Sie hat im Keller die Wäsche aufgehängt, als ihr plötzlich die Stille aufgefallen ist. Für Eltern gibt es wenig, was bedrohlicher ist als plötzliche Stille. Zuerst ist sie nur in Hausschuhen nach draußen gegangen, bis zu dem Zaun und hat in den Wald hineingerufen. Dann ist sie noch einmal ins Haus, in die Stiefel und in die Jacke und dann in den Wald. Ein ziemliches Stück ist sie gegangen, sie hat sich gefragt, ob die Kinder vielleicht doch ins Dorf sind und nicht in den Wald, aber dann ist Romi dagestanden, mitten am Weg. Sie erinnert sich genau, dass sie sich nicht gerührt hat. Als hätte sie auf Mutter gewartet. Wo ist deine Schwester, hat Mutter gefragt. Und da hat Romi sie bei der Hand genommen und hinter sich hergezogen. Sie hat Mutter zum See gebracht. Mutter hat nicht gleich verstanden. Bis Romi einen Schrei losgelassen hat, einen so unmenschlichen Schrei, Mutter sagt, sie hört ihn noch manchmal in ihren Träumen und wacht davon auf. Am Ufer war das Gras ausgerissen, Linda muss sich daran festgehalten haben. Mutter hat die Jacke abgestreift und ist ins Wasser gewatet, es war die Stelle, wo es gleich tief ins Wasser geht, sie, als Erwachsene, hat gerade so stehen können. Sie ist getaucht, der See war trübe. Sie hat nichts gesehen, mit den Armen hat sie blind in alle Richtungen gerudert, dazwischen musste sie auftauchen, und jedes Mal wenn sie auftauchte, war da Romi am Ufer. Bleib da stehen, hat sie ihr zugerufen, und Romi hat sich nicht gerührt. Wann hörst du auf zu tauchen, hat sie sich selbst gefragt. Es war ihr egal, dass es kalt war, aber sie hat gespürt, wie die Kraft sie verlässt. Sie hat zu früh zu viel Kraft verbraucht, sie hätte sie sich besser einteilen müssen. Noch ein verzweifelter Griff, und sie hat etwas zu fassen bekommen, das sich wie Wasserpflanzen angefühlt hat, aber es waren Lindas Haare. Sie hat an ihr gezogen, der rechte Fuß hatte sich unter Wasser in einem Ast verfangen. Dann hat sie Linda an Land gehievt, sie aus dem nassen Schianzug geschält und das Wasser aus ihrem Brustkorb gedrückt. Sei still, sei still, hat sie in Gedanken ihrem laut schlagenden Herzen zugerufen und einen schwachen Puls an Lindas Halsschlagader gespürt. Mit Linda in ihren Armen ist sie durch den Wald gelaufen und hat über ihre Schulter geschaut, um sich zu vergewissern, dass Romi hinter ihr war. Sie haben nicht den Weg zu unserem Haus genommen, sondern den Weg zur Hauptstraße. Dort hat Mutter das erste Auto angehalten. Der Mann hat die drei ins Krankenhaus gebracht, Mutter triefend nass, Linda in ihren Mantel eingeschlagen, bewusstlos, aber atmend, darauf hat Mutter sich die ganze Fahrt über konzentriert; und Romi, die seit dem Schrei keinen Mucks mehr gemacht hatte. Niemand weiß, wer der Mann war, Mutter erinnert sich nicht an seinen Namen, nicht einmal daran, wie er ausgesehen hat. Im Krankenhaus gaben sie Mutter ein trockenes Gewand. Linda haben sie sofort auf die Intensivstation gebracht. Mutter hat Vater in der Fabrik angerufen. Vater hat die Nachbarin verständigt, die Romi abholen kam.

Als Romi wegfuhr, war Linda noch nicht tot.

»Warum war die Haustür offen«, frage ich in die Dunkelheit.

»Welche Haustür?«

»Als ich aufgewacht bin und ihr nicht da wart, da war die Haustür offen.«

»Die Haustür war nicht offen.«

»Doch, bestimmt.«

»Ich weiß nicht, wieso sie hätte offen sein sollen.«

Das ist das Detail, auf das sich mein Gehirn konzentriert.

»Jetzt habe ich dir alles erzählt«, sagt meine Mutter. »Geht es dir jetzt besser?«

»Ich weiß nicht«, sage ich und denke wieder an die offene Haustür.

»Lass uns jetzt schlafen.«

Ich starre in die Dunkelheit und langsam dämmert mir, warum mir dieses Detail so wichtig ist. Wenn wir uns nicht über die Haustür einigen können, dann ist alles andere auch fragwürdig.