Skye
Ziemlich vernebelt verlasse ich das Zimmer.
Alle, denen ich in den vergangenen zwei Monaten von der Show erzählt habe, haben mich gewarnt. Erwarte bloß nicht, Freundschaften zu schließen, haben sie alle gesagt. Wer bei einer Realityshow mitmacht, ist sowieso total schrecklich und in diesem speziellen Fall kämpft ihr auch noch alle um einen Typen, für den ihr ohnehin bereits Gefühle habt. Und ich habe jedes Mal nur mit den Schultern gezuckt und erwidert, es werde vielleicht gar nicht so laufen, weil wir – im Gegensatz zu so vielen anderen Shows – nicht vor allem aufgrund unserer Dramaqueen-Tendenzen bei einem Casting ausgewählt wurden. Wir sind einfach nur eine Gruppe ganz gewöhnlicher Mädchen, die zufällig eine Sache gemeinsam haben.
Nur, dass sie mich nicht mit einem x-beliebigen dieser ganz gewöhnlichen Mädchen in ein Zimmer gesteckt haben. Sie haben mich mit Maya in ein Zimmer gesteckt. Maya, die genauso ist, wie Jordy sie mir bei seiner Warnung beschrieben hat. Maya, die allem Anschein nach eine wahre Hochleistungssportlerin im Nachtragendsein ist. Maya, die für wer weiß wie lange so mit mir reden und mich so angucken wird. Bis Jordy sie nach Hause schickt, vermutlich.
Hierherzukommen war ein Fehler.
Meine Luftröhre fühlt sich wie zugeschnürt an und ich lehne mich gegen die Wand und zwinge mich, ein paarmal tief durchzuatmen, bis sich meine Kehle entkrampft und ich wieder genügend Luft kriege. Okay. Also.
Isaac hat gesagt, wir könnten bald das Zimmer wechseln. Ich muss einfach nur bis dahin durchhalten und Maya so weit wie möglich aus dem Weg gehen, dann steht es mir frei, bei einem der anderen Mädels Zuflucht zu suchen. Jordy scheint es nicht für nötig befunden zu haben, mich auch vor einer von ihnen zu warnen, daher kann ich nur annehmen, dass sie alle ganz zauberhaft sind. Vor Maya hingegen hat er mich gewarnt, was bedeutet, er weiß, wie sie ist, was wiederum höchst unwahrscheinlich macht, dass er sie lange hierbehalten wird, sobald ihm klar wird, dass sie sich nicht verändert hat. Es könnte also durchaus sein, dass ich das Zimmer schon bald für mich allein habe.
Diese Aussicht beruhigt meine Nerven.
Ich wappne mich innerlich und mache mich auf die Suche nach den anderen, in der Hoffnung, dass das Kennenlernen diesmal warmherziger abläuft.
Auf halbem Weg den Flur runter entdecke ich ein Zimmer mit offener Tür. Drei der anderen Mädchen befinden sich darin: ein Mädchen liegt auf dem unteren Etagenbett, die beiden anderen lümmeln auf dem Teppich, mit dem Rücken an Schreibtisch beziehungsweise Bettrahmen gelehnt.
Ich bleibe dabei, dass sich so etwas nie mit Sicherheit sagen lässt, aber im direkten Vergleich mit Maya wirken alle drei auf den ersten Blick deutlich weniger wie Serienkillerinnen. Es finstert mich beispielsweise keine von ihnen an, und ich bin mir so gut wie sicher, dass ein Zusammenhang zwischen Anfinstern und Morden besteht. Zumindest liegt dieser logische Schluss nahe.
Das Mädchen auf dem Bett bemerkt mich als Erste und rollt sich auf die Seite, um mich besser sehen zu können. Ich erkenne sie sofort, weil ich während Gwendolyns Willkommensansprache neben ihr gesessen habe. Sie hat langes, luftiges blondes Haar, und ihre Augen liegen weit genug auseinander, um ihr dieses ätherische Aussehen zu verleihen, das Castingleute wahrscheinlich als »irgendwie alienmäßig, aber im positiven Sinne« bezeichnen würden. Sie ist angezogen, als würde sie in einer exklusiven Anwaltspraxis arbeiten: hoch geschlossenes Etuikleid mit tiefem Saum und – wie ich ein wenig erschrocken feststelle – exakt demselben Blumenmuster wie unser Duschvorhang während meiner Kindheit.
»Hi, komm doch rein«, sagt sie winkend, und die beiden anderen rutschen ein Stück zur Seite, um Platz auf dem Boden zu machen. »Wir haben grade über die Party später gesprochen.«
»Ich hab gehört, er könnte heute Abend schon die Hälfte von uns nach Hause schicken«, sagt das Mädchen mit dem britischen Akzent. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und ihre Stimme fiepst panisch. Sie zwirbelt ihr glattes schwarzes Haar so eng um ihren Finger, dass ich ein bisschen Angst habe, sie könnte sich das Blut abschnüren, während ihre dicht bewimperten braunen Augen nervös hin und her huschen. »Hast du zufällig auch irgendwas davon gehört?«
Die Frage ist an mich gerichtet. Das südländisch aussehende Mädchen zwischen uns hat eine griechische Nase und so lange Locken, dass sie ihre Taille streifen. Sie rollt die Augen so weit in Richtung Decke, dass nur noch das Weiße zu sehen ist. Offensichtlich kommt diese Frage nicht zum ersten Mal auf.
Ich lasse mich auf den Boden plumpsen und verziehe das Gesicht. »Äh, dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Wir sind … grade erst angekommen?«
»Na ja, Kim hat vorhin anscheinend ein paar aus dem Produktionsteam darüber reden hören, weil sie als Erste hier ankam«, erklärt mir die Blondine vom Bett aus.
»Ich konnte sie aber nicht so gut belauschen, wie ich wollte, weil ständig irgendwer auf mich eingeredet hat«, ergänzt das Mädchen mit dem britischen Akzent – Kim, allem Anschein nach – mit noch höherer Stimme als eben.
»Kim«, erwidert die Langhaarige mit irischem Akzent und legt eine Hand auf Kims Arm, »ich verspreche dir, falls es heute Abend wirklich zu einer überraschenden Eliminierung kommt, dann trifft es sicher nicht die Hälfte von uns, weil sie sonst in den nächsten zwei Monaten praktisch keine Show haben. Und wenn er heute Abend jemanden nach Hause schickt, erhöhst du deine Chancen, hierzubleiben, ganz sicher nicht, indem du Panik schiebst. Entspann dich einfach. Was immer auch passiert, passiert.« Sie zieht ihre Hand wieder zurück und wendet sich mir zu. »Hi, übrigens. Ich bin Francesca.«
»Das ist Skye«, teilt Kim ihr mit, bevor ich eine Chance habe, mich selbst vorzustellen.
Ich ziehe fragend eine Augenbraue hoch. »Ja, bin ich.«
»Entschuldige«. Kim grinst. »Ich wusste schon, wer ihr alle seid, bevor wir überhaupt hergekommen sind. Aber ich kann unmöglich die Einzige sein, die alle anderen ein klitzekleines bisschen gestalkt hat, oder?«
»Ich hab niemanden gestalkt«, erwidert Francesca tonlos.
Kim zieht die Nase hoch und wirft ihr einen grollenden Blick zu. »Na, ich will gewinnen, also …«
Die Blondine winkt mir knapp zu. »Ich wusste auch schon, wer du bist«, gibt sie zu. »Aber ich hab dich nicht gestalkt. Na ja, jedenfalls nicht in letzter Zeit.«
»Freut mich zu hören«, sage ich leicht alarmiert.
Ich frage mich gerade, ob es wohl zu spät ist, einen Rückzieher zu machen und aus dieser Löwengrube potenzieller Mörderinnen und bestätigter Stalkerinnen zu fliehen, als sie hinzufügt: »Ich war vor Maya mit Jordy zusammen. Du warst für eine Weile omnipräsent in seinen Socials, deshalb kenne ich dein Gesicht. Ich bin Lauren. Du teilst dir ein Zimmer mit Maya, stimmt’s? Willst du sie auch zu uns einladen? Wir müssen schließlich noch ein bisschen Zeit totschlagen.«
Ich will keine Grimasse schneiden. Die Grimasse übernimmt einfach die Kontrolle über meinen Körper und ist so offensichtlich, dass die drei anderen sie nicht übersehen können. Sofort taucht ein fragender Ausdruck auf ihren Gesichtern auf. »Ich glaube, sie möchte im Moment ein bisschen allein sein«, erwidere ich in meinem besten Versuch des tückischen Balanceakts, meine Zimmergenossin nicht diesen anderen Löwinnen zum Fraß vorzuwerfen, die drei aber auch nicht anzulügen. »Darum wollte ich mal sehen, was alle anderen so treiben.«
»Geht’s ihr gut?«, fragt Lauren.
»Gehört sie zu diesen superbesitzergreifenden Mädchen?«, will Kim wissen.
Ich wende mich ihr zu. »Was meinst du denn damit?«
»Du weißt schon. Eine von diesen Frauen, die alle anderen als Konkurrentinnen betrachten?«
Francesca starrt sie ungläubig an. »Äh, Kim, hast du nicht gerade die letzten zehn Minuten damit zugebracht, total auszuflippen, weil du das Ding hier vielleicht nicht gewinnen könntest?«
Kim strahlt eine beeindruckende Würde aus, als sie nickt und erneut gesteht: »Ich will gewinnen. Ich nehme an, das wollen wir alle. Aber das bedeutet nicht, dass ich deswegen schrecklich zu allen anderen sein werde.«
»Ah, dann willst du also über unsere Leichen gehen, um zu gewinnen, aber auf nette Art und Weise?«, fragt Francesca.
»Ja, ganz genau.«
Lauren stützt sich auf einem Ellenbogen auf und schaut mir direkt in die Augen. »Was die beiden eigentlich wissen wollen, ist: Müssen wir uns vor Maya in Acht nehmen?«
»Ich … glaube, sie hat hauptsächlich ein Problem mit mir«, antworte ich vorsichtig. »Ich war nicht lange nach ihr mit Jordy zusammen.«
»Vielleicht glaubt sie, du hättest ihn ihr ausgespannt«, vermutet Kim.
»Oh, komm schon«, entgegnet Francesca. »Wer hat bitte die Energie, sich wegen irgendeines Typen so in was reinzusteigern?«
Kim wirkt gereizt. »Du, würde ich doch meinen. Du bist schließlich für einen Typen um die halbe Welt geflogen.«
Francesca neigt den Kopf zur Seite. »Ich bin hergekommen, weil es sich nach Spaß angehört hat. Mehr steckt nicht dahinter.«
Kim atmet tief ein und schlingt eine Haarsträhne zu einer Brezel. »Na ja, ein paar von uns sind hier, weil uns Jordy wirklich etwas bedeutet. Ein paar von uns nehmen das Ganze hier ernst.«
»Wir sind aus den ›richtigen‹ Gründen hier, meinst du?«, neckt Lauren sie.
»Man kann nie wissen«, erwidert Francesca. »Vielleicht verliebe ich mich heute Abend ja unsterblich in ihn. Ihr solltet mich jedenfalls noch nicht völlig abschreiben.«
Kim sieht aus, als würde ihr bei der Vorstellung richtig übel.
»Dann bist du hier also weder emotional noch sonst irgendwie involviert?«, fragt Lauren Francesca.
»Na ja, ich meine, Jordy und ich waren nie wirklich zusammen. Wir hatten nur was miteinander, als er im Urlaub war – und ungefähr einen Monat später haben sie mich dann gefragt, ob ich bei dieser Show mitmachen will. Ehrlich gesagt glaube ich, ich bin sozusagen der letzte Rest, den sie in ihrer Verzweiflung noch zusammenkratzen konnten.«
Kims Lächeln ist so angespannt, es könnte jeden Moment reißen. Selbst Lauren wirkt von dieser Neuigkeit alarmiert. »Okay, dann bist du also seine bislang letzte Ex-Freundin … ha.«
»Die Letzte, mit der er was hatte«, stellt Francesca klar. »Ehrlich, wir haben kaum miteinander geredet.«
»Dann hast du also keine Gefühle für ihn?«, hakt Kim nach.
»Na ja«, erwidert Francesca. »Nein? Abgesehen davon, dass er gut im Bett war?«
Lauren scheint die Luft wegzubleiben. »Oh, wow.«
»Dann seid ihr also alle noch in ihn verknallt?«, will Francesca wissen.
Wir anderen wechseln unbehagliche Blicke. Ehrlich gesagt, würde mich die Antwort auf diese Frage auch interessieren. Wir hatten vermutlich alle ganz unterschiedliche Beziehungen mit Jordy und ein paar dieser Beziehungen liegen kürzer oder länger zurück als andere. Es erscheint nur logisch, dass in diesem Raum ein ganzes Spektrum an Gefühlen herrscht.
Kim durchbricht die Stille als Erste. »Ich war letztes Jahr mit Jordy zusammen, als seine Familie in Liverpool gewohnt hat. Er war mit meinem Bestie Vivaan befreundet. Es hat nicht gehalten, weil Jordy umgezogen ist, aber ich glaube nicht, dass wir Schluss gemacht hätten, wenn er nicht wieder weggezogen wäre. Und ich will ehrlich sein: Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass Leute bei dieser Show mitmachen, die ihn noch nicht mal mögen.«
Francesca runzelt die Stirn. »Ich kenne ihn nicht wirklich. Aber ich würde ihn gern besser kennenlernen. Und da er mich persönlich gebeten hat, hier mitzumachen, empfindet er offensichtlich genauso. Ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu verarschen.«
»Das glaubt ja auch niemand«, versichert Lauren ihr hastig und schießt Kim einen warnenden Blick zu, als die den Mund aufmacht. Kim klappt ihn widerwillig wieder zu, während Lauren hinzufügt: »Jordy war mein erster Freund. Es hat nicht lange gehalten, aber wir waren auch noch ziemlich jung, also, wer weiß? Ich glaube wirklich, das hier war Schicksal. Ich hab immer verfolgt, was die königliche Familie so treibt. Und Jordy hat was echt Nettes gesagt, als er mich angerufen hat. Er hat gesagt, sie würden eine Folge im Palast drehen und dass er sich total freut, weil ich mich dann für einen Tag wie eine Prinzessin fühlen kann.« Sie lächelt verträumt und legt sich auf das Bett zurück. »Es ist ein bisschen wie im Märchen, oder?«
»Ich bin mir sicher, Hans Christian Andersen hatte schon eine Geschichte von sechs Prinzessinnen in der Pipeline, die bis zum Tod um ihren Prinzen kämpfen, der sie alle schon mal hat sitzen lassen«, spottet Francesca trocken. »Eine wirklich zauberhafte Story.«
Ich verstecke mein Lachen hinter einer Hand und tarne es als Husten.
Kim schaut mich an, als ich wieder eine möglichst ausdruckslose Miene aufsetze.
»Was ist mit dir, Skye?«, fragt sie. »Hast du noch Gefühle für ihn?«
Sämtliche Augen im Raum richten sich plötzlich auf mich, als wäre meine Antwort absolut entscheidend. Ich weiß zwar nicht wirklich, was sie entscheidet, aber es fühlt sich trotzdem irgendwie bedeutsam an. »Jordy war mal sehr wichtig für mich.« Ich wähle meine Worte mit Bedacht aus. »Es ist schwer zu sagen, ob davon noch irgendwas übrig ist. Aber deshalb sind wir schließlich hier, richtig? Um genau das herauszufinden?«
Francesca nickt zustimmend. »Seht ihr, das ist wenigstens rational.«
»Wer ist denn hier irrational?«, fragt Kim scharf.
»Hier ist niemand irrational«, erwidert Lauren. »Francesca, du bist ein wundervoller Mensch, aber lass es gut sein.«
Mir kommt der Gedanke, dass das die diplomatischste Art und Weise ist, jemandem zu sagen, dass er sich wie eine absolute Arschgeige aufführt, die ich je gehört habe.
Ich mache mir eine mentale Notiz.
»Mir ist gerade was eingefallen«, sagt Lauren und rollt sich vom Bett. »Bin in einer Minute wieder da.«
Und damit huscht sie aus dem Zimmer, während der Rest von uns in unbehagliches Schweigen verfällt. Ich fange aus Versehen Kims Blick ein, dann auch Francescas, schaue jedoch sofort wieder weg, bevor sie mich in Small Talk verwickeln können. Einmal mehr verspüre ich das dringende Bedürfnis, mein Handy herauszuholen, um wahllos zu scrollen, während wir darauf warten, dass Lauren zurückkommt. Wie lange wird es wohl dauern, bis ich diese Angewohnheit loswerde?
Zum Glück dauert es nicht lange. Laurens Schritte sind kaum verhallt, als sie schon wieder auf der Treppe zu hören sind, und nur wenige Augenblicke später platzt sie mit ein paar Flaschen Alkohol und einem Stapel Plastikbecher ins Zimmer.
»Wir sind alle über achtzehn, richtig?«, vergewissert sie sich.
Ich blicke mich um und nicke dann. »Ja.«
»Sehr gut. In Chalonne darf man nämlich ab achtzehn Alkohol trinken. In der Küche ist ein ganzer Schrank voll.«
Die anderen wirken erfreut und schnappen sich jede einen Becher.
»Ich hab total vergessen, dass ihr alle erst trinken dürft, wenn ihr einundzwanzig seid«, sagt Kim. »Das muss ja ziemlich seltsam für euch sein.«
»Ich bin Kanadierin«, korrigiere ich sie. »Wir dürfen auch schon mit achtzehn. Jedenfalls dort, wo ich wohne. Trotzdem war es ein kleiner Kulturschock, als ich vor zwei Monaten nach Europa gekommen bin.«
»Ich hab gehört, du warst backpacken«, erwidert Francesca. »Da hast du dich bestimmt ziemlich schnell ans Trinken gewöhnt.«
»So kann man es auch ausdrücken.« Ich grinse. Zu behaupten, der kulturelle Umgang mit Alkohol wäre hier anders, wäre leicht untertrieben. Es ist nicht so, als würden Teenager zu Hause nie was trinken, aber hier trinken viele Achtzehnjährige oft und viel. Manchmal frage ich mich, ob Dad wusste, wie das hier läuft, als ich ihm meine Reisepläne offenbart habe.
Ich lasse den Blick über die Auswahl schweifen und mir kommt eine Idee. »Wartet kurz«, sage ich und stehe auf.
Ich eile zurück zu meinem Zimmer, bleibe vor der Tür jedoch stehen. Ob Maya dadrin ist? Ob sie wohl wütend auf mich wird, wenn ich einfach so reinplatze? Oder macht sie womöglich ein Nickerchen, um ihre fiese Seite runterzufahren?
Ich klopfe vorsichtig an, und als niemand etwas sagt, luge ich ins Zimmer. Leer.
Na, gut so. Je weniger Zeit ich in ihrem Orbit verbringe, desto besser. Mit ein bisschen Glück macht sie sich für den Rest des Abends rar.
Ich durchwühle meinen Rucksack und schnappe mir, wonach ich gesucht habe: den alten iPod und die tragbaren Lautsprecher von meinem Dad. Er hat sie mir gegeben, als ich mich über das Handyverbot und den damit einhergehenden Musikverlust beschwert habe. Auf dem Ding sind hauptsächlich Songs aus den Achtzigern und Neunzigern, aber alte Musik ist immer noch besser als gar keine Musik.
Siegreich kehre ich mit meiner Trophäe zu den anderen zurück. »Ambiente!«, verkünde ich und stelle die Lautsprecher auf. Wenige Sekunden später ertönt Billy Joels Stimme in voller Lautstärke und ich drehe sie hastig runter.
»War Maya in eurem Zimmer?«, erkundigt sich Lauren. »Du kannst sie gerne zu uns einladen, wenn du magst. Aber nur, wenn du magst.«
»Nee, sie war nicht da.«
»Gut«, findet Francesca und ignoriert Laurens vorwurfsvollen Blick. »Wir wollen hier jetzt keine Stimmungskillerin. Apropos, was hat sie denn genau zu dir gesagt, Skye?«
»Ja«, fordert auch Kim mich mit vor Neugier leuchtenden Augen auf.
Na ja, ich hätte schon gern eine zweite Meinung dazu, wie sehr ich mich heute Abend vor Maya in Acht nehmen sollte. Deshalb schenke ich mir ein Glas ein und erzähle den anderen alles in möglichst gelassenem Tonfall.
Als ich fertig bin, wirken Kim und Francesca wutentbrannt. Endlich sind sie sich mal bei was einig.
»Ganz ehrlich«, erwidert Kim, »mir war klar, dass hier ein paar Irre rumlaufen würden, die unbedingt Feindschaften heraufbeschwören wollen, weil wir alle mal mit demselben Typen zusammen waren.«
»Ich finde«, entgegnet Lauren vorsichtig, »wir sollten ihr eine Chance geben, es zu erklären.«
Ich nicke. »Stimmt. Es könnte alles Mögliche sein. Vielleicht macht ihr ja nur Reisen schlechte Laune.«
Francesca zieht die Stirn in Falten. »Klingt eher nicht, als ob es das war.«
Ehrlich gesagt stimme ich ihr zu, aber diese Ansicht behalte ich fürs Erste lieber für mich.
»Wir wissen es nicht, weil wir sie nicht kennen«, sagt Lauren.
»Jordy kennt sie aber«, erwidert Kim.
»Na, ich warte erst mal ab, wie sie sich heute Abend verhält«, erkläre ich. »Falls sie ganz normal ist, tue ich einfach, als wäre es nie passiert.«
»Wie, und dann auf dicke Freundinnen machen, nachdem sie so schrecklich zu dir war?«, fragt Francesca.
»Okay, wir werden jetzt wahrscheinlich nicht mehr die besten Freundinnen werden. Aber ich suche auch bestimmt nicht nach Gelegenheiten, mir Feindinnen zu machen«, erwidere ich.
Francesca denkt darüber nach und erhebt sich dann. »Nein. Ich werde sie auffordern, sich zu erklären.«
»Whoa, was?«, frage ich und stolpere ihr hinterher. Lauren und Kim schnappen sich ihre Drinks und folgen uns. »Nein, komm schon. Wir amüsieren uns doch grade so gut. Warum allen den Spaß verderben?«
»Weil ich Erfahrung mit Mobbern habe«, antwortet Francesca und marschiert entschlossen den Flur hinunter. »Wenn man sie nicht von Anfang an zur Rede stellt, eskaliert das Ganze, bis es so gewaltig ist, dass es sich nicht mehr eindämmen lässt. Wahrscheinlich wird sie dich auch vor laufenden Kameras runtermachen, wenn du ihr die Chance dazu gibst.«
Ich schaue Lauren, die große Pazifistin, flehend an.
Komm schon. Wo sind diese Deeskalationsfähigkeiten, die wir alle in den letzten dreißig Minuten kennen- und lieben gelernt haben?
Irgendwas?
Lauren runzelt die Stirn und kippt den Kopf hin und her, als würde sie ihre Optionen abwägen. »Ich glaube zwar nicht unbedingt, dass das hier fair ist, aber … Na ja, Francesca hat vermutlich recht. Es offen anzusprechen, gibt uns allen die Chance auf einen Neuanfang.«
Wir erreichen das Fußende der Treppe und zögern, sehen Francescsa an, damit sie die Richtung vorgibt.
»Sie hat gefragt, ob wir den Pool nutzen dürfen, richtig?«, bemerkt Kim.
»Stimmt, der Pool!«, ruft Francesca aus und steuert direkt auf die Tür zu.
»Ich will nicht, dass sie denkt, ich hätte über sie gelästert«, protestiere ich, als wir in die grelle Nachmittagssonne platzen.
»Du hast nicht über sie gelästert«, erwidert Francesca. »Du hast uns nur ganz nüchtern ein paar nüchterne Tatsachen geschildert, die sich tatsächlich zugetragen haben.«
»Wir sagen ihr, dass es kein Lästern war«, versichert Lauren mir.
Irgendwie tröstet mich das nicht.
Wir finden Maya auf einer der Poolliegen, zusammen mit Perrie. Sie kichern über irgendwas. Offensichtlich sind sie bereits beste Freundinnen.
Obwohl Jordy mich gewarnt hat, dass sich Mayas Wut nur gegen mich persönlich richten würde, tut es trotzdem weh, es zu sehen. »Hi, Maya«, sagt Francesca und stürmt geradewegs auf sie zu. Ich bin ehrlich froh, dass Francesca auf meiner Seite ist – und sei es nur, weil ich nicht gleich am ersten Tag diesen Tonfall abkriegen wollen würde. Dagegen wirkt Mayas Verhalten regelrecht zahm. »Wie läuft’s so? Oder was läuft da zwischen dir und Skye? Sie hat gesagt, du hättest sie richtig scheiße behandelt.«
»Aber sie hat nicht über dich gelästert«, wirft Lauren ein.
Wow, zehn von zehn Punkten, Mädels. Großartige Arbeit. Ich verspüre plötzlich den verzweifelten Drang, mich in den Pool zu stürzen und mich zu weigern, je wieder aufzutauchen.
»Äh, hi«, erwidert Maya und schießt mir einen Blick zu. Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie mich mit ihrem Blick durchbohrt, und mein Herz setzt einen Schlag lang aus. »Ihr kommt direkt zur Sache, was?«
»Ich mag keinen Small Talk«, verkündet Kim.
»Richtig, sicher.« Maya und Perrie wechseln einen bedeutungsvollen Blick. Warum beschleicht mich das ungute Gefühl, dass Maya Perrie bereits gegen mich aufgehetzt hat? Was hat Jordy noch gleich gesagt? Dass sie extrem überzeugend und manipulativ ist?
Maya schenkt uns ein leises Lächeln, und mir fällt auf, dass sie meinem Blick nun absichtlich ausweicht. »Ich glaube nicht, dass Skye diese Unterhaltung vor allen anderen führen will.«
Was Drohungen angeht, ist diese so hauchdünn verschleiert, dass sie ebenso gut nackt sein könnte.
»Oh, wirklich«, erwidert Francesca mit einem Lächeln und es ist ziemlich Furcht einflößend. Wie das widerlich süße Lächeln einer Auftragskillerin, bevor sie den tödlichen Schuss abgibt. »Das ist so rücksichtsvoll von dir. Aber Skye ist hier, also, ich schätze, wir können loslegen?«
»Na ja«, wirft Perrie an Maya gewandt ein, »eigentlich wollte ich dir gerade drinnen diese Sache zeigen, von der ich dir erzählt habe, Maya. Vielleicht können wir später noch mal hier anknüpfen?«
»Ich bin mir sicher, das kann dreißig Sekunden warten«, entgegnet Francesca bestimmt.
»Skye weiß, was sie getan hat«, behauptet Maya. »Ich habe noch keine Entschuldigung von ihr gehört. Und sofern sie nicht bereit ist, daran etwas zu ändern, wüsste ich nicht, was wir hier vor allen zu besprechen hätten.«
»Eine Entschuldigung?«, wiederhole ich ungläubig. »Eine Entschuldigung wofür? Du bist hier diejenige, die sich entschuldigen sollte.«
»Bei dir entschuldigt sie sich ganz sicher nicht«, geht Perrie dazwischen, während Maya weiter empört irgendetwas brabbelt. »Du hast ihr den Freund ausgespannt. Sie hat jedes Recht, wütend auf dich zu sein.«
»Das typische verfluchte Gemeinsamer-Ex-Freund-Drama«, stöhnt Kim. »Hab ich’s euch nicht gesagt?«
Francesca tut ihre Bemerkung mit einem Winken ab.
»Ich bin mir sicher, wir haben es hier nur mit einem großen Missverständnis zu tun«, versucht Lauren es.
»Oh, du bist dir sicher, ja?«, spottet Maya. »Und du weißt das, weil du … dabei warst?«
»Ich habe niemanden ›ausgespannt‹«, blaffe ich sie an. »Das kann echt nicht dein Ernst sein. Werd erwachsen.«
Maya starrt mir direkt in die Augen und die anderen verstummen. Das hier ist jetzt ein reiner Zweikampf. Ich spüre ein Kribbeln im Nacken.
»Na ja, doch, genau das hast du getan«, beharrt sie. »Im Prinzip entspricht es sogar der exakten Definition davon.«
Ich rolle mit den Augen. »Er ist weggezogen, er ist mir begegnet, wir sind zusammengekommen. Die Leute schauen irgendwann wieder nach vorne, Maya. Dafür kannst du nicht mir die Schuld geben.«
»Oh, nennst du das so, ja? Nach vorne schauen?« Sie grinst höhnisch.
»Ja. Er hatte keine Gefühle mehr für dich. Er hat ja noch nicht mal mehr in deiner Nähe gewohnt! Ich weiß wirklich nicht, wieso du glaubst …«
»Skye, er hatte nicht nur Gefühle für mich. Er war mit mir zusammen. Er war mein Freund.«
Meine Wangen beginnen vor Wut zu glühen, aber ich halte meine Stimme ruhig. Wir können diese Sache wie vernunftbegabte Erwachsene klären, solange ich nicht die Beherrschung verliere. Da bin ich mir ganz sicher. »Ihr wart nicht mehr zusammen. Du wolltest mit ihm zusammen sein, aber er wollte mit mir zusammen sein. Das ist beschissen, aber manchmal läuft es nun mal so. Und außerdem ist es schon Jahre her. Wen interessiert’s?«
Mayas Stimme steigt ein paar Dezibel höher. »Äh, nein, die Person, die etwas Falsches getan hat, kann nicht einfach entscheiden, wann genügend Zeit vergangen ist, um es gut sein zu lassen. Das ist meine Entscheidung. Und wir waren noch zusammen.«
Ich gerate ins Schwimmen, nicht ganz sicher, was ich darauf erwidern soll. Wenn Jordy sagt, sie waren nicht mehr zusammen, Maya aber behauptet, sie waren es, dann kommt es letzten Endes nur darauf an, wem ich glaube. Und Jordy ist kein Lügner. Ich kenne ihn schon viel länger, als ich Maya kenne. Und sie hat sich bisher genauso aufgeführt, wie Jordy es vorhergesagt hat. Weswegen ich mich frage, was sie ihm angetan hat, dass er mir keine Details darüber erzählen will.
Es macht mich seinetwegen richtig wütend. Meine ganze Haut kribbelt und mein Herzschlag beginnt zu rasen.
»Ganz genau«, sagt Maya in die Stille hinein. »Also kannst du dich jetzt bitte verpissen?«
»Okay, offensichtlich hatte Jordy recht, was dich betrifft«, erwidere ich. Maya wird ganz blass, was eine ziemliche Leistung ist, weil sie ohnehin ziemlich bleich ist. Sie hat diese cremeweiße, von Sommersprossen übersäte Haut, die an einem Tag wie heute wirklich nichts in der Sonne verloren hat.
»Was soll das denn nun wieder heißen?«, fragt sie.
»Er hat uns gewarnt«, antwortet Francesca.
»›Uns‹?«, wiederholt Lauren und lässt eine Augenbraue nach oben wandern.
Francesca ignoriert sie. »Jordy hat gesagt, du würdest versuchen, ihn schlechtzumachen. Und dass du es auf Skye abgesehen hast. Er hat erzählt, dass du das schon seit Jahren tust.«
»Er meinte, du wärst total durchgedreht, als er mit dir Schluss gemacht hat«, fügt Kim hinzu. »Und dass du es nicht zulassen wolltest.«
»Na, dann glauben wir doch einfach alle Jordy?«, entgegnet Perrie und ihre Stimme trieft vor Sarkasmus, dick wie Sirup. »Es hat schließlich noch nie ein Mann wegen so was gelogen.«
»Wenn du so über Jordy denkst, warum bist du dann hier?«, fragt Kim, schäumend vor Wut. »Er würde bestimmt gerne hören, dass du ihn für einen Lügner hältst.«
»Nein, sag es ihm nicht, bitte«, entgegnet Perrie trocken und begutachtet ihre Fingernägel.
»Ich glaube aber tatsächlich nicht, dass Jordy ein Lügner ist«, sagt Lauren leise. »Oder dass er jemanden betrügt. Es tut mir leid, Maya, aber wäre es nicht möglich, dass ihr beide einfach anders interpretiert habt, was noch zwischen euch war?«
»Nein«, antwortet Maya kalt.
»Ich glaube auch nicht, dass Jordy jemanden betrügen würde«, pflichtet Kim Lauren bei.
»Ich kenne Jordy nicht wirklich.« Francesca zuckt mit den Schultern. Kim wirft ihr einen genervten Blick zu und sie schiebt hastig nach: »Aber er scheint einer von den Guten zu sein.«
»Er würde niemanden betrügen«, bekräftige ich. »Und ich auch nicht.«
»Was immer dir dabei hilft, nachts ruhig zu schlafen, Süße«, sagt Maya und schaut mir direkt in die Augen. Ich halte ihrem Blick stand, und wir starren einander in Grund und Boden, keine von uns bereit, als Erste einzuknicken.
»Und falls du nur bei der Show mitmachst, um mich zu verleumden«, sage ich kühl, »dann solltest du gründlich darüber nachdenken, was du tatsächlich beweisen kannst. Meine Anwältin hat mich bereits hinsichtlich meiner Rechte beraten. Wir haben uns ausführlich unterhalten, bevor ich hierhergekommen bin.«
Das ist natürlich eine schamlose Lüge. Ich habe keine Anwältin, und falls Dad eine hat, dann hat er mich nie darüber informiert. Haben Leute Anwälte, wenn sie gar nicht kriminell sind? So oder so, es klingt einschüchternd und im Moment brauche ich was Einschüchterndes. Sonst besteht die Gefahr, dass Maya mich schon am ersten Abend vor aller Welt zum Sündenbock macht. Jordy hat gesagt, sie wüsste, wie sie eine Story zu ihrem Vorteil drehen kann. Ich wurde gewarnt. Und jetzt, wo ich weiß, womit ich es zu tun habe, muss ich zugeben, ich bin ein wenig besorgt. Mehr als ein wenig, um ehrlich zu sein.
»Oh, gut«, spuckt Maya aus. »Ich liebe es, mit einer Drohung zum Schweigen gebracht zu werden. Das überzeugt mich wirklich davon, dass du nicht wusstest, was er getan hat.«
»Ich drohe dir nicht, Maya«, erwidere ich. »Ich sage nur, dass wir dieses Drama von den Kameras fernhalten sollten. Um unser beider willen.«
»Du kannst von Glück sprechen«, grummelt Francesca. »Wenn du mich derartig beschuldigt hättest, würde ich dir einfach eine zentrieren, und die Sache wäre erledigt.«
»Ich auch«, pflichtet Kim ihr bei. »Aber im übertragenen Sinne.«
»Ich hab’s auch im übertragenen Sinne gemeint.«
»Hast du?«
»Ich werde sicher niemandem wirklich eine reinhauen, oder? Nicht, wenn hier überall Kameras sind.«
»Wahrscheinlich müsstest du dir Skyes Fake-Anwältin ausleihen, wenn du es tun würdest«, bemerkt Perrie.
Ich werfe ihr einen scharfen Blick zu und sie schenkt mir ein süßes Lächeln.
»Was auch immer«, brummt Maya und stützt sich mit dem Ellenbogen auf der Armlehne der Sonnenliege ab. Sie sieht aus, als würde sie versuchen, gleichgültig zu wirken, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht verrät, dass sie alles andere ist als das. »Lass mich einfach in Ruhe, dann lass ich dich auch in Ruhe, okay?«
»Klingt wundervoll«, erwidere ich, während die anderen an mir zupfen, damit ich wieder mit ihnen reingehe.
Perrie ruft uns nach: »Nur weil ihr mehr seid, seid ihr noch lange nicht im Recht!«
Francesca hebt im Gehen den Mittelfinger.
»Scheiß Amerikaner«, murmelt Kim.
»Ich bin Amerikanerin«, erwidert Lauren verletzt.
Ich werfe einen Blick über die Schulter zurück, bevor wir die Tür erreichen.
Maya starrt mich mit einer Intensität an, bei der mir der Magen in die Kniekehlen rauscht.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihr ihr Versprechen wirklich abnehme.