2. Kapitel
Ein bisschen mehr Pragmatismus, bitte!

Für einen neuen Anlauf in den deutsch-französischen Beziehungen

Jeder französische Zeitungskorrespondent wäre wohl gerne in jenem bayrischen Bierzelt gewesen, in dem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem G-7-Gipfel im Mai 2017 auf Sizilien ihre inzwischen berühmten Sätze zum gewachsenen deutschen Misstrauen gegenüber den USA sprach und hinzufügte: »Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich selbst in die Hand nehmen!« Doch die Kanzlerin hatte niemanden, und schon gar nicht die französische Presse, vorgewarnt, dass sie im bayrischen Trudering Wichtiges zu sagen hätte.

Was aber hätte ein französischer Korrespondent wohl in jenem Bierzelt empfunden? Hätte er vom Jubel der deutschen Bierzeltgäste berichtet, als Merkel versprach, den neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu unterstützen? Der Bayerische Rundfunk berichtete, dass der Applaus an keiner Stelle von Merkels Rede in Trudering so stark gewesen sei wie bei der Nennung von Macrons Namen. Hätte der französische Korrespondent also innerlich einen Freudensprung gemacht und die gute Nachricht nach Paris überbracht, dass die Deutschen wieder stärker denn je auf die Franzosen setzen?

Oder wäre er skeptisch geblieben? Hätte er Merkels Vorredner auf dieser Wahlkampfveranstaltung, den CSU-Vize-Generalsekretär Markus Blume zitiert, der – ebenfalls unter Applaus – dem Publikum zuwarf: »Sie sind die Anführerin des Westens«? Hätte er vielleicht von Merkels Alleingang gesprochen, die eine große außenpolitische Wende wieder einmal ohne französische Begleitung und auf exklusiv deutschem Wahlkampfterritorium kundgetan hatte? Wahrscheinlich hätte der französische Korrespondent keine Wahl gehabt. Denn Frankreich tickt immer noch pro-Merkel und pro-deutsch.

In einer Umfrage im Auftrag der deutschen Botschaft in Paris gaben im Januar 2017 83 Prozent der befragten Franzosen an, allgemein ein »positives« Bild von Deutschland zu haben. Ein Wert, der sich innerhalb von vier Jahren um nur zwei Prozentpunkte verschlechtert hat. Lediglich im Bereich der absoluten Deutschland-Liebhaber ließ sich eine deutlichere Veränderung finden. So sprach 2013, im 50. Jubiläumsjahr des Élysée-Vertrages, jeder fünfte Franzose (21 Prozent) von einem »sehr guten« Bild vom Nachbarn jenseits des Rheins – Anfang 2017 war es nur noch jeder Achte (13 Prozent).

Seit Jahren ist die deutsche Bundeskanzlerin in der französischen Bevölkerung beliebt. Im krassen Gegensatz dazu stand stets der eigene Präsident François Hollande. Darin sind sich die Meinungsforscher in beiden Ländern einig. In einer groß angelegten Befragung aus Anlass des deutsch-französischen Journalistenpreises im Juni 2016 zeigten sich 61 Prozent der Franzosen »sehr zufrieden bzw. zufrieden« mit der Arbeit Merkels. Von Hollande behaupteten das gerade mal 38 Prozent der Deutschen.

Auch bei jungen Franzosen genießt Merkel hohes Ansehen. Daran hat für einige selbst die deutsche Flüchtlingspolitik, die vom Spätsommer 2015 an die deutsch-französische Beziehung stark ins Wanken gebracht hatte, nichts geändert. Im Gegenteil. »Ich glaube, die Kanzlerin hatte vollkommen Recht. Zudem ist sie damit ein Risiko für ihre Wiederwahl eingegangen«, sagte Raphaël Georgy, frischgebackener Absolvent einer Pariser Elitehochschule. »Deutschland hat sich zu seinen christlichen und sozialen Werten bekannt und diese in der Flüchtlingskrise in die Tat umgesetzt; auch auf die Gefahr hin, sich damit starker Kritik auszusetzen.« Doch nicht allein ihre Rolle in der Flüchtlingskrise, sondern auch das Verhalten nach den islamistischen Anschlägen in Frankreich 2015 habe sein Bild von Merkel nachhaltig zum Guten geprägt, sagte Georgy. »Ich bin überzeugt, dass sie nie eine Gelegenheit ausgelassen hat, Frankreich ihre Freundschaft und ihre Solidarität zu beweisen. Sei es nach Charlie Hebdo, als sie auf den Stufen des Élysée ihren Kopf an die Schulter von François Hollande gelehnt hat, oder bei der militärischen Unterstützung unserer Truppen im Kampf gegen den Islamischen Staat.«

Die beiden großen Pariser Tageszeitungen, sowohl die linksliberale Le Monde als auch der konservative Figaro, berichteten am Ende jedenfalls beide positiv über Merkels Auftritt in Trudering. Sie hatten zwar keinen Korrespondenten vor Ort, reagierten aber trotzdem sofort und voller Wohlwollen.

»Trotz der großen, lange anhaltenden Zögerlichkeit, was sein internationales Engagement betrifft, scheint Deutschland heute bereit, sich bei grundsätzlichen Fragen weiter zu bewegen«, kommentierte der Figaro und hatte eine »historische Gelegenheit« vor Augen. »Diesen erstaunlichen Moment müssen Franzosen und Deutsche beim Schopfe packen«, schrieb die Zeitung am 1. Juni 2017 auf ihrer Titelseite. »Im Herbst, nach den deutschen Wahlen, müssen sie sich in den Sattel schwingen. Der Brexit, der Aufstieg der Euroskeptiker und jetzt Trump haben die Stunde des Wiedererwachens eingeläutet. Wenn aber die Führer beider Länder sich erneut in den bürokratischen Mühlen und der Routine unnützer Gipfel verlieren, werden sie die Chance vertan haben, die ihnen die Geschichte bot.«

Zwar spielte der Figaro auf ungenutzte Zeiten im deutsch-französischen Verhältnis an, aber er ging doch klar von einer neuen deutschen Veränderungsbereitschaft aus. Wenn es dann doch nicht klappt und die historische Chance vertan wird, wären vor allem die Franzosen selbst schuld, suggerierte die Zeitung.

Ganz ähnlich sah es das ideologische Gegenblatt zum konservativen Figaro, die linksliberale Le Monde in ihrem Leitartikel vom 30. Mai 2017: »Die Deutschen wollen nicht die einzige kontinentale Macht sein: Wenn Angela Merkel von ›Wir Europäer‹ spricht, richtet sie in Wirklichkeit einen Appell an Frankreich.«

Natürlich wünschte sich die Zeitung, dass die Franzosen den angeblichen Appell Merkels nicht überhören: »Präsident Macron muss auf die neue deutsche Distanz zu den Angelsachsen und den deutschen Appell an Frankreich, dem ersten seit langer Zeit, antworten«, schrieb Le Monde. Auch hier schwang nur im Rückblick – »dem ersten seit langer Zeit« – etwas Kritik gegenüber Merkel mit. Stattdessen zweifelte die Zeitung am eigenen Präsidenten: »Der neue Staatschef muss aufpassen, keine Alleingänge zu machen, die an Hochmut und Gaullismus der Großväter erinnern, heute aber kontraproduktiv wären. Seine Antwort muss europäisch effektiv sein.« Dieser Tonfall ist durchaus nicht selbstverständlich. Fast demütig reagierten die sonst so stolzen Pariser Leitartikler auf die Truderinger Rede der deutschen Kanzlerin. Sie hielten sich mit Kritik zurück, hofften auf die neue gemeinsame Chance mit Deutschland und blendeten einen Teil der Wirklichkeit komplett aus.

Denn natürlich hätte auch eine skeptische Version der Truderinger Rede den französischen Zeitungen gutgetan. Trotz des einmütigen Applauses im Bierzelt auf CSU-Terrain – ein unumstößliches Bekenntnis zu Frankreich war Merkels Auftritt keinesfalls. Die Bundeskanzlerin sprach von »Freundschaft« mit den USA und mit Großbritannien, von »guter Nachbarschaft«, wo immer sie möglich ist – und erwähnte Russland. Wäre das nicht eigentlich der Moment gewesen, um den französischen Partner etwas deutlicher zu preisen als die unsicheren Kantonisten, die sie aufzählte?

Stattdessen packte Merkel nach einem »aus voller Überzeugung« ausgesprochenen »alles Gute« für Emmanuel Macron ihren rhetorischen Wunschzettel an Frankreich aus. Arbeitsplätze und eine »Zukunft für die Menschen« standen ganz oben. Die jüngere Generation müsse wieder an Europa und die eigene Zukunft glauben. Den Subtext dazu kannte jeder: Frankreich hat bisher keine Wirtschaftsreformen eingeleitet. Frankreich hat zu hohe Staatsausgaben. Frankreich ist ein zu großzügiger Wohlfahrtsstaat. Ende des Subtextes. Merkel weiter: »Wo Deutschland helfen kann, wird Deutschland helfen, weil es Deutschland auf Dauer nur gutgeht, wenn es Europa gutgeht.« Immerhin suggerierte das nicht, dass Deutschland heute schon hilft.

Viele Anzeichen sprechen nämlich dafür, dass die tonangebenden Kreise in Berlin sich gar nicht so unwohl fühlen, sich als »einzige kontinentale Macht« in Europa zu gebärden. Dass Merkels Vorredner in Trudering mit seiner Anspielung auf die Bundeskanzlerin als »Anführerin des Westens« durchaus den mal mehr, mal weniger offenen Wunsch deutscher Hauptstadt-Strategen traf.

Diese Sorge geht heute um in Frankreich. Ein großer Teil der französischen Eliten hegt wieder den Verdacht, dass Deutschland in Europa dominieren will, was auch bei den Leitartiklern von Figaro und Le Monde durchscheint, die sich Merkels in Trudering annahmen. Warum sonst waren die deutsch-französischen Gipfel der Vergangenheit ohne Ergebnisse geblieben? Warum sonst hätte die Bundeskanzlerin nicht früher an Frankreich appelliert? Doch dieser Verdacht wird in Frankreich ganz selten offen ausgesprochen. Nur Rechts- und Linksextremisten tun das. Der Rest, ob konservativ oder liberal, hofft lieber auf das alte, gute, den Franzosen zugewandte Deutschland. Auf den unersetzlichen Verbündeten. Auf den politischen Lebenspartner. Denn noch immer bezeichnen die Franzosen das deutsch-französische Verhältnis als eine Paarbeziehung, als »couple«. Als gäbe es Liebe und nicht nur Interessen in der Politik.

Also war Hoffnung erlaubt. Also träumten viele Franzosen zu Beginn des Jahres 2017 von einem Neuanfang mit Deutschland im Herbst, nach den deutschen Wahlen, mit einem neuen Paar an der Spitze: Macron und Merkel – Spitzname Mercron. Oder Macron und Martin Schulz.

»Das Wichtigste für mich als Französin ist es, dass sich die Kanzlerin und Macron gut verstehen. Dann kann es Vertrauen und eine echte deutsch-französische Zusammenarbeit geben«, sagte mir Elisabeth Vignon, Vertreterin der Gewerkschaft für leitende Angestellte, CGC, im Sommer 2017. So einfach das klang, so ehrlich war es gemeint: »Das ist doch die entscheidende Frage, vor allem nach der Brexit-Katastrophe!«

Tatsächlich schien es auf der Hand zu liegen: Nach britischem Brexit-Referendum und US-amerikanischer Trump-Wahl, also den nationalen Rückzügen der großen angelsächsischen Demokratien, würden die alten europäischen Kernmächte Frankreich und Deutschland der Welt noch einmal zeigen, wo es langgeht: nämlich zu mehr Gemeinsamkeit über nationale Grenzen hinweg. Franzosen und Deutsche schienen zu wissen: Es gibt keinen Weg zurück aus der Globalisierung, nur einen Weg nach vorn, zu mehr Miteinander.

Doch man konnte die Lage auch ganz anders deuten. Denn bis zu dem Satz der Kanzlerin, dass »wir Europäer« nun wirklich an der Reihe seien, »unser Schicksal in die eigene Hand« zu nehmen, deutete vor allem aus deutscher Sicht sehr wenig auf eine runderneuerte Liebe zu Frankreich. Im Gegenteil: Deutschland hat den Frankreich-Blues. Schon seit Jahren. Nicht einmal der Wahlsieg Macrons schien daran etwas zu ändern.

Nur ein paar Dutzend Europa-Freunde feierten vor dem Berliner Kanzleramt, als Emmanuel Macron auf seiner ersten Auslandsreise nach Ernennung zum Präsidenten die deutsche Kanzlerin besuchte. Begeisterung herrschte nirgendwo. Schon Tage zuvor feierte kaum jemand in Deutschland den Wahlsieg Macrons. Dabei hatten auch die deutschen Kommentatoren im Falle seiner Niederlage schon den Untergang Europas vor Augen. Gerne malten sie vor den französischen Wahlen das Schreckgespenst einer Stichwahl zwischen der rechtsextremen Marine Le Pen und dem linksextremen Jean-Luc Mélenchon an die Wand. Als wenige Tage vor dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl die Abstände zwischen den vier aussichtsreichsten Kandidaten – Macron, Le Pen, Mélenchon und Fillon – geringer wurden, sah Henrik Müller auf Spiegel Online am 16. April 2017 die Zeit gekommen für einen denkwürdigen Vergleich: Frankreich vermittle den Eindruck eines »Drittweltland[s] in einer schweren Systemkrise«. Mehr noch, Europa könnte mit einer Stichwahl der Extremen »schon in einer Woche in eine existenzielle Krise« taumeln, schrieb Müller weiter in seiner Kolumne. Und Die Welt orakelte am Vorabend der Wahl den Abschied Frankreichs »als europäische Führungsmacht«, käme es denn zum entscheidenden Duell zwischen Le Pen und Mélenchon.

Sorge machte sich unter deutschen Kommentatoren bereits drei Tage vor der Wahl breit, als ein Polizist von einem Islamisten auf den Pariser Champs-Élysées getötet worden war. Das ohnehin schon geringe Vertrauen in die französischen Wähler schien nun gänzlich dahin. Mit einem Wahlsieg Le Pens wäre der »Antieuropäismus im Zentrum der Macht, im Herzen Europas angekommen«, befürchtete der Ressortleiter Außenpolitik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 21. April 2017. Eine solche Vorstellung jage zwar »Frankreichs Partnern einen kalten Schauer den Rücken herunter« – aber sie blieb eine Illusion, der man sich in den Redaktionen der Republik ernsthaft hingab. Am gleichen Tag erklärte Lilith Volkert in der Süddeutschen Zeitung Marine Le Pen zur »zurzeit aussichtsreichste[n] Kandidatin«. Als Grund zog Volkert die Terroranschläge der vergangenen zwei Jahre mit mehr als 230 Toten heran. »Das macht vielen Angst. Und wer Angst hat, glaubt viel leichter falsche Versprechen.«

Doch die deutsche Presse begrüßte Macrons Sieg auch dann noch vorsichtig, als dieser viel höher als erwartet ausfiel. Tatsächlich sahen die meisten deutschen Beobachter in Macron eher einen Matteo Renzi, der nach zwei Jahren über ein Referendum stolpern würde, als einen Barack Obama, dessen Klarsichtigkeit auch nach zwei Amtszeiten die Deutschen noch beeindrucken könnte. Als »neuen Kennedy« hatte die angelsächsische Weltpresse Macron gefeiert. Deutschland winkte hier eher missmutig ab. »Europa ist erleichtert. Zu Recht. Es hätte schlimmer kommen können, das stimmt. Aber Erleichterung bedeutet noch lange nicht Zuversicht, dass sich etwas bessert«, kommentierte Christoph von Marschall im liberalen Tagesspiegel am 8. Mai 2017 die Wahl Macrons. Eine Matrix, deren sich die meisten deutschen Kommentatoren bedienten.

Immerhin, noch am Wahlabend bewertete der Außenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, den Sieg des französischen Newcomers als »feiernswertes Ereignis« und attestierte den knapp 35 Millionen Franzosen an den Urnen »geradezu hohe demokratische Reife« angesichts des »Problembündels«, das sie mit sich trügen. Das war aber auch schon das höchste Maß an Freude, das in der deutschen Presse aufkam. Lieber gab man dem Nachbarn wohlmeinenden Ratschlag mit auf den Weg. »Der Taktiker Macron darf sich nicht abkoppeln. Frankreich braucht einen Energieschub für die politische Mitte«, ergänzte Kornelius. Scheitere Macron mit seinen Reformvorhaben, könne »der französische Spuk jederzeit zurückkommen«, warnte auch der Pariser Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In deutschen Regionalzeitungen ereiferten sich Journalisten: »Macron muss liefern«, schrieben die Kieler Nachrichten. »Macron ist zum Erfolg verdammt«, warnte die Frankfurter Rundschau. Sonst nämlich würde Le Pen 2022 gewinnen. Die anbrechende Präsidentschaft sei eine »Gnadenfrist« für den Nachbarn.

Die New York Times wollte hier weiterhelfen: Macrons Wahlsieg erlaube, an eine Renaissance des deutsch-französischen Idealismus im Herzen von Europa zu glauben, frohlockte ihr alterfahrener Kolumnist Roger Cohen. Doch Cohen, der nicht weltfremde amerikanische Optimist, freute sich allein. In Wirklichkeit fanden sich im Sommer 2017, als dieses Buch in den Druck ging, wenig Anzeichen für jenen so weithin erhofften deutsch-französischen Neuaufbruch in Europa. Das lag am Frankreich-Blues auf beiden Seiten: am mangelnden Vertrauen der Franzosen in sich selbst und ihre Politik, aber auch am Misstrauen der Deutschen gegenüber Frankreich und dessen Politik. Als kämen aus Frankreich immer nur schlechte Nachrichten. Als hätte man den französischen Freunden – und diese sich selbst – wirklich zugetraut, statt Macron die ultranationalistische Marine Le Pen zur Präsidentin zu wählen. Schöne Freunde wären das gewesen! Man hätte mit ihnen nichts mehr zu tun haben wollen. Man hätte in guter deutscher Stube französischen Käse und Wein boykottiert.

Die deutsche Kanzlerin aber hätte schon zu diesem Zeitpunkt ganz anders reagieren können. Die Deutschen hätten den Wahlsieg des glühenden Pro-Europäers Macron wie einen eigenen Sieg feiern können. Der junge, frisch gewählte französische Präsident und die erfahrene, weltweit hoch angesehene deutsche Bundeskanzlerin hätten der Idee der europäischen Einigung anschließend neues Leben einhauchen können. Sie hätten Macrons Vorschlag eines »New Deal« für Europa mit neuen Ankündigungen Flügel verleihen können. Sie hätten gemeinsam alle europäischen Hauptstädte besuchen können. Vielleicht wäre dann ein Funke übergesprungen, der Funke einer erneuerten Freundschaft und gemeinsamen Wehrhaftigkeit von Franzosen und Deutschen angesichts von Brexit, Trump und neuem, überall grassierendem Nationalismus.

Mag sein, dass im Herbst 2017 genau das folgt. Wie zuvor in der Atom- und Flüchtlingspolitik könnte die Kanzlerin eine Wende in ihrer Frankreich-Politik vollziehen. Ich hoffe das. Und nicht einmal der pragmatische Londoner Economist schloss eine solche Wende völlig aus. Der Wahlsieg Macrons könnte ein Teil der Lösung sein, schrieb das britische Magazin am 11. Mai 2017 über die blockierten Gespräche innerhalb der Eurozone über eine Vertiefung der europäischen Währungsunion. Mit dem nüchternen Blick des Unbeteiligten erkannte der Economist in den Vorschlägen Macrons die Chance zum Weiterkommen. Der nämlich wollte Deutschland einerseits nicht für die vergangenen Schulden der Euroländer zur Kasse bitten, andererseits aber von Deutschland neue Verpflichtungen für auf mehr soziale Gerechtigkeit in Europa zielende Investitionen verlangen. Für die Briten ein zukunftstragender Kompromiss, dessen Notwendigkeit, so der Economist, inzwischen sogar Angela Merkel erkannt haben könnte. Ihre Truderinger Rede lasse sich nämlich auch als Einstimmung für die Deutschen auf große Zugeständnisse an Frankreich und Europa lesen.

Doch es kann auch schnell ganz anders kommen, und die Erkenntnis, im Angesicht von Trump zusammenstehen zu müssen, kann schnell wieder verblassen. Tatsächlich waren viele Franzosen nach der Wahl Macrons zu ihrem neuen Präsidenten vielleicht zum ersten Mal wirklich enttäuscht von der Kanzlerin. Von all ihren zahlreichen Präsidentschaftskandidaten hatten sie doch jenen gewählt, der im Gegensatz zu allen anderen sogar im Wahlkampf nur Gutes über Deutschland, die Deutschen und ihre Kanzlerin sagte. »Schlecht, sehr schlecht«, urteilte US-Präsident Donald Trump auf seiner Europareise im Mai 2017 über die deutsche Politik. »Gut, sehr gut«, schien dagegen Emmanuel Macron zu sagen – obwohl auch er einmal, wie Trump es ständig tat, die deutschen Handelsüberschüsse aufs Korn nahm. Allerdings war das bei ihm leicht zu überhören, denn er unterstützte Merkels Flüchtlingspolitik und pries die Kanzlerin dafür in höchsten Tönen. Er zog mit Europa-Fahnen in den Wahlkampf, nicht nur mit der Trikolore wie seine Konkurrenten. Er spielte im Wahlkampf mit voller Kraft den europäischen Verbündeten und bekam für sich und die europäische Sache eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

Umso weniger konnten manche Franzosen verstehen, wie wenig spontanen Anklang Macron in Deutschland fand. »Warum seid ihr so hart zu ihm?«, fragte mich der renommierte Pariser Konzeptkünstler Olivier Bardin, nachdem er am Tag von Macrons erstem Besuch als Präsident bei der Kanzlerin den Bericht des Deutschland-Korrespondenten im ersten französischen Fernsehen TF1 gesehen hatte. Der hatte sich für seinen Bericht vor blauem Berliner Himmel mit dem damals aktuellen Spiegel in der Hand filmen lassen: »Teurer Freund – Emmanuel Macron rettet Europa und Deutschland soll zahlen«, übersetzte das Fernsehen dem französischen Publikum. »Wir verlangen doch kein Geld von Deutschland«, wunderte sich der Künstler Bardin, der wie die meisten Franzosen kein Deutschland-Kenner ist und doch immer ein Auge auf das deutsch-französische Verhältnis wirft. Denn es ist ihm wichtig. So wie ihm im Alltag sein gutes Verhältnis zu seiner Frau und seinem vierjährigen Sohn wichtig sei, so sei ihm in der Politik das gute Verhältnis seiner Regierung zu Deutschland wichtig, erklärte Bardin. Nun aber hatte mein guter Freund in zwei Wahlgängen Macron gewählt und geglaubt, damit etwas für Europa und die guten Beziehungen zu Deutschland getan zu haben. Stattdessen bekam er zu hören, sein Land und sein neuer Präsident wollten nur mehr Geld von Deutschland. Wie ihm ging es vielen Franzosen. Sie verstanden die deutsche Reaktion nicht und sahen darin kein Signal für einen neuen gemeinsamen Aufbruch.

Ähnliche Botschaften verbreiten deutsche Politiker und Kommentatoren bereits seit Jahren über Frankreich: Kommt endlich in die Socken! Baut eure Schulden ab! Streicht die 35-Stunden-Woche! Verzichtet auf liebgewonnene Gewohnheiten, spart euch den Wein am Mittagstisch und arbeitet wie andere auch! Dann werden sich eure leeren Staatskassen wieder füllen. Dann können wir auch wieder mit euch zusammenarbeiten. Das meiste davon scheint dabei eher als verstecktes Selbstlob für deutsche Ohren bestimmt zu sein, denn wenig davon kommt beim breiten Publikum in Frankreich an. Was auch den scheinbaren Widerspruch erklärt, dass deutsche Politiker kritisch über Frankreich reden, das Image Deutschlands in Frankreich aber dennoch bisher kaum leidet.

Schon länger hat sich im politischen Alltag der Berliner Republik eine neue Sprachregelung gegenüber Frankreich durchgesetzt: Paris befinde sich nicht mehr »auf Augenhöhe« mit Berlin, ist in den politischen Kreisen der Hauptstadt zu hören. Es ist die Umkehrung einer alten These des deutschen Historikers Heinrich August Winkler, der einmal behauptete, es sei von größter Bedeutung für Europa, dass sich Deutschland und Frankreich auf Augenhöhe begegneten. Doch davon ist nun keine Rede mehr. »Frankreich, neben Deutschland die stärkste Macht der EU, ist arg von Problemen gebeutelt, wirtschaftliche Schwäche, Streik, Terror. Das stolze Land schafft es derzeit nicht, auf Augenhöhe mit Deutschland Kraftzentrum Europas zu sein«, beobachtete Dirk Kurbjuweit in einem Spiegel-Essay im Frühjahr 2016. Er drückte da noch vorsichtig aus, was seither die Spatzen von den Dächern pfeifen.

Vorbei die Zeiten eines gleichberechtigten Paares! Was bilden sich die Franzosen ein, über Griechenland mitreden zu wollen, wenn sie nicht einmal selbst die Kriterien des europäischen Stabilitätspaktes einhalten? Was kann Deutschland noch von ihnen lernen, wenn nicht einmal Fukushima sie bewegt, ihre veralteten Atomkraftwerke runterzufahren? So einig, wie sich linke und rechte Franzosen bis heute im Respekt vor Deutschland unter der Kanzlerschaft Merkels sind, so herablassend beurteilten linke und rechte Deutsche gleichermaßen das Frankreich der Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande. Nicht viel Gutes hörte man in deutschen Intellektuellenkreisen in diesen Jahren über Frankreich. Deutsche Politiker reisten nur noch selten außerhalb der Pflicht nach Paris. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer war einer der wenigen, der aus der Reihe fiel, immer wieder in Paris das Gespräch mit Freunden suchte und nie aufhörte, Frankreichs unveränderte Führungsrolle in Europa zu betonen. Doch gerade seine Generation, die deutschen 68er, die doch in Frankreich einst Freiheit und Lebenskunst entdeckt hatten, schien im Alter den Nachbarn den Rücken zu kehren.

In Wirklichkeit bedarf es einer neuen, alltäglicheren, um nicht zu sagen: pragmatischeren Liebe zu Frankreich. Einer Beziehung, die ohne große historische Vorbilder wie Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir auskommt.

Oh, was habe ich die beiden verehrt, als ich in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts erst als Sühnezeichen-Freiwilliger und später als taz-Korrespondent in Paris lebte. Sartre hatte noch in den siebziger Jahren die Tageszeitung Libération in Paris mitbegründet. Sie war viele Jahre das große Vorbild der taz. De Beauvoir starb, als ich gerade bei der tageszeitung angeheuert hatte. Ich nahm an ihrem Begräbnis teil und sprach mit ihren feministischen Freundinnen, die auf dem kleinen Sofa des winzigen taz-Büros in Tränen ausbrachen – und ich sprach mit der feministischen Theoretikerin Luce Irigaray, die de Beauvoir kritisierte. Dabei war eines klar: Frankreich hatte den modernen Feminismus erfunden, vorgelebt und auch schon selbst wieder hinterfragt. Was ich als junger Journalist, der von der Geschichte des Feminismus keine Ahnung hatte, aus dem Umfeld de Beauvoirs an die taz berichtete, wurde von den von der 68er-Revolte geprägten Feministinnen der Berliner taz-Redaktion mit unglaublicher Hingabe und Dankbarkeit aufgenommen und abgedruckt. Das entsprach dem Zeitgeist. Frankreich machte vor, die Deutschen machten es nach. Als sich damals der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl im September 1984 über den Gräbern von Verdun die Hände reichten, war man selbst als linksalternativ angehauchter junger Deutscher, dessen Bild von Kohl durch zahlreiche Karikaturen geprägt war, stolz auf den Kanzler. Denn er, der konservative CDU-Vorsitzende, hatte das Vertrauen des Linkssozialisten Mitterrand gewonnen. Das rechnete man ihm hoch an.

Heute ist es umgekehrt. Französische Präsidenten können an der Seite Merkels glänzen. Die Kanzlerin ist in Frankreich längst angesehen genug, um das Bild des eigenen Präsidenten aufwerten zu können. Mit einer gleichberechtigten Beziehung hat freilich weder die jüngere Vergangenheit noch die Gegenwart viel zu tun. Dabei bietet sich ein gleichberechtigtes Miteinander durchaus an. Niemand zweifelt an der wirtschaftlichen Überlegenheit Deutschlands gegenüber Frankreich. Niemand zweifelt an der militärischen Überlegenheit der Atommacht Frankreich gegenüber Deutschland. Gesellschaftlich ist dagegen vieles vergleichbar. Deutsche beneiden Franzosen um ihre gute Kinderversorgung. Franzosen beneiden Deutsche um ihren besseren Sprachunterricht an den Schulen. Franzosen fahren heute genauso gern auf einen Städtetrip nach Berlin wie die Deutschen nach Paris. Jeder kennt Vor- und Nachteile der jeweils anderen Bäckereien. Jeder weiß, dass die politischen Vertreter der anderen Seite Fehler machen, aber im Prinzip vertrauenswürdig sind. Also: Man respektiert sich am Rhein!

Nur die Politik müsste noch entdecken, dass Gleichberechtigung tatsächlich funktioniert. Das ist sie nicht gewohnt, stattdessen herrscht das ewige Machtspiel, immer noch, auch zwischen Paris und Berlin. Es war gerade in den letzten Jahren beschämend – für beide Seiten.