Ich habe nicht verstanden, warum Romi sich nicht mehr angepasst hat. Warum sie nicht auf Zehenspitzen den Flur entlanggegangen ist, warum sie nicht einfach ihre Aufgaben ohne Murren erfüllt hat. Als Kind habe ich es nicht verstanden. Jetzt als Erwachsene bin ich froh, dass sie Widerstand geleistet hat. Weil ich weiß, dass es im Leben anders ist als in den Märchen. Da gibt es keine Prüfungen zu bestehen, um den Zauber zu brechen. Keinen Spruch, der einen befreit. Ich weiß, es ist gut, dass sie gegangen ist. Dass sie den Absprung geschafft hat. Ich wünsche mir nur, dass sie mich dafür nicht hätte verlassen müssen. So denke ich, so fühlt es sich an. Dabei habe ich sie gehen lassen.

Das Märchen vom Aschenputtel mochten wir nicht, weil sich die Schwestern Zehen und Fersen abschneiden mussten, um in den Schuh zu passen. Die Tauben gurrten: Kru — kru — Blut ist im Schuh. Linda und ich waren Aschenputtels Schwestern. Unsere Mutter war die Stiefmutter. Die Stiefmutter im Märchen ist immer böse. Aber unsere Mutter war nicht böse. Nicht immer. Nicht von Anfang an.

Romi hat Mutter geliebt. Und sie hat darum gekämpft, auch von ihr geliebt zu werden. Um mich hat Mutter immer Angst gehabt. Sie wollte immer wissen, wo ich bin, wer bei mir ist und wie sie mich erreichen kann. Bei Romi war es anders. Sie durfte die gleichen Dinge nicht und noch mehr. Aber mir wurden die Dinge aus Liebe verboten.

Und doch beginnt die Geschichte mit Liebe. Ich bin mir jetzt ganz sicher, wo sie beginnt. Mit Romis Kotze auf der Schulter meiner Mutter. Diese Geschichte hat sie erzählt, mit folgenden Worten: Da habe ich gewusst, dass dieses kleine haarige Wesen für immer zu uns gehört. Und es war nicht gelogen. In diesem Moment war es so wahr, wie nur irgendetwas wahr sein kann.

Und dann kommt das Leben.