Als ich mit dem Auto vorgefahren komme, wartet Jakob schon vor dem Schulgebäude. Sein Fahrrad lehnt am Geländer. Ich bin aus der Arbeit gekommen, er von Zuhause.

»Ich weiß auch nicht mehr«, antworte ich, als er nachfragt, was die Lehrerin am Telefon gesagt hat, und merke, wie gereizt ich bin. Ich spüre seine Hand auf meinem Rücken und muss mich zusammennehmen. Er meint es gut. Aber so war ich schon immer: im Zweifel besser nicht berühren. Wir treffen uns mit Frau Bohle beim Lehrerzimmer, gehen hinter ihr her in einen leeren Klassenraum. Die Tische sind in Form eines U angeordnet. Frau Bohle deutet uns, Platz zu nehmen. Jakob zögert, die Stühle sind in Kindergröße. Ich setze mich auf einen der Tische und verschränke meine Arme vor der Brust.

»Sie sagt, es ist mehr als einmal passiert«, schließt Frau Bohle ihren Bericht. Sie hat am Lehrerpult Platz genommen, wir sitzen ihr gegenüber.

»Gibt es Zeugen?«, frage ich.

»Zeugen?«, wiederholt Frau Bohle mit einem Stirnrunzeln.

»Hat sie jemand dabei gesehen.«

Frau Bohle schüttelt den Kopf. »Es war in der großen Pause. Die anderen Kinder waren im Hof. Die zwei waren alleine in der Klasse.«

»Ist es nicht Ihre Aufgabe, aufzupassen?« Ärger mischt sich in meine Stimme.

Frau Bohle sieht mich an.

»Wir wissen ja noch gar nicht, was wirklich passiert ist«, versucht Jakob die Situation zu beruhigen.

»Sie glauben mir nicht? Mädchen behaupten so etwas nicht einfach«, sagt Frau Bohle.

»Nein, das habe ich nicht …«

»Wir als Schule nehmen den Vorfall ernst. Auch wenn es in dem Alter dazugehört, sich auszuprobieren und Grenzen auszutesten.«

»Wir nehmen das auch sehr ernst«, sagt er.

Frau Bohle atmet ein. »Hat Luca vielleicht etwas gesehen, das ihn verwirrt haben könnte?«, fragt sie.

Ich spüre Trotz in mir aufsteigen. »Wir schließen die Schlafzimmertür, wenn wir miteinander schlafen«, sage ich trocken.

»Pia«, flüstert Jakob.

»Ist er manchmal mit anderen Erwachsenen allein? Einem Onkel, zum Beispiel, oder einem Nachbarn?«

»Nein«, sagt Jakob.

»Mit dir ist er doch allein«, sage ich. »Du bist auch ein Mann.«

Jakob sieht mich entsetzt an.

»Können wir mit den Kindern reden?«, fragt er an Frau Bohle gewandt. »Mit dem Mädchen?«

Sie schüttelt entschieden den Kopf. Sie selbst hat bereits mit ihr gesprochen und auch eine der Hortpädagoginnen. Sie glauben ihr. Natürlich glauben sie ihr.

»Und was sagt Luca?«, fragt Jakob.

Ich kann es mir vorstellen. Wie Luca nichts sagt. Die Lippen aufeinanderlegt und den Mund nicht mehr öffnet. Zugesperrt, Schlüssel weggeworfen.

»Bisher hat er nichts gesagt«, sagt Frau Bohle und fügt hinzu, dass sie sein Schweigen nicht automatisch als Schuldeingeständnis deutet, sie weiß ja, wie er ist. Ihre Stimme wird heller. Schwingt von Moll nach Dur. Für einen kurzen Moment ist sie wieder Lucas freundliche Lehrerin.

Mich täuscht sie damit nicht, ich lehne mich zurück, ohne ihr Lächeln zu erwidern. Der Angeklagte hat das Recht zu schweigen.

Ich knie mich hin und lasse Luca in meine Arme laufen, wie ich es immer tue, wenn ich ihn abhole. Bald wird er zu groß dafür sein und ich ihm peinlich. Aber heute lässt er sich in meine Arme fallen und ich fange ihn auf.

Die Schulsekretärin hat auf ihn aufgepasst, während wir mit der Lehrerin gesprochen haben. Im Hinausgehen nicke ich ihr zu.

Wir setzen uns ins Auto. Jakob auf die Rückbank, ich auf den Beifahrersitz. Nur Luca sitzt an seinem gewohnten Platz. Ein komisches Bild, als wäre unser alter Ford ein Fluchtauto, in dem die Bankräuber darauf warten, dass der Fahrer zurückkommt. Wir warten auf jemanden, der weiß, wo es hingehen soll. Luca hat den Blick gesenkt, die Schultern eingezogen.

»Was war da genau los?«, frage ich.

Luca beginnt auf seiner Unterlippe herumzukauen.

»Jetzt sag schon«, sage ich in dem lockeren Ton, in dem ich normalerweise mit ihm spreche. Aber etwas Bemühtes schwingt mit.

»Nichts«, flüstert Luca fast tonlos.

»Wegen nichts haben wir dich aber nicht abgeholt. Frau Bohle hat gesagt …«

Jakob legt Luca eine Hand auf die Schulter. Die Geste hat etwas Tröstliches. Sie ärgert mich. Wir sollten alle wütend sein.

»Lasst uns in den Hammerpark gehen«, schlägt Jakob vor. »Treffen wir uns da?«

Ich nicke. Wir steigen aus. Jakob schließt sein Fahrradschloss auf. Er ist einer, der sein Fahrrad immer absperrt. Deswegen ist es ihm auch noch nie gestohlen worden. Ich beeile mich, auf der Fahrerseite wieder einzusteigen, das Auto ist ein Schutzraum. Ich starte den Motor und fahre los.

»Bist du böse, Mama?«

»Weiß ich noch nicht.«

Unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel, bevor ich auf die Bremse springe.

»Fuck!«

Luca japst nach Luft. Es hat ihn unsanft in den Gurt gedrückt. Fast hätte ich eine rote Ampel übersehen.

Wir waten durch Blätter, gelbe, rote, orange. Unsere Schuhe verschwinden darin. Ich hebe meinen Blick, das Laubwerk wirkt nicht ausgedünnt. Prall und voll und bunt sind die Baumkronen. Dazu das goldene Herbstlicht und diese ganz bestimmte Luft, noch warm, aber mit der Ahnung auf Kälte. In der Sonne will man die Jacke ausziehen, im Schatten eine Mütze aufsetzen. Wir gehen an dem Teich mit den Enten vorbei. Luca läuft vor auf den Spielplatz. Er klettert auf das Gerüst, das wie ein Spinnennetzball aussieht, bis ganz nach oben. Jakob und ich bleiben am Rand des großen Sandkastens stehen, die Hände in den Jackentaschen, schweigend. Heute ist ein höchst ungewöhnlicher Tag, Luca hat es aufgegeben, zu raten, was als Nächstes kommen wird. Er hat seine Sorge abgeschüttelt, nur ab und zu wirft er einen zögerlichen Blick über seine Schulter.

»Scheiße«, sage ich. Ich flüstere, obwohl wir beinahe alleine am Spielplatz sind. Daneben ist der Bereich für die Kleinen, dort sind mehr Mütter, auch ein Vater, aber hier sind wir die Einzigen. Ich drehe mich zu Jakob.

Jakob zieht die Unterlippe in den Mund. Wenn er das macht, sieht er aus wie Luca. Es macht ihn traurig, dass alle sagen, Luca sei ganz die Mama. Die blonden Haare, die grauen Augen, die helle Haut. Aber die Gesichtsausdrücke, die Mimik, die haben sie gemeinsam. Nur, dass Jakobs Lippenkauen meistens etwas ankündigt. Etwas Unangenehmes.

»Frau Bohle hat gesagt, Kinder machen so etwas nicht ohne Grund.« Er sieht mich so von unten an, es ist mir ein Rätsel, wie er das schafft, obwohl er größer ist als ich. »Was könnte ein Grund sein?«, fragt er. Die Andeutung der Lehrerin beunruhigt ihn.

Ich mache eine abwehrende Handbewegung. »Wir wissen doch gar nicht, ob es wirklich so passiert ist. Ein Mädchen hat eine Geschichte erzählt und jetzt sind alle in heller Aufregung.«

»Glaubst du, sie hat es erfunden?«

Ja — das glaube ich.

Ich halte inne.

Glaube ich das wirklich?

Frauen muss man glauben — ohne Wenn und Aber. Zu viele Frauen trauen sich nicht, etwas zu sagen, aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Deswegen, glauben, immer. Das ist meine Überzeugung. Ich denke an Lucas kleine Finger, wie er als Baby eine ganze Hand brauchte, um meinen Zeigefinger zu umgreifen.

»Er muss uns sagen, was passiert ist. Seine Perspektive. Ich will es von ihm hören«, sage ich.

Jakob seufzt.

Wenn sich Luca erschreckt, wird er ganz still. Wenn wir schimpfen, zieht er die Schultern ein und senkt den Blick. Wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus verkriecht. Nicht einmal wenn wir ihn zu Unrecht bestrafen, rechtfertigt er sich. Deswegen sind wir vorsichtig geworden.

»Hast du nicht Jesper Juul gelesen?«, frage ich.

Jakob lacht auf. »Das war vor hundert Jahren, Pia. Du hast doch gesagt, ich soll aufhören mit den Elternratgebern, weil das deine Intuition kaputtmacht.«

»Aber jetzt habe ich keine Intuition«, sage ich.

Wir blicken gleichzeitig zu Luca. Er hängt in den Seilen, wie ein Äffchen. Seine blonden Haare hängen herunter. Seit er auf der Welt ist, habe ich diese Gedanken: Ich stelle mir vor, wie er einschläft und nicht mehr aufwacht. Wie der Kinderwagen auf die viel befahrene Straße rollt, weil ich die Fußbremse nicht richtig reingegeben habe. Wie er eine unheilbare Krankheit bekommt. Ich stelle mir den Schmerz vor. Die Taubheit. Das Leugnen. Den unbändigen Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, und die Verzweiflung, weil es nicht geht.

Ich sehe die Gefahren, ich stelle mir vor, wie er vom Klettergerüst fällt und sich das Genick bricht, und ich halte das Gefühl aus, ohne einzugreifen.

Am Abend will Luca jetzt immer beten. Dafür müssen wir uns vor sein Bett knien. Jakob nervt es irrsinnig. Ich sage ihm, es ist nur eine Phase, wenn wir ihn lassen und es ignorieren, legt es sich von selbst. Also bin seit einigen Wochen nur ich beim Abendritual dabei. Ich spiele mit. Ich falte meine Hände. Aber heute schließe ich meine Augen nicht. Lucas Lippen formen tonlose Worte.

»Darf ich dich etwas fragen?«, sage ich, nachdem er laut »Amen!« gerufen hat und ins Bett geklettert ist.

»Weiß Gott alles?«

Luca sieht mich an.

»Oder erzählst du ihm, was passiert ist, wenn du betest?«

»Er weiß alles«, sagt Luca.

»Und was sagst du ihm dann?«

»Das ist ein Geheimnis«, flüstert er, mit feierlichem Ernst.

Auf einmal bin ich so unendlich müde. Ich lösche das Licht und lege meinen Nasenrücken an seine Wange. Ich kenne ihn besser als jeden anderen Menschen. Aber die Stunden, die er ohne mich verbringt, all die Dinge, die er ohne mich erlebt, werden mehr, je älter er wird. So muss das auch sein. Er gehört mir nicht. Er gehört sich selbst. Und doch wünsche ich mir gerade, er hätte so eine Kamera eingebaut, wie einige dieser modernen Autos, wo man nach einem Verkehrsunfall zurückspulen und nachsehen kann, wer Schuld hat.

Lucas Atem geht gleichmäßig, er ist eingeschlafen. Ich greife nach meinem Telefon auf dem Nachtkästchen. Den ganzen Nachmittag habe ich gegoogelt. »Verhaltensauffällige Kinder«, »Kinder Sexualität«, »Kinder zum Reden bringen«. Mir raucht der Kopf von den ganzen Seiten und Foren. Ich öffne die WhatsApp-Gruppe der Eltern. Dass keine Nachrichten gekommen sind, hat mich eigentlich beruhigt. Jetzt sehe ich, warum. Ich wurde aus der Gruppe entfernt.