wangen. »Flirtest du mit mir?«

»Immer«, sagte sie.

»Das ist der Eingang zu einer Bar. Vermutlich ein Überbleibsel der Speakeasys … diese Flüsterkneipen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, in denen Alkohol trotz Prohibition ausgeschenkt wurde.«

Lynn biss in ihr Hotdog.

»Bist du schon mal drin gewesen?«

Sie hielt inne, dann kaute sie langsam weiter. »Einmal. Mit Marie.«

»Oh.«

»Wir haben lange warten müssen, weil es so voll war. Eigentlich haben wir den ganzen Abend damit verbracht, an der Spielekonsole zu zocken und Coke zu trinken. Am Ende hatten wir einen Zuckerschock. Wir haben uns aufgeführt, als wären wir sechzehn. War nichts Besonderes.«

Doch ich sah ihr an, wie besonders es gewesen sein musste, und sie sah mir schließlich diesen Gedanken an.

»Hey«, sagte Lynn und wischte sich mit einer Serviette Senf

»Danke«, sagte ich. »Der Tag heute hat mir geholfen.«

 

Als ich am Abend nach Hause kam, streifte ich meine Sandalen im Flur ab und öffnete alle Fenster. Das leere Glas, das Marie vor Wochen auf dem Schreibtisch abgestellt haben musste, hatte ich noch immer nicht bewegt. Eine stumme Aufforderung.

Ein frischer Wind durchströmte den Raum. Er strich über meine Wange, und da spürte ich meine Schwester neben mir stehen. Wie sie mich anlächelte, mich vom Grund ihres Herzens ansah. Wie sie sagte, ich kann dich sehen. Ich strich über ihren Oberarm, nahm ihre Hand. Ich dich auch, sagte ich, und der leere Raum schwieg.

Ein Handy klingelte. Ganz leise und so weit entfernt von meiner Realität, dass der unbekannte Klingelton erst langsam in mein Bewusstsein drang. Ich sah aus dem Fenster nach drüben. Die Nachbarin gegenüber nahm ab und ging vom Wohnzimmer durch die Küche in den Flur und von da ins Schlafzimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und sprach ins Handy. Gesenkter Kopf. Flüsterte sie? Ich konnte keinen Ton hören. Sie ging zum Fenster und schloss es, dann setzte sie sich aufs Bett.

Maries Kameratasche stand neben dem Schreibtisch. Ich zog sie hervor und merkte dabei, wie schwer das Teleobjektiv war.

Mit meinen Ellbogen stützte ich mich auf der Sofalehne ab und suchte mit Hilfe des Objektivs nach ihr. Sie saß noch

Nach einer Weile ließ ich die Kamera auf das Sofa gleiten. Ich wollte das nicht tun. Das war nicht ich. Ich wollte aber auch, dass sie mir egal war, und auch das war nicht ich. Nicht mehr.

Wieder sah ich nach drüben, und diesmal erschrak ich. Sie stand mit verschränkten Armen vor der Brust an der Wand, die zur Tür zeigte. Er musste auf der anderen Seite der Tür stehen. Ich stand auf und rannte in den Flur, wo meine Handtasche lag, zog mein Handy heraus, ging zurück und hielt es so fest in meinen Händen, dass sich meine Knöchel weiß verfärbten. Seltsam vorbereitet fühlte ich mich auf diesen Moment. Und als Oliver MacKinnon die Tür aufstieß, funktionierte ich.

***

»Nine-one-one, what’s your emergency?«

»Ich möchte häusliche Gewalt melden. Gegenüber, im Nachbarhaus.«

Diese beiden Sätze hatte ich mir auf Englisch zurechtgelegt, als ich vor ein paar Tagen beschlossen hatte, den Anruf zu machen, wenn es so weit sein würde. Wenn ich tatsächlich erleben würde, was ich schon auf den Bildern gesehen hatte.

»Adresse?«

Ich gab sie ihr.

»Wie ist Ihr Name?«

»Karla Staub«, sagte ich und buchstabierte.

»Hallo?«

»Ma’am, was passiert gegenüber?«

»Ein Mann bedroht seine Frau. Er hat sie in die Ecke des Zimmers gedrängt und würgt sie.«

»Kennen Sie die beiden?«

»Nein. Können Sie bitte jemanden vorbeischicken?«

»Kennen Sie ihre Namen?«

»MacKinnon«, sagte ich und buchstabierte wieder. »Apartment 8

»Was passiert jetzt?«, fragte die Frau.

»Sie … Sie hat ihn von sich gestoßen.«

»Und?«

»Kommt hier bitte jemand vorbei?«

»Ma’am, Sie müssen sich beruhigen. Ein Wagen ist direkt ums Eck und bereits benachrichtigt. Also bleiben Sie bitte in der Leitung und beantworten Sie meine Fragen.«

Mein Puls schlug mir bis zum Hals.

»Was passiert jetzt?«

Oliver MacKinnon stand ein paar Zentimeter von seiner Frau entfernt, dann stieß er sie gegen die Wand. Sie strauchelte, sackte zusammen, blieb jedoch stehen. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Wand fest, mit der anderen schirmte sie ihr Gesicht ab. Sie drehte sich von ihm weg, er packte sie an den Schultern und riss sie herum. Ich wollte rufen, irgendetwas schreien, damit er aufhörte. Doch ihr Fenster war geschlossen, und ich wusste, dass sie mich nicht hören würden. Ich griff nach der Kamera und versuchte, sie mit meiner freien Hand zu halten. Ich sah hindurch. Ihre Lippen bewegten sich.

»Sie sagt etwas zu ihm.«

Bleib liegen, dachte ich. Mach keinen Mucks und bleib einfach liegen. Doch sie stand langsam auf. Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Und dann tat sie etwas, was mich irritierte. Sie grinste ihn an. Deutete auf ihr Gesicht. Die Muskeln seines Rückens bewegten sich unter dem hellblauen Hemd, das er trug. Ich sah ihm an, dass er schrie. Dann konnte ich seine bretternde Stimme hören. Leise, durch die geschlossenen Fenster hindurch, jedoch nicht, was er sagte.

»Sie schreien sich an.«

»Ist die Frau verletzt?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Beobachten Sie das zum ersten Mal?«

Die Antwort auf diese Frage hatte ich mir genau überlegt.

»Ja.«

In dem Moment zuckten beide zusammen und sahen zur geschlossenen Schlafzimmertür.

»Zwei Officer sind unten an der Tür«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.

»Er packt sie an den Schultern und wirft sie aufs Bett. Er öffnet die Schlafzimmertür und geht ins Foyer.«

»Bleiben Sie dran.«

Die Minuten vergingen. Oliver MacKinnons Frau strich sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und hielt sich ihre Wange. Er kam zurück ins Zimmer und sagte etwas zu ihr. Sie stand auf und sah an sich hinab. Sie strich ihre Bluse glatt, ihr Haar glatt, zupfte ihren Rock zurecht, als würde sie gleich eine Podiumsdiskussion betreten. Dann verließ

»Ma’am?«

»Ja?«

»Ihre Nachbarin sagt, es sei ein Missverständnis. Sie sagt, sie hätten lediglich gestritten und seien dabei zu laut geworden. Die Beamten konnten keine Verletzungen feststellen.«

Ich fand keine Worte.

»Wir können hier nichts mehr tun.«

»Das war’s? Sie hat Angst vor ihm, das ist alles!«

»Sie können sich wieder melden, wenn Sie Ähnliches beobachten. Wir haben den Vorfall auf dem Schirm.«

Ich legte auf.

Ein paar Sekunden später sah ich die Frau zurück ins Schlafzimmer gehen und die Tür verschließen. Dann ging sie in den Raum, den ich als Bad vermutete, und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Oliver MacKinnon ging ins Wohnzimmer. Er schlug mit der Faust gegen die Wand, dann setzte er sich auf das Sofa.

Ich schwankte, ob es richtig gewesen war, die vorangegangenen Vorkommnisse zu verschweigen, doch ich hatte keine Ahnung, ob und wie lange ein Notruf gespeichert und zurückverfolgt werden konnte. Hätte ich gesagt, dass dies nicht mein erster war, hätte man das wahrscheinlich überprüfen können und festgestellt, dass ich log. Und hätte ich gesagt, dass ich es schon mehrfach beobachtet, jedoch nicht gemeldet hatte, hätte ich mich vielleicht strafbar gemacht.

Ich legte die Kamera weg und ließ mich auf das Sofa

Eine Verschiebung der Wahrheit.

 

Natürlich konnte ich nicht schlafen. In meinem ganzen Leben hatte ich nicht so viel erlebt wie in den letzten Wochen.

Ich hatte mein altes Leben geliebt. Was für eine ernüchternde Wahrheit das doch war. Es war ein so schlichtes Leben gewesen, in Teilen vorhersehbar, was mir Sicherheit gab. Eines, das mich zufrieden und in vielen Momenten sehr glücklich gemacht hatte. Wer konnte das von sich behaupten? Wie viele Menschen hatten das Privileg, ein normales Leben zu führen, eines, das man anhalten und, sofern man wollte, verändern konnte … und irgendwann dann ganz leise verlassen.

Doch jetzt saß ich um ein Uhr nachts im Apartment meiner Schwester, von dem ich, sollte mich jemand fragen, behaupten würde, dass es meins war. Ich hatte Marie verloren, war selbst nur noch die Hälfte einer Einheit, und weil das nicht reichte, um ein Durchschnittsleben zu erschüttern, hinterließ sie einen Ordner voll mit Bildern, die mir eine Verantwortung zuschoben und Fragen aufwarfen.

 

Bei diesen Fotos stockte mir immer wieder der Atem. Dabei war kein Blut zu sehen, und vieles steckte lediglich in Andeutungen. Eingefrorene Übergriffe. Vielleicht berührten sie mich so, weil sie sich direkt gegenüber abgespielt hatten, innerhalb meines persönlichen Realitätsradius. Vielleicht, weil

Auf einem Bild schrie er sie an. Sie, das war ein leeres, ausdrucksloses Gesicht. Da war sie irgendwo, nur nicht hier. Auf ein paar anderen zog er sie an den Haaren, und sie stolperte hinter ihm her durchs Zimmer. Er presste sie gegen die Wand, das schien ihm zu gefallen, es war ein Move, den er immer wieder machte. Manchmal sah sie ihn direkt an, und dann wirkte sie vollkommen präsent, beinahe bedrohlich für ihn. Und auch wenn auf der Hand lag, dass sie physisch niemals eine Chance gegen ihn hatte, strahlte sie in diesen seltsam klaren Momenten auch eine Bedrohung für ihn aus.

Wieder und wieder klickte ich mich durch die Bilder. Eins zeigte sie an der Wohnungstür rüttelnd, das Gesicht verzerrt von Schmerz oder Tränen oder beidem. Auf einem anderen warf er sie zu Boden. Festgehalten davon war eine Millisekunde, in der es schien, als ob sie flog. Ihre Augen, starr vor Schreck, ein Gesichtsausdruck wie eingefroren.

 

Wie hatte Marie das ausgehalten? Hatte sie es überhaupt ausgehalten? In meinem Kopf ging ich Telefonate durch, Nachrichten, E-Mails. Ich schämte mich. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was sie beobachtet hatte und was sie beschäftigt haben musste.

Sie hatte immer ein Warum für ihre Fotos gehabt. Also warum hatte sie dieses Paar in den unaushaltbarsten Momenten ihrer toxischen Ehe fotografiert?

 

Es war Viertel vor zwei und ich noch immer hellwach. Ich wusste, wen ich anrufen konnte. Wer immer da sein würde.

Doch irgendjemand war immer da. Hier, auf diesem Kontinent, war es Lynn, und sosehr ich das zu schätzen wusste, war mir auch klar, dass sie Maries Freundin gewesen war, nicht meine. Außerdem wollte ich sie nicht mitten in der Nacht anrufen.

Ich schaltete das Licht an. Noch eine schlaflose Nacht. Ein Notruf war ein guter Grund, um nicht ins Bett zu gehen. Also zog ich mich an und ging nach draußen.

Meine Schritte trugen mich zum The High. Als ich ihn aus ein paar Metern Entfernung erkannte, rief ich seinen Namen. Er drehte sich um.

»Oh, hey Karla. Wie geht’s?«

»Gut, wie geht’s dir?«

Er schloss die Bar ab und drückte dann mehrfach gegen die Tür, um zu prüfen, ob sie wirklich verschlossen war. Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange. »Gehst du tanzen?«

»Ich hatte gehofft, dass ihr noch geöffnet habt.«

»Es war wenig los. Die Nächte kühlen kaum ab.«

Cole musterte mich. Ich trug Sandalen, deren Sohlen in der Mitte durchzubrechen drohten, eine Jeans, die mir mittlerweile zu groß war, weil ich kaum aß, und ein weißes Top, das ich eigentlich zum Schlafen trug.

»Du siehst müde aus.«

»Ist alles okay?«

Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte mich in den letzten Wochen daran gewöhnt, dass ich mein Weinen kaum noch kontrollieren konnte, doch weil ich Cole nicht kannte, war es mir noch unangenehmer als sonst.

»Ich will einfach nicht alleine sein«, sagte ich.

Er legte mir den Arm um die Schulter, und wir gingen die Straße entlang.

»Wir sind doch alle alleine«, sagte er schließlich.

Normalerweise hätte ich bei solch einer Bemerkung die Augen verdreht. Doch in diesem Moment war ich dankbar für seine Oberflächlichkeit. Denn wofür ich keine Kraft hatte, war, zu erklären, dass ich keine Großstädterin war, die es doch eigentlich ganz cool fand, sich im Selbstmitleid der überwältigenden Anonymität dieser Stadt zu suhlen. Im Gegenteil, ich fühlte meine Einsamkeit bis in die Knochen, und mein Herz schmerzte physisch. Alles, was ich wollte, war, zurück nach Hause zu fliegen, mich zwischen meinen Eltern aufs Sofa zu kuscheln. Kind zu sein.

Doch ich traute mich nicht, weil ich wusste, dass ich dann wirklich weiterleben müsste und dass die Blase, in der ich mich auf dieser Seite des Ozeans fortbewegte, dann nicht mehr existieren würde. Mein eigener, luftleerer Raum.

 

»Willst du was trinken?«

»Was hast du denn da?«

»Ich bin Barkeeper, ich hab alles da.«

»Bayerisches Bier?«

Er lachte und öffnete den Kühlschrank.

»Heineken?«

»Auf keinen Fall.«

Ich schielte am Bett vorbei, weil ich erst eine Woche zuvor darin gelegen hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es keinen anderen Platz zum Sitzen gab, also blieb ich stehen, trank einen Schluck und wartete auf ihn.

Cole kam mit einem Heineken ins Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

»Ich glaube, das ist der beste Drink, den ich je hatte.«

Er grinste. »Ich weiß«.

»Was ist das? Gin? Mit … Thymian. Und Zitrone?«

»Bergamottenlikör.«

Ich nahm einen weiteren Schluck.

»Wolltest du schon immer Barkeeper werden?«

Bescheuerte Frage, doch mir fiel nichts anderes ein.

Wenn er sich bewegte, wippten seine Locken, und ich spürte plötzlich wieder die Textur seines Haares, rau und weich zugleich, zwischen meinen Fingern. Er legte sich aufs Bett und schob sich ein Kissen in den Rücken. Im Schneidersitz setzte ich mich ihm gegenüber.

»Als ich fünf war, wollte ich mit Sicherheit kein Barkeeper werden«, sagte er. »Aber später dann, als Jugendlicher. Ich habe in Queens, wo ich aufgewachsen bin, bei ein paar Partys ausgeholfen. Den Leuten beim Mixen über die Schulter geschaut und festgestellt, dass die Gastro mein Ding ist.«

»Warum?«

»Warum?«, wiederholte er und grinste wieder. »Ich bin

»Die Bar, in der du arbeitest, finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich durchschnittlich. Aber dieser Drink hier … wow.«

»Das stimmt, aber ich bin dort Barchef. Zum ersten Mal in meinem Leben. Da kann ich mich viel einbringen und noch was lernen, bevor ich meinen eigenen Laden aufmache.«

Ich nickte. »Und was ist mit all den Menschen?«

»Sie sind so herrlich durchgeknallt.« Er lachte. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in nur einer Nacht mitbekomme.«

»Was zum Beispiel?«

»Heute saß ein Mann mit einer Frau am Tresen, beide so Mitte, Ende vierzig. Gleich nachdem sie bestellt haben, fragt er nach ihrem Bruder und ob es ihm wieder besser geht. Sie starrt ihn plötzlich an und fragt, woher er von ihrem Bruder und seiner Erkrankung weiß. Da wurde es spannend, also hab ich angefangen, ein paar Gläser zu spülen, um weiter zuhören zu können. Es hat sich herausgestellt, dass die beiden schon einmal ein Date hatten – vor über sieben Jahren – und dass die Frau sich aber nicht mehr an den Mann erinnern konnte.«

»Was?«, rief ich. »Das glaube ich nicht.«

Cole gab mir ein Zeichen, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. »Der Mann wirkt plötzlich total geknickt. Er schildert ihr im Detail, dass sie damals in irgendeinem Restaurant in Uptown gewesen wären – ich weiß nicht mehr, welches. Und dass sie sich danach nicht mehr bei ihm gemeldet habe. Er dachte, als sie ihn jetzt auf der App kontaktiert hat, dass sie

Ich war beeindruckt. »Und dann?«

»Dann war es ein paar Minuten seltsam zwischen den beiden. Ich hab ihnen zwei Tequila aufs Haus hingestellt, das hat sie total gefreut und das Gespräch wieder ins Rollen gebracht. Irgendwann konnte ich hören, wie er sie fragt, ob er nun wieder sieben Jahre nichts von ihr hören wird – aber in dem Moment, in dem sie antwortet, kommt ein Typ an den Tresen und labert mich so voll, während ich seinen Drink mixe, dass ich nichts mehr verstanden habe. Eine halbe Stunde später sind die beiden dann gegangen.«

Ich warf den Kopf in den Nacken »Das kann ja wohl nicht sein! Du weißt nicht, was sie geantwortet hat? Haben sie sich denn geküsst?«

»Glaube nicht.«

»Warum hast du ihnen nicht noch zwei Tequila hingestellt und gefragt, wie es jetzt weitergeht?«

Cole schüttelte den Kopf. »Das ist, wie die vierte Wand zu durchbrechen. Nicht mein Business.«

Wir schwiegen.

»Die meisten Menschen vergessen uns. Nachts werden die ehrlichsten Gespräche geführt, und alle, die hinter dem Tresen stehen, werden komplett ausgeblendet. Nur deswegen bekommen wir die absurdesten Geschichten mit.«

»Hast du das Gefühl, du kannst Menschen dadurch besonders gut einschätzen?«

Er legte den Kopf schief. »Sag mal, was wird das? Ein Undercover-Report über Barkeeper?«

Seine warmen Augen ruhten auf mir. Es dauerte eine Weile, dann sagte er: »Gute Idee.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier. »Klar kann ich dadurch Menschen gut einschätzen. Wenn die Tür aufgeht und jemand reinkommt, brauche ich ein paar Sekunden, dann weiß ich Bescheid.«

Er deutete mit der Flasche auf mich. »Du zum Beispiel.«

Ich wollte gerade trinken, hielt jedoch inne.

»Du strahlst was aus. Das zieht irgendwie an. Gleichzeitig machst du nicht viel aus dir. Du bist ungeschminkt. Heute und auch schon beim ersten Mal in der Bar. Du trägst Jeans, T-Shirt, flache Schuhe. Und du hast keinen BH an, aber nicht, weil du die Blicke auf dich ziehen willst, sondern weil du einfach keinen trägst.«

Er hatte recht. Im Gegensatz zu Marie wusste ich nie so richtig, wie ich wirkte, und fühlte mich auch nicht sonderlich selbstbewusst. Max war immer an meiner Seite gewesen, weshalb ich mich nie daran versucht hatte, mein Erscheinungsbild zu verändern, mich auszuprobieren, zu flirten. Ich hatte immer nur ihm gefallen wollen, und das tat ich in Jeans und Shirts. Das eleganteste Kleid, das ich jemals getragen hatte, war das vom Abiball, und das hatte ich im Schlussverkauf bei C&A gekauft, trägerlos, und von meiner Mutter so umnähen lassen, dass ich mich wohl darin fühlte.

Ich sah an mir herunter und musste lachen, denn tatsächlich trug ich oftmals keinen BH, weil ich die Dinger nicht mochte und sowieso kleine Brüste hatte. Aber unter einem weißen Shirt zog ich normalerweise einen Sport-BH an. Ich hatte ihn tatsächlich vergessen. Doch der Grund dafür war düsterer als Coles Vermutung, dass es mir schlichtweg egal war.

»Ist das Verhör vorbei?«, fragte er.

»Okay.« Er lehnte sich wieder zurück.

Mir war nicht nach Sex. Ich wollte einfach nur gehalten werden. Und hier einschlafen, auch wenn ich mich nicht besonders wohl fühlte in diesem so fremden Apartment. Meine Sehnsucht, jemanden neben mir zu wissen, war jedoch größer als alles andere. Alles, was ich in Maries Wohnung spürte, war Abwesenheit. Höhlen, die von Erinnerungen überschwappten. Beweise dafür, dass hier nichts mehr passierte, nichts weiterging. Eine auserzählte Geschichte, deren Hülle das Apartment war.

Ich wollte mich an etwas klammern, das gerade eben passierte. Und reden wollte ich – über alles, nur nicht über meine Schwester.

»Wo bist du aufgewachsen?«

Cole verschränkte die Arme. »Karla, ich glaube, ich muss was klarstellen. Ich suche keine Freundin. Ich hab eine, die ist aber nach D.C. gezogen, und wir trennen uns alle paar Monate. Das reicht mir an Drama.«

Wieder wurde ich rot. Ich gab ihm vollkommen missverständliche Zeichen. »Sorry. Das hast du falsch verstanden. Ich fliege bald zurück nach Deutschland, also mach dir dahingehend keine Sorgen. Ich will einfach nur reden. Ist das okay?«

Er nickte.

»Seid ihr gerade zusammen oder getrennt?«

»Wow«, rief er aus und lachte. »Natürlich getrennt.«

Ich zuckte die Achseln und murmelte auf Deutsch, dass man das nie sicher wüsste.

»Ich mag New York nicht.«

»Hast du der Stadt eine Chance gegeben?«

»Ich denke schon.«

»New York ist das Beste, was dir in unserem Alter passieren kann. Ich bin hier in Flatbush aufgewachsen, nur ein paar Straßen weiter. Hab gefühlt überall in Queens gelebt, für ’ne kurze Zeit in der Bronx, seit ein paar Jahren wohne ich wieder hier. Ich habe alles gesehen, und ich sage dir: Fertig sein mit New York? Das wird nie passieren.«

»Willst du hier alt werden?«

»Von wollen ist nicht immer die Rede. Ich bin verbunden mit der Stadt. Ich kann sie oftmals genauso wenig leiden wie du vielleicht, aber aus anderen Gründen.«

»Welche?«

»Die Schnelligkeit laugt dich aus, wenn du selbst langsame Runden drehst.« Er winkte ab. »Und trotzdem kann ich nirgendwo anders leben.«

Ich sagte nichts.

»Alle sind einsam, Karla. Das Problem ist nur, dass die meisten damit nicht umgehen können. Frauen zum Beispiel, die kommen nie alleine in die Bar. Sie sind immer verabredet, meistens mit mehreren, und dann kannst du ziemlich schnell die Rangordnung in der Clique feststellen. Bei Männern ist es ähnlich, die kommen aber oft mit nur einem Kumpel in die Bar, bestellen ein paar Bier und sprechen über den Alltag. Viel tiefer geht’s oft nicht. Aber die wenigen, die alleine kommen, betrinken sich. Das steht von vornherein fest. Und weißt du, warum?«

»Warum?«

»Weil sie sich selbst nicht aushalten.«

»Ich kann mich auch nicht aushalten«, flüsterte ich.

Er schob die Augenbrauen zusammen. »Hast du Geschwister in Deutschland?«

Ich erstarrte. Wollte ich lügen? Sollte ich lügen? Und wenn nicht, was war die Wahrheit?

»Nein. Ich bin allein«, sagte ich.

»Ich kenne ein paar Einzelkinder, und alle haben was Melancholisches an sich.«

»Ach ja?«

»Ja. Du auch. Aber kann ich dir einen Rat geben? Auch wenn er platt ist?«

Ich zuckte die Achseln.

»Man sieht dir an, dass da was Düsteres in dir steckt. Lass es nicht die Oberhand gewinnen.«

Ich wollte schreien, also presste ich meine Lippen zusammen.

»Du bist klug, du machst den Job, auf den du Bock hast, du bist weiß und privilegiert. Du bist schön. Das nennt man Jackpot, Karla.«

Ich biss mir auf die Zunge, fester und fester.

»Ich meine«, sagte Cole, »wir wissen doch alle nicht, wann das Spiel vorbei ist. Right

***

Mein Leben ohne Marie war nun fast sechs Wochen alt. Seit vierzehn Tagen war ich zurück in New York. Ihre Kleider hingen noch immer im Schrank, der Dauerauftrag für ihre Miete war noch immer nicht gekündigt. Nur zwei Dinge hatte

Wann würde ich mit dem Rest beginnen? Anfangs hatte ich geglaubt, dass mir eine Deadline guttat, denn beruflich kam ich damit gut zurecht. Ich mochte die Eingrenzung von Abläufen, ich mochte es, zu wissen, dass es für alles ein Ende gab; die Ironie daran war mir an diesem Morgen bewusst, als ich zehn Umzugskartons kaufte, sie an den Schrank im Wohnzimmer lehnte, mich auf den Boden davor setzte – und dort nach einer Stunde noch immer saß.

Es war vollkommener Quatsch, der sinnloseste Gedanke, für den ich je Energie verschwendet hatte, und doch: Ich hatte das Gefühl, Marie zu verraten, würde ich die Kartons aufstellen und damit beginnen, sie zu füllen. Ich würde diese Wohnung komplett ausleeren – und dann wohin damit? Mein Blick ging durch den Raum. Ich hatte die Nostalgie der Dinge unterschätzt. Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrochen oder vom Herzschmerz auferstanden – hatte man wirklich die Wahl?

 

Ich bestrich einen Mohnbagel mit Frischkäse, goss mir frischen Kaffee ein und setzte mich wieder vor die Umzugskartons.

Als ich am frühen Morgen in Coles Apartment aufgewacht war, hatte ich mich hinausgeschlichen, war zur U-Bahn-Station gelaufen und am Union Square aus der Metro gestiegen. Ich lief ein paar Blocks Richtung Süden und bog dann ins East Village ein. Die Sonne stand noch tief, und die nassen Straßen, die vor wenigen Minuten erst gesäubert worden

Ich biss in meinen Bagel. Als Cole gesagt hatte, dass er mit New York untrennbar verbunden war, hatte ich mich gefragt, ob ich mein Leben aus demselben Grund zu Hause auf dem unterfränkischen Land verbrachte. Viele Erinnerungen, die ich mochte, waren zumindest mit dem Sommer dort untrennbar verbunden. Vielleicht, weil er meine liebste Jahreszeit war – zumindest bis vor kurzem.

Meinen Eltern gehörte bis heute ein kleines Stückchen des Waldes, der an die letzten Häuser der Neubausiedlung grenzte. Es war für sie unbedeutend und verwildert, so dass er weder eingezäunt war noch für irgendetwas genutzt wurde. Mit sieben wollten Marie und ich unbedingt ein Baumhaus, also gingen wir mit unserem Vater den steilen Hang hinauf zu dem kleinen Waldstück, das sich für uns Kinder nun auch wirklich wie unseres anfühlte – noch bevor wir das erste Brett an den Baum schlugen, den wir als den richtigen für das Projekt ausgesucht hatten. Und so bauten wir über den Frühling hinweg ein einfaches Baumhaus, das aus einer Plattform, vier schiefen Wänden und einem flachen Holzdach bestand. Jeden Tag kletterten wir hinauf, stellten die leere Fläche mit irgendwelchem Kram aus unseren

Schon als Kind wusste ich, dass ich diese weiten Blicke brauchte. Dass ich es liebte, umherzustreifen, zu wissen, wo ich war, und mich doch manchmal kurz zu verlieren, bis ich wieder auf irgendeinen Feldweg stieß, der nach Hause führte. Auch wenn Marie mit den Jahren immer wieder verkündete, das Landleben mit spätestens achtzehn hinter sich lassen zu wollen, hatte ich ihr nie so ganz geglaubt. Ich war mir immer sicher gewesen, dass wir hierbleiben würden. Von Feldern umgeben, und mitten hinein würden wir ein Haus bauen, in dem wir mit unseren Familien zusammen lebten und in dessen Vorgarten Hunde spielten. Auf dem großen Anwesen, das wir selbstverständlich besäßen, wären Esel, Kaninchen, Ziegen und Kälber zu Hause, wobei die Kälber niemals erwachsen wurden, denn dann waren es riesige Kühe, die gemolken werden mussten. Und Bauern, da waren wir uns einig, wollten wir nicht werden.

Kinderträume veränderten sich immer, und so auch meine. Als ich mit Max zusammenkam, stellte ich Marie gegenüber klar, dass ich nicht mit ihr zusammenziehen würde, und sie

 

Ich trank einen Schluck Kaffee, der, mit Maries Bialetti zubereitet, völlig anders schmeckte als der aus meiner Kaffeemaschine, die ich zum Einzug in die Wohnung von Max und mir gekauft hatte und noch immer benutzte.

»Alles eine Frage der Qualität der Bohne«, hatte ich oft zu Marie gesagt, wenn sie zu Hause an meinem Küchentisch die Nase rümpfte, während die Kaffeemaschine Wasserdampf ausstieß. »Es gibt auch guten Filterkaffee«, fügte ich hinzu, und sie antwortete: »Ja, wenn er handgefiltert ist.«

Und so tranken wir immer, nachdem ich sie vom Flughafen abgeholt hatte, gegen ihren Jetlag Kaffee, bis sie irgendwann aufstand und trotzdem ein Nickerchen im Gästezimmer machte. Etwas, worauf ich ein bisschen stolz gewesen war: eine große Wohnung zu haben, in der ich Gästen einen Rückzugsort bieten konnte, anstatt ihnen ein Nachtlager auf dem Boden aufzuschlagen, wie Marie es in ihrem Apartment hatte tun müssen.

 

»Gefällt’s dir, Karli?«

Er führte mich herum, vom einen ins andere Zimmer, drei insgesamt, plus Küche, Bad und eine kleine Abstellkammer.

»Das ist eine Wohnung?«, fragte ich, und Max sagte: »Ja. Unsere. Meine Eltern haben beim Bau alle Anschlüsse so verlegen lassen, dass man theoretisch eine draus machen kann.« Ich war vollkommen überwältigt. Liebestrunken.

Ein neues Zuhause, nicht weit entfernt von zu Hause, mit zweiundzwanzig blutjungen Jahren, mit einem festen Freund, der es tatsächlich so ernst meinte wie ich. Ich war also erwachsen. Wie gut sich das anfühlte. Und so zogen wir zum Ende des Sommers ein, und ich stellte eine neue Kaffeemaschine auf die Anrichte der Küche.

»Nimm sie mit«, sagte Max elf Jahre später, »sie gehört dir.«

Und weil ich nichts darauf zu antworten wusste und mich nur darüber wundern konnte, dass sie nach wie vor funktionierte, packte ich sie in einen von vielen Umzugskartons und nahm sie mit in meine neue Wohnung ohne Gästezimmer.

 

Noch immer saß ich auf dem Boden in Maries Apartment.

Leben verpacken, das machte nur Spaß, wenn man den Neuanfang, der damit verbunden war, wirklich wollte. Vor elf Jahren hatte ich es geliebt, mein Kinderzimmer leer zu räumen, um bei Max einzuziehen. All die Jahre später hasste

Als mein Handy klingelte, spürte ich ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich freute mich, weil Max es noch immer schaffte, dann anzurufen, wenn ich gerade an ihn dachte. Doch auf dem Display erschien ein anderer Name. Und dann fiel mir ein, dass es in Deutschland noch Nacht war. Und dass Max wahrscheinlich längst nicht mehr so oft an mich dachte, wie ich es mir in diesem schwachen Moment erhoffte.

»Du hättest ein Frühstück bekommen«, sagte Cole.

»Wusstest du, wie ruhig New York am frühen Morgen ist?«

»Das kommt drauf an, wo du dich rumtreibst.«

Ich konnte hören, dass er noch im Bett lag. »Cole, ich wollte noch sagen, dass du mich gestern echt aufgefangen hast. Ich hab ein bisschen Gesellschaft gebraucht.«

Er lachte. »Na ja, war ja auch nicht ganz uneigennützig.«

Ich sagte nichts.

»Das war ein Scherz«, sagte er dann. »Hör mal, ich hab mir was überlegt. Wenn du wirklich wieder zurück nach Deutschland gehst, dann musst du dich schon richtig verabschieden von der Stadt. Was machst du morgen?«

Ich fuhr mit einem Fuß die Kanten der zusammengefalteten Umzugskartons entlang. Natürlich hatte ich nichts vor, aber ich hatte auch jegliches Zeitgefühl verloren. Ich wusste nicht, ob morgen ein Wochentag, Feiertag oder Sonntag war.

»Noch nichts.«

»Perfekt. Wir treffen uns um zwei. Nimm die Q-Linie und steig an der DeKalb Avenue in Brooklyn aus.«

»Was hast du vor?«

»Nimm Badesachen mit. Bis morgen!« Er legte auf.

***

Ich trug ein blau-weiß gestreiftes Leinenkleid. Weil ich keinen Bikini mitgebracht hatte – wer zur Hölle dachte an einen Bikini, wenn er vorhatte, die Wohnung der verstorbenen Schwester auszuräumen? –, musste ich auf einen von Marie zurückgreifen, doch gerade heute fiel es mir schwer, etwas von ihr zu tragen. An manchen Tagen schlief ich in ihren Shirts, weil mir ihr Geruch dabei half, mich zu beruhigen. An anderen zog ich etwas von ihr an und verließ darin das Haus. Und dann gab es Tage wie heute, an denen ich am liebsten alles verbrannt hätte. Doch ich hatte einen Bikini gefunden, den ich nicht kannte und noch nie an ihr gesehen hatte, also zog ich ihn an. Zumindest die Hose passte.

Ich sah Cole bereits von weitem, und für einen Moment fühlte sich das wie eine Vorstufe von Freude an. Weil ich hier jemanden kannte außer Lynn, jemanden, mit dem ich mich wohl genug fühlte, einen ganzen Nachmittag zu verbringen. Dann fiel mir wieder ein, dass auch er meine Schwester kannte und wie dumm es von mir war, zweimal mit ihm geschlafen zu haben. Ich belog ihn. Eine Tatsache, die sich bei einem One-Night-Stand wegwischen ließ, doch das war längst passé. Die Frage war, wie lange ich mich eigentlich herausreden konnte.

Er winkte, als er mich sah. Ich winkte zurück. Er trug ein weißes T-Shirt, schwarze Shorts und Converse. Unter seinem Shirt kam auf Höhe des Trizeps seine Tätowierung hervor, die mir erst in der Nacht zuvor aufgefallen war. Eine große Welle, die, wie er mir erklärt hatte, dem berühmten Gemälde von

Wir stiegen wieder in die Q-Linie ein, und weil ich so sehr damit beschäftigt war, was ich sagte, bemerkte ich gar nicht, dass die Endstation der Linie auch unser Ziel war. Nach zwanzig Minuten war der Waggon vollgestopft mit Familien und jungen Paaren, die Kühltruhen in den Gang wuchteten, während sie Sonnenschirme und große Taschen unter die Arme klemmten.

»Coney Island«, sagte ich.

Cole stieß einen langen Atemzug aus und hob entschuldigend die Hände. »Ich hatte gehofft, dich überraschen zu können. Mit einer vollen Ladung amerikanischer Wochenendnostalgie.«

»Sorry«, sagte ich. »Da war ich schon mal. Aber macht ja nichts. Im Gegenteil.«

 

Am Abend vor meinem ersten Flug zu Marie nach New York hatte sie mich angerufen und gesagt: »Ich habe das perfekte Programm fürs Wochenende. Wir fahren nach Coney Island, von da komme ich gerade!«

»Ich fliege also in die Stadt der Städte, um dann gleich übermorgen auf eine Insel überzusetzen, oder wie?«

»Coney Island ist New York, Karli, es ist ein Stadtteil, der zu Brooklyn gehört. Wir fahren da mit der U-Bahn hin. Glaub mir, du wirst es lieben. Am Strand steht ein total verkitschter Vergnügungspark, der dich zu hundert Prozent woran erinnern wird?«

»An das Schweinfurter Volksfest?«

»Yep. Nur ist es viel besser.«

Marie hatte das Volksfest in Schweinfurt genauso sehr geliebt wie ich. Einmal im Jahr wurde es gegenüber den US

Es war ein kleines Volksfest, aber für viele aus der Gegend eine Institution, die es nach wie vor gab und uns beide durch die Sommer unserer Kindheit trug. Später, als Max als Erster einen Führerschein hatte, fuhren wir mit dem Auto am Abend hin, knutschten im Riesenrad, ich mit Max und Marie mit Eric oder Markus oder Jo, und tranken Mönchshof aus der Flasche.

 

Seit meinem ersten Ausflug nach Coney Island war ich nicht mehr dort gewesen. Je länger Marie in New York gelebt hatte, desto kleiner wurde der Radius, in dem sie sich bewegte, und damit auch meiner. Bei manchen Besuchen kamen wir kaum aus denen ans East Village grenzenden Vierteln hinaus, geschweige denn nach Brooklyn. Die 42nd Street und den Times Square mieden wir schon lange. Und auch wenn unser Ausflug in den Vergnügungspark genauso abgelaufen war, wie sie prophezeit hatte, war er mittlerweile eine so lang vergangene Erinnerung, dass ich nicht alles klar vor mir sah, jedoch das Gefühl hervorholen konnte, das ich mit Coney Island verband. Mein erstes Erlebnis in dieser für meine Schwester und auch für mich neuen Stadt.

Der Ausflug schmeckte nach dem zerlaufenen Mozzarella auf meiner Pizza, die wir bei Totonno’s aßen, er roch wie die

 

Cole tippte auf seinem Handy, und für einen Moment konnte ich den Gedanken festhalten, dass er sich mit Marie abgesprochen haben musste. Wie hätte er sonst wissen sollen, dass mit dem Kapitel Coney Island meine New-York-Geschichte begonnen hatte. Ich hatte mich in den Tag verliebt und sogar ein bisschen in die Stadt, auch wenn ich vorgehabt hatte, mit ihr für alle Zeit auf Kriegsfuß zu stehen. Coney Island also. Mit Cole, den ich zu mögen begann, auf eine freundschaftliche Art und Weise, weil ich, wenn er mich berührte, den Gedanken nicht abschütteln konnte, dass er mit Marie geschlafen hatte. Ich redete mir ein, dass Marie längst nur noch eine Randerscheinung in seinem Leben war. Weil ich zu wissen glaubte, wer Cole war: ein Großstadtjunge Ende zwanzig, nur vier Jahre jünger als ich und doch so weit von meinem eigenen Lebensentwurf entfernt. Er lebte im Moment, war spontan, genoss sein Leben und war easygoing, wie man im Amerikanischen so gern sagte. Jemand, der es einem einfach machte, Zeit mit ihm zu verbringen. Ich hatte mein Leben ebenfalls gemocht, aber jetzt gestand ich mir das Genießen kaum zu, und früher hatte ich gemeinsam mit Max in die Zukunft geblickt, während ich jetzt auf eine betongraue, verwaschene Wand starrte, die sich nicht zu öffnen schien.

Cole und ich würden bald wieder getrennte Wege gehen. Nicht nur, weil ich sowieso nach Hause zurückkehren wollte, sondern auch, weil wir das waren, was man im Englischen als fling bezeichnete. Ein so hübsches und flinkes Wort, so

In genau diesem Moment rückte Cole ganz nah zu mir heran. Berieselte meine Oberarme mit Sand, und ich schlug die Augen auf.

»Kann ich dich was fragen, Cole?«

»Shoot«, sagte er und vergrub seine Finger im Sand.

»Du und deine Freundin, warum trennt ihr euch so oft?«

Ich glaubte zu sehen, dass er mit sich haderte, etwas so Persönliches mit mir zu teilen, doch dann sagte er unter einem lauten Stöhnen: »Ich kenne Delia seit meiner Kindheit. Sie hatte schon im Sandkasten eine große Klappe, und irgendwann wurde daraus eine ziemlich starke Meinung. Das liebe ich am meisten an ihr.«

Ich sah ihm an, wie seine Gedanken zu ihr wanderten, wie er ihr Gesicht vor sich sah. Lächelte. Dann sagte er: »Sie studiert Politik, ist auf jeder Demo unterwegs, sie hat ehrenamtlich den Wahlkampf von Ocasio-Cortez unterstützt … sie ist immer in der ersten Reihe.«

»Und du … bist das nicht?«

»Ich bin so in der … dritten oder vierten Reihe.« Er lachte. »Sie hat viel mehr Kraft als ich. Und sie kann sich besser ausdrücken.« Er überlegte eine Weile, dann fügte er hinzu: »Ich bin anders aufgewachsen. Ihr Vater saß im Knast, als sie auf die Welt kam. Das Verfahren gegen ihn wurde irgendwann neu aufgerollt. Er wurde rückwirkend für unschuldig erklärt. Da hatte er seine Zeit aber schon fast abgesessen. So was prägt dich.«

»Und wie bist du aufgewachsen?«

Cole drehte sich auf den Rücken und legte seinen Arm über

Ich lenkte mich ab, indem ich Cole Fragen stellte. Das Kinderlachen um mich herum, das Kreischen von Freunden, die ins Wasser rannten, das Klicken zweier Bierflaschen, die aneinanderstießen, der Geruch von Sonnenmilch, das Geräusch der Meeresbrise, die über Zeitschriftenseiten hinwegglitt und sie aufschlug. Das alles hielt ich kaum aus. Es war zu schön, zu hell, zu fröhlich, zu leicht, zu unendlich. Ich schämte mich, hier zu liegen, so zu tun, als wäre ich ein Teil eines sommerlichen Arrangements. Das war nicht mein Platz. Ich musste trauern, und ich wollte trauern, mich elend fühlen und nicht Urlaub machen.

Ich fixierte Coles lange Wimpern, während er sprach. Den leichten Schwung der vielen schwarzen Härchen, die so schön und perfekt aneinandergereiht waren. Ich tat das, um dem Drang zu widerstehen, aufzustehen und nach Hause zu fahren und mich im Schrank zu verstecken.

»Wie ich aufgewachsen bin? Einfach, aber behütet. Keine Scheidung erlebt, keine Drogen – okay, na ja, keinen Scheiß wie Crystal oder so. Ich hab ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, meine beiden Brüder sind meine besten Freunde …« Er kniff die Augen zusammen. »Und du?«

»Auch keine Scheidung erlebt«, sagte ich. Vor meinem inneren Auge putzte meine Mutter die Fenster, und mein Vater schlurfte in seinen Pantoffeln durch das Wohnzimmer. Ich lachte ganz plötzlich und wunderte mich darüber.

»Ja, und sonst? Erzähl mir was. Ich war noch nie in Deutschland.«

»Oh, here we go!«, rief er und lachte. »Wir haben in New York auch strenge Waffengesetze. Du bist nicht in Texas.«

Er kniff mich in den Arm und zog mich auf sich, ich strampelte mit den Beinen wie ein Käfer auf dem Rücken und spürte ein Lächeln auf meinem Gesicht. Durfte ich das? Mich für einen Moment fallenlassen. Nähe spüren. Immer wieder hatte ich in den letzten Wochen verdrängt, wie sehr mir die Nähe anderer Menschen fehlte. Dann schob sich meine Vorstellung von Delia in meine Gedanken, diese unbekannte Frau, die Coles Herz hielt. Ich wusste, wie stark ein Band war, wenn sich zwei Menschen seit ihrer Kindheit kannten.

Cole ließ mich los, und ich rollte zurück auf mein Handtuch.

»Dann erzähl mir was vom Landleben. Ich bin ein Stadtkind, ich habe keine Ahnung davon.«

Ich legte meine Wange auf das feuchte Handtuch und schloss die Augen. »Ich liebe das Landleben«, sagte ich dann. »Wo ich herkomme, gibt es viele Wälder, Dörfer und manchmal auch nur Ansammlungen von Häusern und Höfen. Auf dem Land aufzuwachsen ist das Beste, was dir als Kind passieren kann. Du bist frei, du hast Platz, du kennst jeden.«

»Und als Erwachsene?«

Mir lag auf der Zunge, was Marie antworten würde. Dass Seekirch der Ort war, an den man guten Gewissens zum Sterben zurückkehren konnte, davor aber sollte man noch ein bisschen leben. Doch ich beschrieb es anders: »Viele aus meinem Freundeskreis sind nach dem Schulabschluss in die Städte gezogen. Kann ich gut verstehen, aber ich mag es zu Hause. Ich mag die Ruhe, und ich mag es, aus der Tür

Cole legte mir eine Hand in den Nacken und massierte ihn. »Aber wie zur Hölle hältst du es dann in Manhattan aus? Du lebst hier das komplette Kontrastprogramm.«

»Ich weiß. Deswegen gehe ich ja wieder heim«, sagte ich, und um von mir abzulenken, setzte ich hinzu: »Zeit fürs Meer.«

 

Als wir zur U-Bahn liefen, nahm ich das Kreischen der Menschen, die in der Achterbahn des Luna Parks fuhren, als ein unverwechselbares Hintergrundgeräusch wahr, das sich in jedem Vergnügungspark gleich anhörte. Dann fiel mein Name, und ich stutzte. Dann ein zweites Mal, mit Nachdruck.

Ich drehte mich um. Zeitverzögert blieb auch Cole stehen.

Lynn kam auf mich zu und umarmte mich. Das passierte tatsächlich. Jemand, den ich kannte, irgendwo in dieser auf mich immer grenzenlos wirkenden Stadt, lief mir über den Weg. Ich umschloss sie und erwiderte das schüchterne Lächeln einer Frau, die offenbar Lynns Begleitung war.

»Was machst du denn hier? Wie geht’s dir?«, fragte Lynn und musterte dabei Cole. Und da war es schon zu spät. Ich sah den Vorwurf in ihrem Gesicht, er drückte sich in ihre Züge wie Wassertropfen in ein Blatt Papier.

Ich warf ihr einen flehenden Blick zu. »Ich, ähm, Cole hat mich zu einem Ausflug überredet. Ein Abschiedsgeschenk, bevor ich wieder nach Hause fliege.«

Cole streckte die Hand aus und sagte: »Hey, wie geht’s?«

»Ich hab dich gestern dreimal angerufen und mir irre Sorgen gemacht«, sagte sie zu mir.

Ich entschuldigte mich und nahm mir Lynns Begleitung zur Rettung. »Und du bist?«

»Das ist Andrea, meine Freundin«, antwortete Lynn für sie. »Andrea, das ist Karla.«

»Oh. Hi. Ich hab schon so viel von dir gehört.«

Und da wusste ich, dass vor Andreas innerem Auge ein Film über mich ablief, mit allen Informationen, die sie von Lynn hatte. Ich nickte. Mein Nacken kribbelte heiß, als ich Coles Blick auf mir spürte.

»Hast du Lust, oder, ähm, habt ihr Lust, heute Abend zu grillen? Matt und Fiona veranstalten eine kleine Willkommensparty für ihr Baby.«

Ich wollte nein sagen, denn ich ertrug den Gedanken nicht, dort von allen so angestarrt zu werden wie von Andrea. Und ich musste nein sagen, weil ich noch immer die Hoffnung hatte, Cole dieses seltsame Aufeinandertreffen erklären zu können, ohne dass ich ihm sagen müsste, wer ich wirklich war.

Ich öffnete meinen Mund. Und dann schloss ich ihn wieder. Da schlang Cole seine Arme um meine Taille und legte das Kinn auf meiner Schulter ab. Ich bewegte mich keinen Millimeter. Lynn starrte mich an.

»Ich hab meine Schicht getauscht und keine Pläne«, sagte er. Und dann: »Was ist los, du zitterst ja?«

Lynn kniff die Augen zusammen. »Das würde mir auch so gehen, wenn ich mit demselben Typen ficken würde, mit dem schon meine tote Schwester gevögelt hat.«

Nein. Nein.

Sie murmelte eine Verabschiedung und wandte sich ab.

Cole trat vor mich. »Was zur Hölle …?«

Mein Mund war voller Asche.

***

Ich stand auf dem Dach eines Apartmentkomplexes in Brooklyn, sah in den Himmel und flüchtete mich in eine Erinnerung, die so lange zurücklag, dass ich mit großer Anstrengung für ein paar Augenblicke vergessen konnte, dass meine Schwester eines Tages ihren Lebensmittelpunkt Tausende Kilometer von mir entfernt aufgebaut hatte. Also dachte ich an früher und dann an den Spruch Früher war alles besser.

 

Als Marie in der neunten Klasse war, nahm sie sich vor, ihre Haare zu färben. Elian, ein französischer Austauschstudent mit schwarzem Lockenkopf und müdem Blick, stand nämlich angeblich auf Rothaarige. Ich sagte ihr, dass es total bescheuert wäre, ganz zufällig mit gefärbtem Haar in der Schule aufzutauchen. Doch Marie ignorierte meinen Kommentar und bat mich, die Farbe aufzutragen. Die stank so beißend, dass ich das Fenster aufriss und mich weigerte weiterzumachen. Aus irgendeinem Grund, den ich mir heute nur mit Neid auf ihre Spontaneität und ihren Wagemut erklären konnte, machte ich mich über meine kleine Schwester lustig. Sie stieß mich zur Tür hinaus, ich stolperte und fiel hin. Danach sprachen wir für drei Tage kein Wort, nicht mal, als wir am Samstagabend auf der gleichen Party waren. Ihre erste überhaupt, zu der sie nur gehen durfte, weil ich ebenfalls dort war. Die Party fand in einem alten Bauwagen außerhalb eines Nachbardorfs

Am Tag nach der Party war ich zum ersten Mal in meinem Leben verkatert. Ich lag auf dem Rasen im Garten und vermutete, dass es Marie ebenfalls schlecht ging, weil sie noch gar nicht ihr Zimmer verlassen hatte, obwohl das Mittagessen fast fertig war. Am Himmel zogen große Wolken ganz langsam über mich hinweg, und als ich dabei war, ihre Formen verschiedenen Tieren zuzuordnen, hörte ich, wie jemand die Verandatür öffnete und über das kurzgeschnittene Gras ging. Marie legte sich neben mich auf den Rücken.

»Was machst du?«

»Nichts«, sagte ich.

»Sieht aus wie ein Hase.«

»Ja.«

Sie drehte ihren Kopf zu mir, und ich tat es ihr gleich.

»Sorry, dass ich dich geschubst habe.«

»Sorry, dass ich so gemein war.«

Sie verzog keine Miene. Dann drehte sie wieder ihren Kopf und sah in den Himmel.

»Mir ist todesschlecht«, sagte ich.

»Ich trinke nie wieder Alkohol«, entgegnete sie.

Ich richtete mich auf. »Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass der Himmel überall derselbe ist, aber überall anders aussieht?«

»Der ist wie wir. Wir sind auch dasselbe, sehen aber unterschiedlich aus.«

»Quatsch.«

»Ist so. Wir haben dieselben Eltern. Aber ich hab jetzt rote Haare und du blonde.«

»Oh Mann, Marie …«

Ich stand auf. Kurz wurde mir schwarz vor Augen. Als das Kribbeln nachließ und ich meine blasse Schwester auf dem Rasen liegen sah, reichte ich ihr meine Hand und zog sie hoch. »Deine Haare sind orange, und sie sehen richtig kacke aus.«

»Schau ab und an nach oben«, schrieb ich ihr dann auch, als sie mit Adam nach Boston zog. »Weißt du noch? Schau dir den Himmel an. Dann schreib mir, wie er aussieht, und ich mache das Gleiche.«

 

»Hellblau. Durchzogen mit feinen, weißen Streifen, die sich langsam pink färben«, sagte ich leise. Das Bier in meiner Hand war eiskalt, doch ich trank es nicht. Ein sanfter Wind glitt über mich hinweg. »Bist du das?«, fragte ich.

Ich wünschte, sie wäre es. Der Wind über dem Dach. Die gefleckte Katze, die heute Morgen vor der Haustür gesessen und die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Fionas Baby, das erst wenige Wochen alt war und das ich noch gar nicht

Irgendwann stand Cole neben mir. Vor dem Horizont türmte sich Manhattan auf, und ich fing an, die Gebäude zu zählen, um nicht an irgendeinen dunklen Ort abzudriften.

»Kann ich was sagen?«, fragte er.

 

Als Lynn und Andrea gegangen waren, hatte ich die wenigen Sekunden, bevor er begann, Fragen zu stellen, fiebrig überlegt, wie ich aus der Sache herauskommen konnte. Als ich ein paar Möglichkeiten in Erwägung zog, verließ mich meine Kraft. Ich fühlte mich elend. Wir setzten uns auf den Bordstein vor dem Hotdogrestaurant Nathan’s Famous. Es war noch immer viel los auf den Straßen, aber sie waren nicht so voll wie an dem Wochenende, als ich zum ersten Mal in Coney Island gewesen war. Damals hatte das Mermaid Festival stattgefunden. Erwachsene und Kinder trugen knallenge, pastell- und neonfarbene Kostüme mit Schuppendruck. Manche hatten sich zusätzlich die Haare farbig angesprüht, fast alle trugen neonfarbiges Glitzer im Gesicht, viele hatten sich Perlmuttschuppen auf die Haut gemalt und die Augen mit grünen und blauen Kajalstiften umrandet. Coney Island, das sowieso bunt und wie aus der Zeit gefallen schien, hatte gewirkt, als wäre eine bunte Glitzertüte über all der Nostalgie geplatzt.

Ich erzählte Cole, dass meine Schwester tot war. Ich erzählte ihm, dass ich von Lynn wusste, wer er war, und ich ihn daraufhin lediglich hatte fragen wollen, wie meine Schwester in der Nacht drauf gewesen war. Worüber sie geredet hatten, ob sie in Kontakt hatten bleiben wollen. Warum ich stattdessen selbst mit ihm schlief, dafür gab es keine zufriedenstellende Antwort. Es war Ablenkung, Sehnsucht nach Nähe. Der Drang, wieder etwas anderes zu spüren als Trauer, Elend

»Okay«, sagte Cole irgendwann. Und ich atmete aus.

»Ich möchte nicht zu der Party gehen. Ich mag die Leute, aber niemand kann mit meiner Situation umgehen. Alle haben diesen mitleidigen Blick drauf.«

»Dann gehen wir nicht hin.«

Wir.

»Und was machen wir dann?«, hatte ich gefragt.

Noch mal wir.

»Wir gehen auf ein anderes Dach.«

 

Und hier standen wir nun. Cole wusste von dieser Dachterrasse mit dem unvergleichlichen Blick auf Manhattan, weil ein Kumpel von ihm in dem Apartmentkomplex wohnte. Unter welch seltsamen Umständen sich Menschen annähern konnten. Cole hatte Marie kennengelernt, danach mich, und jetzt blickten wir vom Dach eines Hauses in Williamsburg auf Manhattan, weil ich zwar nicht allein, aber genauso wenig unter vielen Menschen sein wollte.

»Ich habe ein paar Fragen.« Er zog für mich einen Plastikstuhl heran und setzte sich selbst auf den Rand des Hochbeets.

Ich zog das nasse Etikett von der Bierflasche. Dann setzte ich mich.

»Deine Schwester hieß Marie, oder?«

Ich nickte.

Ich sah ihn an. »Sag mal, wie viele One-Night-Stands mit gleichaltrigen, blonden Frauen hast du innerhalb von vier Wochen?«

Cole stand auf und stecke die Hände in die Taschen. »Keinen. Das ist es ja. Ich hab nicht mit deiner Schwester geschlafen.«

Die rotierenden Blätter eines Helikopters, der über den East River flog, zerschnitten für einen Augenblick unser Gespräch.

»Wie meinst du das?«

»Sie hat mit mir geflirtet, als gäb’s kein Morgen. Wir haben in ihrem Treppenhaus geknutscht, da hatte sie schon ihre Hand in meiner Hose. Wir sind in ihre Wohnung gestolpert, sie hat sich ausgezogen und aufs Bett gelegt. Ich bin nur schnell ins Bad, und als ich zurückkam, war sie wie ausgewechselt.«

Ich hörte ihn ausatmen, dann sagte er: »Plötzlich wollte sie nicht mehr. Sie fing an zu weinen, und ich war komplett überfordert. Sie hat dann immerzu gesagt, wie peinlich ihr das alles wäre, aber dass sie sich vorgenommen hatte, eine ganze Weile nicht zu daten und dass sie das aber in der Bar einfach verdrängt haben musste. Sie hat sich dann tausendfach entschuldigt, und ich meinte nur, dass ich auch kein Date möchte, sondern einfach nur –« Er sah mich an. »Sorry.«

»Und dann?«

»Sie meinte, dass das auch nicht geht.«

»Was hat sie geantwortet?«

Er wirkte plötzlich, als fiele es ihm gerade erst wieder ein. Ein Windhauch zwischen uns.

»Sie hat das Gleiche gesagt wie du neulich: Sie wollte nicht allein sein.«

Dann spürte ich eine Bewegung neben mir. Er ging, und ich zählte weiter. Ich dachte, er sei längst weg, als ich meinen Namen hörte. Ich drehte mich um, und er sagte: »Ich hatte Mitleid mit ihr und bin geblieben. Wir haben uns noch ’ne Weile unterhalten, aber nur über belangloses Zeug. Sie hat mir ’nen Kaffee gemacht. Als es draußen hell wurde, bin ich gegangen.«

Ich nickte ihm zu, ein stummes Danke. Dann zog er die Tür zum Treppenhaus auf und verschwand.