Merkels Frankreich-Blues der letzten Jahre ist im Grunde nicht überraschend, er ist auch kein Sonderfall der Geschichte. Viele ihrer Vorgänger haben ihn auch gehabt. Denn immer wieder zeichnen sich bedeutende Franzosen und bedeutende Deutsche durch ihre Wankelmütigkeit im Verhältnis zum Nachbarn aus. Gerhard Schröder und Willy Brandt zählen auf deutscher Seite dazu. Es gab Zeiten, da glaubten sie wie Merkel, dass Frankreich nicht so wichtig sei. Auch die französischen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy waren nicht immer sehr begeistert von Deutschland.
Doch es lohnt sich, erst einmal weiter zurückzuschauen. Im 18. Jahrhundert gab es mit Voltaire und Friedrich dem Großen das erste bedeutende deutsch-französische Politikerpaar der Moderne. Vierzig Jahre lang standen sie miteinander in Kontakt. Friedrich im ländlichen Preußen war fasziniert vom freien, weltlichen Pariser Geist Voltaires. Er führte mit dem Philosophen der französischen Aufklärung eine lange Briefkorrespondenz über Literatur, Politik, Geschichte und Religion. Voltaire wiederum schätzte den deutschen Protestantismus und erkannte in ihm eine Quelle unabhängigen Denkens. Er sah in Friedrich einen aufgeklärten, disziplinierten, moralisch integren Monarchen, wie er ihn im absolutistischen Frankreich zu seiner Lebenszeit nicht fand.
1740 kreuzten sich in Kleve die Wege Voltaires und Friedrichs, der soeben König geworden war, zum ersten Mal, doch erst zehn Jahre später hatten beide die Gelegenheit, sich persönlich kennenzulernen. Als Voltaire ab dem Sommer 1750 mehr als zwei Jahre bei Friedrich in Potsdam verbrachte, verblasste die gegenseitige Hochachtung allerdings schnell. Einmal geriet Friedrich über Voltaires unsaubere Geschäfte mit Wertpapieren und Juwelen in große Aufregung. Da hatte Friedrich seinen ersten Frankreich-Blues: Er konnte nicht verstehen, dass ein so großer Denker wie Voltaire finanziell so unseriöse Dinge unternahm. Ein Konflikt, dessen Kern man auch heute beobachten kann. Jedes Mal, wenn in den vergangenen Jahren deutsche Politiker ihre französischen Kollegen zum Einhalten der Finanzkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mahnten, nahm es den Anschein, als spielte dabei Friedrichs alter Verdacht gegen den finanziellen Leichtsinn des französischen Überfliegers Voltaire eine historisch legitimierende Rolle.
Umgekehrt war Voltaire über Friedrich empört, als dieser einem renommierten Forscher am preußischen Hofe, dem damaligen Präsidenten der Berliner Akademie, größere wissenschaftliche Verdienste zusprach, als ihm angemessen erschien. Voltaire verstand von der Sache mehr als der König. Also machte er sich in einer Schrift über den königstreuen Akademiepräsidenten lustig – Friedrich der Große aber ließ daraufhin die Schrift Voltaires verbrennen.
Auch dieses Urbeispiel eines deutsch-französischen Politikstreits findet bis heute seine Nachahmer. Gerne unterstellen Franzosen den Deutschen einen Hang zu maßloser Disziplin und Unterwürfigkeit. Tatsächlich fällt es den Deutschen manchmal schwer, von einer einmal für richtig befundenen Auffassung abzuweichen. Statt den eigenen Fehler anzuerkennen, bevorzugen sie lieber radikale Lösungen. So etwa bei den Verhandlungen im Sommer 2015, als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Griechen mit dem Rauswurf aus der Eurozone drohte.
Wie Friedrich der Große war auch Wolfgang Schäuble immer ein großer Frankreich-Verehrer. Wie im Fall Friedrichs des Großen hielt das Schäuble aber auch nicht davon ab, deutsches Denken mit aller Macht gegen Frankreich durchzusetzen. Friedrich ließ Voltaire am Ende sogar für eine Woche unter Hausarrest stellen. Das war im Mai 1753. Mehr als zweihundert Jahre später sagte Charles de Gaulle immer noch: »Einen Voltaire verhaftet man nicht!« Ein Satz, der dem Existentialisten und Schriftsteller Jean-Paul Sartre galt. Als dieser auf dem Höhepunkt des Algerienkrieges die französischen Soldaten zur Gehorsamsverweigerung aufrief, wurde General de Gaulle nahegelegt, Sartre verhaften zu lassen. De Gaulle antwortete angeblich: »Das ist unmöglich, Sartre ist Frankreich – einen Voltaire verhaftet man nicht.« Schäubles Versuch, die Griechen aus der EU zu werfen, könnte uns ähnlich lange nachhängen.
Ein halbes Jahrhundert nachdem Voltaire und Friedrich aneinandergerieten, eroberte Napoleon Deutschland. Trotzdem sprach Johann Wolfgang von Goethe später wohlwollend über diese Zeit: »Unter uns, ich hasste die Franzosen nicht (…). Wie hätte auch ich (…) eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte.«
Goethe gab sich also zunächst einmal großzügig gegenüber den französischen Besatzern, auch weil sie die Nachkommen Voltaires und anderer großer Aufklärer waren. Die nämlich hatte er als Frankfurter Student mit der gleichen Begeisterung verschlungen, wie die globalisierte Studentenschaft unserer Zeit kürzlich das Aufklärungswerk des Franzosen Thomas Piketty über Das Kapital im 21. Jahrhundert entdeckte.
Doch selbst Goethes Solidarität mit Frankreich hielt der Zeit nicht stand. Auch er hatte am Ende seines Lebens den Frankreich-Blues. Sogar von Voltaire sagte er sich los: »Sie haben keinen Begriff von der Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeitgenossen in meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt beherrschten. Es geht aus meiner Biografie nicht deutlich hervor, was diese Männer für einen Einfluss auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen sie zu wehren und mich auf eigene Füße in ein wahreres Verhältnis zur Natur zu stellen«, sagte Goethe in seinen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann.
150 Jahre später waren es die deutschen 68er, die im Verhältnis zu Frankreich eine ähnliche Verwandlung durchmachten wie seinerzeit Goethe. Erst waren sie begeistert von den Revolten in Paris, vom Generalstreik der Franzosen und ihren Massendemonstrationen, die in Deutschland ihresgleichen suchten. Sie entdeckten damals viele neue Ideen in Frankreich: Existentialismus, Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus, Postmodernismus, Feminismus – so wie einst Goethe die Gedanken der Französischen Revolution. Doch später wandten sich die deutschen 68er von Frankreich ab, um es wörtlich mit Goethe zu halten: Sie wehrten sich, stellten sich »auf eigene Füße in ein wahreres Verhältnis zur Natur«. Allen voran die deutschen Grünen beanspruchten das mit ihrer Atomkritik, die in Frankreich bis heute nicht verstanden wird.
Das »wahrere Verhältnis zur Natur« glauben aber auch deutsche Feministinnen erreicht zu haben, in deren Augen die französischen Frauen den Dreh zu einem flexibleren Umgang mit Beruf, Familie und Kind nicht geschafft haben. Das ist im heutigen Frankreich wirklich ein Problem: Frauen wählen so gut wie nie eine natürliche Geburt, sie stillen ihre Kinder schnell ab, sie bringen ihre Kinder meist schon nach dem Mutterschutz von drei Monaten in die Krippe und ordnen so vieles, was für eine große Zahl deutscher Frauen undenkbar wäre, dem Beruf unter. Das entspringt einem in Deutschland heute eher als altmodisch empfundenen Feminismus, der vor allem auf die materielle Unabhängigkeit vom Mann setzt. Doch die französische Philosophin Elisabeth Badinter, eine Schülerin Simone de Beauvoirs, dominiert diese Debatte in Frankreich immer noch nach Belieben. Wehe, die Zahl der stillenden Mütter in Frankreich steigt leicht an, sofort interveniert Badinter gegen die Lehre von der »reinen Ökologie« als Gefahr für die Frauenrechte. Deutsche Feministinnen, die eher den Grünen nahestehen, können das kaum nachvollziehen und sind deshalb wie viele deutsche Atomgegner nicht immun gegen den Frankreich-Blues.
Überhaupt gab es stets nur wenige auf deutscher Seite, deren Frankreich-Überzeugung nicht nur eine Lebensphase währte, sondern ein Leben lang hielt. Heinrich Heine zählte zu diesen Ausnahmeerscheinungen.
Wo Goethe trotz aller anfänglichen Achtung vor den französischen Besatzern »Gott dankte, als wir sie los waren«, da erkannte Heine 1836 in seiner Vorrede »Über die Denunzianten« in Frankreich nur eines: »Frankreich ist jetzt unser natürlicher Bundesgenosse. Wer dieses nicht einsieht, ist ein Dummkopf, wer dieses einsieht und dagegen handelt, ist ein Verräter.«
Mit Heine kam in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein neues europäisches Denken auf: »Täglich verschwinden mehr und mehr die törichten Nationalvorurteile, alle schroffen Besonderheiten gehen unter in der Allgemeinheit der europäischen Zivilisation, es gibt jetzt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien, und es ist ein wundersamer Anblick, wie diese (…) trotz der vielen Sprachverschiedenheiten sich sehr gut verstehen«, schrieb Heine im Jahr 1828. Es liest sich wie ein Manifest aus den Jahren Jacques Delors’ als Kommissionspräsident in Brüssel, als die Europäische Union, so wie sie heute besteht, gegründet wurde. Ihm wohnt bereits der Geist inne, der seit 1987 das von Delors angestoßene Erasmus-Programm trägt: Millionen Studenten, die europaweit ihre Studienplätze wie selbstverständlich wechseln, »gehen unter in der Allgemeinheit der europäischen Zivilisation«. Doch Heine war nicht nur Optimist. »Für die Nachbarländer ist nichts wichtiger, als sich zu kennen. Irrtümer können hier die blutigsten Folgen haben«, schrieb er in weiser Voraussicht deutsch-französischer Kriege, die noch folgen sollten.
Sicher, das klingt für uns heute weit hergeholt: Um unmittelbar blutige Folgen geht es derzeit nicht, wenn sich Macron und Merkel treffen. Doch es geht um folgenschwere Irrtümer. Die kann es immer geben. Zumal wenn Franzosen und Deutsche immer noch so unterschiedliche Mentalitäten aufweisen, von denen schon Heine berichtete: »Sie gehen jeder Frage direkt auf den Leib und zerren daran solange herum, bis sie entweder gelöst oder als unauflösbar beseitigt wird. Das ist der Charakter der Franzosen. Der Deutsche, aus Scheu vor aller Neuerung, deren Folgen nicht klar zu ermitteln sind, geht jeder bedeutenden politischen Frage so lange wie möglich aus dem Wege, oder sucht ihr durch Umwege eine notdürftige Vermittlung abzugewinnen, und die Fragen häufen und verwickeln sich unterdessen.«
Heines Charakterisierung von Franzosen und Deutschen aus seinem Frankreich-Werk Lutetia lässt sich erschreckend leicht auf die Gegenwart übertragen. Die Franzosen, so schien es im Wahljahr 2017, rückten der großen Europa-Frage unserer Zeit direkt auf den Leib: Ja oder Nein? Wollen wir mehr oder weniger Europa? Macron oder Le Pen? Die Antwort der Franzosen lautete: Ja, mehr Europa, also Macron. Die Deutschen dagegen schienen der bedeutendsten politischen Frage des Wahljahres 2017 geflissentlich aus dem Weg gehen zu wollen: Sie scheuen, wie schon Heine schreibt, Neuerungen. Mehr Europa könnte teuer werden; Macron könnte ein teurer Freund sein, wie der Spiegel warnte. Also vermied Merkel Festlegungen vor der Wahl. Sie ging, um mit Heine zu sprechen, der bedeutenden politischen Frage so lange wie möglich aus dem Wege. Aber in der Zwischenzeit »häufen und verwickeln sich« die Fragen. Gut möglich, dass Heine hier die Zukunft von »Mercron« vorhersagt, so wie er schon die Kriege zwischen Frankreich und Deutschland prophezeite.
Heines Engagement war unermüdlich. »Es war die große Aufgabe meines Lebens, an dem herzlichen Einverständnis zwischen Deutschland und Frankreich zu arbeiten«, schrieb er zum Ende seines Lebens. Erstaunlich ist, wie wenig Nachfolger er bis heute hat, denen man wirklich die deutsch-französische Sache als höchste Lebensaufgabe abnehmen kann. Im auf Heine folgenden Zeitalter der deutsch-französischen Kriege findet sich da keiner.
Eine Ausnahme bildete vielleicht der überzeugte Pazifist und französische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, der in seinem zehnbändigen Romanfresko Jean-Christophe bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegen die tief verankerte Erzählung des »Erbfeindes« anschrieb und, im Gegensatz zu ihr, für eine dauerhafte deutsch-französische Freundschaft plädierte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg könnten es Jean Monnet und Robert Schuman auf französischer Seite sein. Sie erkannten die Aussöhnung mit Deutschland als zentrale Aufgabe an. Doch Monnet war eher der Typ Global Player, er war von Haus aus Unternehmer und Manager, schon in den dreißiger Jahren war er stellvertretender Generalsekretär des Völkerbunds. Auf ihn gründet jene politische Theorie »der Dynamik in kleinen Schritten von nachhaltiger Bedeutung«. Man nennt sie die Methode Monnet. Sie diente als Wegbereiter der Europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch in Deutschland sind deshalb viele Straßen nach Jean Monnet benannt. Die deutsch-französische Aussöhnung war für ihn ein willkommenes Ergebnis seiner Methode, aber nicht sein wichtigster Lebensinhalt.
Anders lag der Fall bei Robert Schuman. Er war ein würdiger Nachfolger Heines. Er lebte wie der deutsche Dichter in beiden Ländern: Bis zu seinem 33. Lebensjahr war er Deutscher – da das Deutsche Reich unter Bismarck 1871 Elsass-Lothringen annektiert hatte, wo Schuman aufwuchs und 1912 eine Rechtsanwaltskanzlei gründete. Doch als Elsass-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg zurück an Frankreich fiel, bekam Schuman im Jahr 1919 die französische Staatsangehörigkeit. 1928 wurde er Abgeordneter, später Vize-Präsident des französischen Parlaments, bis ihn die Gestapo 1941 verhaftete. Sein Grenzgängertum befähigte ihn nach dem Zweiten Weltkrieg wie keinen anderen, für beide Nationen, für Frankreich und Deutschland zu sprechen. Nach ihm wurde nicht umsonst der entscheidende, von Monnet verfasste Plan benannt, der Europas Einigung auf den Weg brachte. Der Schuman-Plan sah die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vor, die sich später als Keimzelle der EU entpuppte. »Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird«, sagte Schuman als französischer Außenminister in seiner historischen Erklärung vom 9. Mai 1950 zur Gründung der EGKS in Paris. Bis zu seinem Lebensende dreizehn Jahre später blieb er ein unbeirrbarer Vertreter dieser Idee. Schumann bekam dafür alles, was Deutschland an Ehren zu bieten hatte – Karlspreis, Erasmuspreis und als höchsten Verdienstorden das Großkreuz –, und vom Papst den Piusorden. Schuman war damals eine Art weltliche Heiligengestalt, die das nach der Erbfeindschaft Undenkbare möglich machte. Die historischen Umstände nach dem Zweiten Weltkrieg trugen ihm diese einmalige Rolle zu. Nach seinem Tod neu zu besetzen aber war diese Rolle nicht. Schon bald fand Heine wieder keinen Nachfolger.
Die Intellektuellen der Zeit hatten wichtigere Aufgaben. Sie mussten die Kriegsursachen erklären und erachteten größere Dinge als das Klein-Klein des deutsch-französischen Nachbarschaftsstreits für relevant. Noch im amerikanischen Exil befasste sich Theodor W. Adorno mit der Konvergenz zwischen »europäischem Faschismus und der amerikanischen Unterhaltungsindustrie«. Dem deutschen Vater der 68er-Revolte graute davor mehr als vor einem neuen deutsch-französischen Konflikt. Ebenso der große Nachkriegsphilosoph auf französischer Seite: Jean-Paul Sartre erfand den Existentialismus als Antwort auf die scheinbar unbezwingbaren (Kriegs-)Mächte des Kapitalismus. Sartre gab mit seiner Theorie dem Einzelnen Freiheit und Verantwortung zurück, ohne damit dem Kampf der Linken gegen den Kapitalismus abzuschwören. Ganz im Gegenteil: Er engagierte sich in der Kommunistischen Partei Frankreichs und führte 1968 die Studentenrevolte in Paris an. Zur gleichen Zeit lehnte Adorno in Frankfurt die radikalen Forderungen seiner linken Studenten ab. Dennoch einte Sartre und Adorno mehr, als sie vielleicht dachten: Sie blieben Großdenker. Das Deutsch-Französische war ihnen eine Nummer zu klein. Das überließen sie den von ihnen scharf kritisierten Staatsführern de Gaulle und Adenauer.
De Gaulle und Adenauer hatten gemeinsam nur fünf Jahre, von der Ernennung des Generals zum Ministerpräsidenten 1958 bis zur Abdankung des Kanzlers 1963. Doch diese nutzten sie. Sie entwickelten bald eine voll belastbare politische Freundschaft, die auf einer persönlichen Einladung de Gaulles an Adenauer in sein Landhaus in Colombey-les-Deux-Églises im September 1958 gründete. Sie kamen sich über ihre vergleichbaren bürgerlichen Familiengeschichten am Ende des 19. Jahrhunderts näher und über den gemeinsamen katholischen Glauben. Es half, dass Adenauer kein Nazi gewesen war. Er sei ein guter, kein böser Deutscher, versicherte de Gaulle seiner Köchin in Colombey bereits beim ersten Treffen. Das diente auch der Selbstvergewisserung: Denn de Gaulle machte damals den größeren Schritt. Er hatte Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg jahrelang und unter Einsatz seines Lebens als Soldat und Widerstandsführer bekämpft. Adenauer war dagegen nie im Krieg gewesen und bemühte sich schon zwischen den Weltkriegen als Bürgermeister von Köln um ein besseres Verhältnis zu Frankreich. Er war insofern auf seine Rolle als Versöhner bereits vorbereitet. Doch egal, wer zu Beginn ihrer Beziehung mehr wagte, der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von 1963 war ihr gemeinsames Werk. Beide hatten die historische Tragweite der Methode Monnet und des Schuman-Plans begriffen und gossen das Werk der zwei Vorbereiter mit dem Freundschaftsvertrag in einen festen, dauerhaften bilateralen Rahmen. Erst dieser Vertrag begründete das deutsch-französische Jugendwerk, den regelmäßigen Schüleraustausch und viele Städtepartnerschaften. Erst jetzt mussten sich deutsche und französische Regierungen regelmäßig treffen und konsultieren.
Das ist heute alles Alltag, aber im weltweiten Vergleich immer noch einmalig. Wobei der Vertrag mit Sicherheit ein entscheidender Grund bleibt, warum heute nicht gleich alles anbrennt, wenn sich zwei Politiker wie Hollande und Merkel nicht verstehen. Denn der Schüleraustausch und die Städtepartnerschaften funktionieren ja. Vielleicht mit weniger überwältigender Begeisterung als früher, aber der Kontakt zwischen den Völkern, nicht nur zwischen den Politikern, bleibt bestehen. Auch arte, der Fernsehsender, der Ende der achtziger Jahre auf Initiative dreier deutscher Ministerpräsidenten und mit Unterstützung Kohls und Mitterrands gegründet wurde, trägt regelmäßig dazu bei, dass wir die Sichtweisen des Anderen am Rhein wahrnehmen und nachvollziehen können.
Zugleich aber lässt einen der Rückblick auf die fünf gemeinsamen Jahre de Gaulles und Adenauers auch ein wenig erschrecken. Man denkt ja, sie hätten eine Epoche zusammen geprägt. Aber es war nur für eine kurze Zeit. Fünf Jahre, die gerade erst auch Hollande und Merkel zusammen hatten und für so gut wie keine gemeinsame Anstrengung nutzten. Fünf Jahre, in denen ein schlechtes Präsidenten-Kanzler-Paar in Zukunft vielleicht genau so viel kaputt machen könnte, wie de Gaulle und Adenauer einmal aufgebaut haben. Ihre Nachfolger unterlagen jedenfalls immer wieder der Versuchung, das deutsch-französische Einigungswerk zu beschädigen. Viel häufiger, als man gemeinhin denkt, weil ja bisher, gerade jetzt wieder mit »Mercron«, letztlich alles gutzugehen scheint.
Doch schon Monate nach Verabschiedung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Bundestag im Juli 1963 wurde der Vertrag wieder auf Eis gelegt. Denn in Deutschland folgte Ludwig Erhard auf Konrad Adenauer. Und damit herrschte schon wieder Funkstille zwischen Paris und Bonn. Erhard und de Gaulle hatten ein unterkühltes Verhältnis. Schon ihr erstes Gespräch sei »schroff, um nicht zu sagen unhöflich verlaufen«, erinnerte sich Mitte der sechziger Jahre Pierre Viansson-Ponte, Politik-Chef von Le Monde, in einem Gastbeitrag für die Zeit. Symptomatisch ist auch ein Bild nach einem Treffen Erhards und de Gaulles in Bonn im Juli 1964: Beide schauten sich nicht an, sondern blickten stattdessen mit, man möchte meinen, fast gequälter Miene auf den Boden. Der Spiegel kommentierte damals, Erhard habe ein »zeitgenössisches Schlachtengemälde« entworfen. »Ein redliches Ringen um glückliche Lösungen«, soll das Resümee des Kanzlers zu seinem Gespräch mit de Gaulle gelautet haben.
Erhard bestand auf dem Vorrang der deutschen Westbindung an die USA und die Nato. De Gaulle war aus der Nato ausgetreten und wollte ein von den USA unabhängiges Europa. »Jetzt hält er sich noch für einen Cowboy!«, soll de Gaulle die Bilder vom ersten Besuch Erhards bei US-Präsident Lyndon Johnson in den USA kommentiert haben. In de Gaulles Vorstellungswelt wäre eine tiefgehende Annäherung an den transatlantischen Partner schlichtweg einer Entmachtung Frankreichs gleichgekommen. »Wir haben uns in den vergangenen sieben Jahren für die Unabhängigkeit entschieden«, verkündete der General in einer langen Fernsehansprache im April 1965. »Es gibt nun eine Politik für Frankreich, und die wird in Paris gemacht!« Darüber hinaus lastete bis zu de Gaulles Rücktritt die Causa Britannica auf dem deutsch-französischen Verhältnis: Zum starken Missfallen der deutschen Kanzler Erhard und Kiesinger hatte sich der französische Präsident stets mit seinem Veto gegen die europäischen Befürworter eines Beitritts Großbritanniens in die damalige EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) durchgesetzt.
Wenige Jahre später kamen sich De-Gaulle-Nachfolger Georges Pompidou und der erste sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Willy Brandt auch nicht richtig näher. Denn so wie Erhard das Bündnis mit den USA wichtiger als die Beziehung zu Frankreich gewesen war, so favorisierte Brandt nun die Ostpolitik, die Annäherung an die Sowjetunion, Osteuropa und die DDR. Bald kamen im Élysée-Palast Befürchtungen auf, Brandt strebe eine rasche deutsche Wiedervereinigung an. Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, richtig war aber, dass Brandts Prioritäten nicht in Paris lagen. Entsprechend fühlte sich Pompidou zurückgesetzt, der als Premierminister an der Seite de Gaulles noch viel zum Gelingen des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages beigetragen hatte. »Die Situation in Paris war ein bisschen, ich sage mal zwiespältig, um es milde zu sagen«, beschrieb Egon Bahr, der wichtigste außenpolitische Berater Brandts, 2006 in einem Interview die Reaktion im Élysée-Palast auf die Ostpolitik des deutschen Kanzlers.
Doch außer den Verstimmungen auf außenpolitischer Ebene prallten Brandt und Pompidou auch bei der Frage, wie und bis wohin man die EWG zu einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ausbauen sollte, aneinander. Ein Projekt, das beim ersten gemeinsamen Gipfel in Den Haag im Dezember 1969 beschlossen wurde und von dem sich Brandt viel erhofft hatte. In einer Regierungserklärung bezeichnete er den Werner-Plan, der in Folge des Gipfels entworfen wurde, als Magna Charta der Gemeinschaft. Pompidou hingegen befürchtete, dass die eigene französische Wirtschaft zu viel Liberalismus nicht standhalte. Drei Jahre lang war sie immer wieder Gesprächsthema der beiden Staatenlenker. Am Ende stand ein Kompromiss, der, so die Historikerin Claudia Hiepel, »davon lebte, dass die kontroversen Fragen ausgelassen wurden«.
So hatten gleich drei deutsche Kanzler nacheinander, Erhard, Kiesinger und Brandt, den Frankreich-Blues. Gut, dass nach ihnen Helmut Schmidt kam: Endlich wieder einer, der voll auf das Bündnis mit Paris setzte, endlich wieder ein Monnet-Fan. Wobei es hilfreich war, dass Schmidt 1974 fast gleichzeitig mit seinem ihm schon zuvor vertrauten Freund Valéry Giscard d’Estaing an die Macht gekommen war.
Giscard und Schmidt verbrachten sieben Jahre zusammen an der Spitze beider Länder. Sie waren sich in dieser Zeit bis in viele politische Details einig. Gleich zu Beginn räumte Giscard einen Zankapfel vorheriger Präsidenten-Kanzler-Paare aus dem Weg: Die deutsche Außenpolitik musste sich nicht länger entscheiden, ob sie verstärkte Beziehungen zu Paris oder Washington unterhalten wollte. Beides war möglich. Schmidt und Giscard, das waren zwei überzeugte Europäer und zwei analytische Realisten. Wo de Gaulle und Adenauer noch ihre Mitarbeiter für das politische Alltagsgeschäft einsetzten, arbeiten nun erstmals ein französischer und ein deutscher Regierungschef persönlich Hand in Hand. Sie sahen sich viel häufiger, als im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vorgesehen war. Sie telefonierten oft, hatten ständig neue Ideen: erst die Einrichtung der G7, dann die Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS) als Antwort auf die Ölkrise und das Ende des Bretton-Woods-Währungssystems. Später die allgemeinen Wahlen zum Europaparlament, die sie noch in ihrer gemeinsamen Regierungszeit 1979 veranlassten.
Dabei war der Hamburger Schmidt eigentlich ein Anglophiler. Er sprach mit Giscard englisch, sein Französisch reichte nicht, während Giscard fließend Deutsch konnte. Doch sie hatten beide die Monnet-Methode verinnerlicht: kleine, nachhaltige Schritte. Und sie waren beide von Haus aus zupackende Wirtschaftspolitiker. Sie zögerten mit ihren Entscheidungen nicht, glaubten zu wissen, was funktioniert und was nicht. Mit dem Ergebnis: Sie bekamen die bis dahin unbekannte Massenarbeitslosigkeit nicht in den Griff und wurden beide abgewählt. Doch das ändert nichts an ihrem leuchtenden Beispiel: Nie wieder arbeiteten Präsident und Kanzler so eng, so freundschaftlich und so selbstverständlich zusammen. Giscard beschrieb seine Beziehung zu Schmidt einmal so: »Wir haben uns sehr lange gekannt und vertrauten einander absolut.« Der Hanseat wiederum führte den »Schwung«, den es zwischen ihm und Giscard gab, auf ein besonderes »Momentum« zurück: den »unbedingten Willen zur Zusammenarbeit (…) – egal, was das Problem ist«.
Bei den Machern Giscard und Schmidt ging dabei oft unter, was ihr eigentliches Grundanliegen war. Nämlich die Integration eines potenziell zu starken Deutschlands in einen europäischen Staatenverbund. Das Motiv trat erst so richtig zum Vorschein, als Schmidt im November 2011 inmitten der Eurokrise ein letztes Mal auf einem SPD-Parteitag sprach.
Schmidt zeigte sich hier noch einmal als der nach Adenauer vielleicht würdigste deutsche Heine-Nachfolger. Alle deutsche Politik ordnete er dem Interesse einer europäischen Einigung und an erster Stelle mit Frankreich unter. Nichts war ihm wichtiger, da dachte er wie Heine. Nur hatte Schmidt ganz andere Beweggründe.
»Nicht der Idealismus Victor Hugos, der 1849 zur Vereinigung Europas aufgerufen hat, noch irgendein Idealismus stand 1950/52 am Beginn der damals auf Westeuropa beschränkten europäischen Integration«, sagte Schmidt vor den Delegierten. Er war nicht durch die Französische Revolution, sondern durch die deutschen Kriege gegen Frankreich zum eisernen Verfechter der deutsch-französischen Sache geworden. Er kannte keinen Frankreich-Blues. Er wollte immer die Lehren aus den Kriegen ziehen, und tat das im November 2011 wie folgt: »Dagegen wäre ein Streben nach einer eigenen Rolle in der Weltpolitik und das Streben nach weltpolitischem Prestige ziemlich unnütz, wahrscheinlich sogar schädlich. Jedenfalls bleibt die enge Zusammenarbeit mit Frankreich und mit Polen unerlässlich, mit allen unseren Nachbarn und Partnern in Europa.« Es war eine berechtigte Warnung, die Schmidt aussprach. Denn danach folgten fünf Jahre, in denen das weltpolitische Prestige Deutschlands etwa in dem gleichen Maße zunahm, wie das weltpolitische Prestige Frankreichs sank.
Mitterrand und Kohl, Chirac und Schröder, Sarkozy und Merkel – sie alle hatten unterschiedliche Phasen miteinander. Mal lief es, mal lief es nicht. Zunächst gelang es Mitterrand und Kohl, sich fast schon ikonografisch ins deutsch-französische Gedächtnis einzubrennen, als sie sich 1984 – ausgehend von einer spontanen Bewegung Mitterrands – in Douaumont vor einem mit deutscher und französischer Flagge bedeckten Sarg die Hände reichten. Die Versöhnung würde nun von beiden Seiten getragen, kommentierte damals das französische Fernsehen. Fünf Jahre später hätte sich Mitterrands anfängliche Skepsis gegenüber der deutschen Einheit zur handfesten europäischen Krise ausweiten können. Der französische Präsident hatte Zweifel, ob sich ein wiedervereinigtes Deutschland noch länger für die europäische Integration interessieren würde. Es könnte sein Heil in anderen Bündnissen suchen, es könnte nach Größe streben, fürchtete er. Eine illusorische Annahme aus Sicht von Kanzler Kohl, dem es gelang, Mitterrand zu besänftigen.
Gerhard Schröders Begeisterung für den britischen Premier Tony Blair und seinen dritten Weg neben linker Sozialdemokratie und hartem Neoliberalismus hätte das deutsch-französische Verhältnis dauerhaft verwaisen lassen können. Denn weder der konservative Staatspräsident Jacques Chirac noch dessen sozialistischer Premierminister Lionel Jospin waren vom deutschen Flirt mit London sonderlich angetan. Anfangs waren sich Schröder und Chirac auch uneins, wie die Krise, in der sich die Europäische Union seit Jahren befand, zu lösen wäre. Fest stand lediglich, es geht nur gemeinsam. »Wenn Frankreich und Deutschland einmal hü und einmal hott sagen, wird es mit Europa nicht vorangehen«, meinte Chirac in einem Zeitungsinterview 2001. Doch dann fanden sich Chirac und Schröder im gemeinsamen Widerstand gegen den Irakkrieg. Schröder hatte die ablehnende Haltung bereits zum Thema im Bundestagswahlkampf 2002 gemacht: »Druck auf Saddam ja, aber Spielerei mit Krieg und militärischer Intervention (…) ist mit uns nicht zu machen.« Der Widerstand gegen den Irakkrieg fand auch Eingang in die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages. Chirac lobte in seiner Rede bei der gemeinsamen Sitzung des französischen und deutschen Parlaments in Versailles die gemeinsame Haltung: »Frankreich und Deutschland haben sich beispielhaft und genau abgestimmt, um alles für den Frieden zu ermöglichen.« Ein paar Monate später, im Herbst 2003, setzten dann beide Regierungschefs kurzerhand die Defizitgrenze des europäischen Stabilitätspaktes außer Kraft. »Flexible Auslegung« nannte man es im deutschen Duktus, Prävention vor dem »Kaputtsparen« in einer unsicheren Konjunkturlage im französischen Sprachgebrauch.
Merkels Abscheu vor Sarkozys aufdringlicher Art hätte womöglich politische Folgen haben können, wenn nicht die Finanzkrise 2008 beide zur fast schon täglichen Koordination ihres Krisenmanagements gezwungen hätte. Merkel hatte es mit Sarkozy wirklich nicht immer leicht. Einmal trafen sie sich in Cannes an der Côte d’Azur. Sarkozy: »Du bist eben doch ganz schön kokett, Angela!« Merkel: »Kokett?« Sarkozy: »Aber ja, kokett! Glaubst du, die Sache mit deinem Ausschnitt wäre mir entgangen? Ganz Frankreich hat darüber geredet!« Was auch immer sich über Merkels im Frühjahr 2008 weltweit kommentierten Auftritt bei der Eröffnung der Osloer Oper sagen ließ, von Sarkozy wollte die Kanzlerin darüber bestimmt nicht belehrt werden. Das aber wiederum zeigt, wie banal die Dinge sein können, die den Frankreich-Blues verstärken. Und wie hartgesotten man sein muss, ihm zu widerstehen. Das gilt für Politiker und Völker rechts und links des Rheins in gleichem Maße.