Ich bin nach der Arbeit nicht nachhause gefahren, sondern hierher. Als Kind kam es mir so vor, als würde der See nur uns gehören. Natürlich stimmte das nicht. Der Wald gehört dem Bauern Schenk, der den See mit einem Bagger ausgegraben hat. An den Seiten wird er schnell tief. Ich blicke auf die Oberfläche. Nur durch das Glitzern kann ich den Spiegelwald im See von dem richtigen Wald unterscheiden. Die Wasseroberfläche gaukelt eine Tiefe vor, eine Welt hinter der Welt, die gar nicht so viel anders ist, nur glitzernder. Eine Welt, in der Linda noch am Leben sein könnte. Aber das Gefüge ist sensibel, die Illusion hält nur, solange die glatte Struktur der Oberfläche nicht zerstört wird. Der leichteste Windstoß kann ausreichen, um diese Welt erzittern zu lassen. Ein Blatt, das von einem der Bäume fällt. Ein Vogel, der kurz eintaucht, um einen Wasserläufer zu erwischen. Ein einzelner Regentropfen. Wie wenn ich mir einrede, dass Linda in einer anderen Stadt wohnt. Auch diese Illusion hält nie lange stand.
Jakob und Luca warten zuhause auf mich. Etwas hat mein Auto hierhergelenkt. Vielleicht dachte ich, der See hilft mir beim Nachdenken. Es war Birgit, Alenas Mutter, die uns aus dem Chat entfernt hat. Ob irgendjemand Ähnliches zu berichten habe, hat sie gefragt. Es gab keine Vorverurteilung, niemand wusste etwas. Sie haben sich tatsächlich nur darüber echauffiert, dass wir Luca zuhause gelassen haben. Und dann lassen sie ihn einfach zuhause, als wären Schulferien … Es ist lächerlich, aber ich will mich rechtfertigen.
Mit hochrotem Kopf habe ich Sophie ihr Telefon zurückgegeben und mir ein Lächeln abgemüht. »Wirklich nicht so schlimm.« Eine Mutter hat geschrieben, dass sie sich so etwas bei Luca nur schwer vorstellen kann, gerade bei ihm, wo er doch so einen engagierten Vater hat. Es braucht wirklich nicht viel, um als guter Vater zu gelten. Schon allein, dass Jakob im Chat war, unterschied ihn von den anderen Männern.
Aber ich weiß, dass mein Gefühl stimmt, dass da noch mehr ist, dass Luca etwas verschweigt. Jakob liegt falsch, wenn er sagt, dass Schweigen nicht Lügen ist. Schweigen ist noch schlimmer. Ich weiß, wovon ich rede. Ich schaue auf das Schild, das es schon gibt, seit ich denken kann. Privateigentum. Betreten verboten. Niemand hat sich je daran gehalten. Der alte Schenk hat es nur deshalb aufgestellt, damit ihm niemand einen Strick drehen konnte, sollte einmal etwas passieren. Dann ist etwas passiert. Linda ist in den Waldsee gefallen und ertrunken. Aber wo genau, an welcher Stelle? Ich weiß nicht, was Romi gemacht hat, wie sie versucht hat, Linda zu retten, warum es ihr nicht gelungen ist. Ich habe mich so an das Schweigen gewöhnt, an all die ungeklärten Fragen. Ich kenne nur meine Perspektive. Ich durfte nicht nach draußen, weil ich mich von einer Krankheit erholte, deshalb spielten meine Schwestern alleine im Garten. Ich bin eingeschlafen, als ich aufwachte, war niemand mehr da. Nicht meine Schwestern, nicht meine Mutter. Nur die Haustür stand offen. Woran ich mich als Nächstes erinnere, ist, wie Romi hinter Tante Gerti ins Wohnzimmer trat. Etwas war anders. Trotzig darüber, dass sie gegangen waren, ohne mir Bescheid zu sagen, hatte ich mich vor den Fernseher gesetzt. Romis Kleidung war nicht nass. Es kommt mir falsch vor. Alles kommt mir so falsch vor.
Ich höre ein Knacken links von mir. Schritte, die näher kommen. Ich drehe mich um. Sie wirkt fremd — aber es ist sie, ich erkenne ihre türkise Fleecejacke. Immer sportlich, immer fröhlich bunt. Ich brauche einen Moment, bis ich es benennen kann. Deswegen halte ich still. Sie sieht mich nicht. Dann weiß ich es. Ihre Körperspannung, normalerweise tadellos, ist verschwunden. Sie ist in sich zusammengesunken — in sich versunken. Sie wirkt alt, nicht jugendlich wie sonst, sogar älter, als sie wirklich ist. Ihr Blick streift den See. Wie bei einem Reh, das beim selbstvergessenen Asen plötzlich den Kopf hebt, ist auch in ihrem Körper die Spannung sofort zurück, als sie mich erblickt. Da ist sie wieder. Meine Mutter streckt ihren Arm weit in die Höhe.
»Pia!«, ruft sie und kommt mit langen Schritten näher. »Was machst du denn hier?«
Wir gehen nebeneinander her und ich frage mich zum ersten Mal in meinem Leben, wer sie ist, wenn ich nicht da bin. Ich kenne es von mir, wie ich mich gebe, hängt auch von meinem Gegenüber ab. Ein Mensch zu sein, der in sich ruht, das war immer mein Wunsch. Bis heute habe ich mich dem nicht nennenswert angenähert. Aber dass meine Mutter vor mir eine Maske trägt, dass es sie anstrengen könnte, so gelassen und zuversichtlich zu sein, auf die Idee bin ich bisher nicht gekommen. Ich schiele zu ihr. Kurz überlege ich, zu behaupten, ich hätte geklopft und keiner hätte aufgemacht. Aber ich weiß nicht, ob sie schon lange genug im Wald unterwegs ist. Ich sage, ich sei zum Nachdenken hergekommen.
»So einen schönen Herbst hatten wir schon lange nicht«, sagt meine Mutter und saugt die Luft ein.
»Ich denke über Linda nach«, sage ich.
»Sie ist hier bei uns im Wald, da bin ich mir ganz sicher.«
Ich seufze.
»Findest du den Gedanken nicht schön?«
Nein, ich finde den Gedanken nicht schön. Ich will nicht, dass uns die Toten zusehen müssen. Aber sie tröstet es.
»Doch«, sage ich. »Aber ich meine es ganz konkret. Ich denke darüber nach, was damals passiert ist, hier. An dem Tag, an dem sie gestorben ist.«
»Ach, Pia. Das bringt doch niemandem etwas. Erinnere dich doch lieber daran, wie lustig sie war. Weißt du noch, wie sie bei fast jedem Essen ihr Glas umgestoßen hat? Wenn sie es doch einmal geschafft hat, dass nicht alles nass wird, hast du ihr applaudiert. Ihr wart beide so liebe Kinder. Weißt du nicht mehr?«
»Mama, ich weiß nicht, wie sie gestorben ist. Und wir waren drei liebe Kinder.«
»Komm, du weißt doch, dass sie ertrunken ist.« Unmut mischt sich in ihre Stimme.
»Ich meine, was genau war, hier am See.«
Sie sieht mich an.
»Hat Romi dich geholt? Hat sie um Hilfe geschrien?«
Ich sehe ihr an, wie die Erinnerung in ihrem Kopf Gestalt annimmt. Ihr Mund öffnet sich, als wollte sie etwas sagen. Doch dann schüttelt sie den Kopf.
»Erzähl es mir, Mama.«
»Nein.«
»Nein?« Ich bin es nicht gewohnt, dieses Wort aus ihrem Mund. Sie bekommt immer, was sie will. Aber sie ist geschickter, als es direkt auszusprechen.
»Ich will nicht darüber reden«, sie atmet ein, »nicht an so einem schönen Tag. Hör doch mal, wie der Wind durch die Bäume weht. Luca soll bald wiederkommen. Der Wald ist im Herbst am allerschönsten.«