Mia
I rritiert lege ich noch einmal den Kopf in den Nacken und betrachte das Schild, das über dem Eingang des heruntergekommenen Gebäudes prangt.
New Juarez Police Department.
Irgendetwas kommt mir eigenartig vor.
Also nicht das Schild, sondern das Gesamtpaket. Ich habe das drängende Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dabei gibt es keine Anhaltspunkte. Zumindest keine richtigen.
Vielleicht bin ich bloß erschöpft von dem Fußmarsch, den ich hinter mir habe. Im Grunde könnte man ihn auch als Spießrutenlauf bezeichnen. Ich wohne nicht unbedingt in einer sicheren Wohngegend; selbst am helllichten Tag ist das Risiko, ausgeraubt zu werden, vergleichsweise hoch.
Erst recht, wenn man, so wie ich, in einem Designerkostümchen durch die Straßen zieht.
Die Polizeidienststelle hält sich in keinem besseren Viertel auf. Ich befinde mich noch immer in Mesita. Eine der schäbigsten Gegenden des südlichen New Juarez. Wer glaubt, dass sich die komplette Unterschicht südlich des Rio Grandes aufhält, egal in welchem Viertel von New Juarez, der hat Mesita noch nicht kennengelernt.
Hier leben die Abgefucktesten der Abgefuckten. Und ich bin eine von ihnen. Eine Abgefuckte im Designerkostüm. Ich hätte mir auch ein Leuchtschild mit den Worten Hier gibt es was zu holen! umhängen können.
Nur habe ich es, man mag es kaum glauben, heil bis zu dieser Dienststelle geschafft. Und in der unmittelbaren Umgebung eines Polizeigebäudes wird es wohl niemand wagen, eine Frau auszurauben, egal, wie elegant sie gekleidet ist.
Als ich hierher nach New Juarez gezogen bin, habe ich natürlich einen Crashkurs in Selbstverteidigung gemacht, aber ob ich im Fall der Fälle wirklich fähig bin, mich selbst zu verteidigen, bezweifle ich. Und sobald mich jemand mit einer Waffe bedroht, um mir die Handtasche abzunehmen, denke ich gar nicht erst darüber nach und gebe die Tasche freiwillig raus.
Ist eh nichts von Wert drin.
Nichtsdestotrotz ist irgendetwas eigenartig. Ich habe nicht nur das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, sondern auch, dass ich seit dem Verlassen meines Wohnkomplexes beobachtet und verfolgt werde.
Eigentlich gehört es schon zur Tagesordnung, dass schwere Chopper an mir vorbeifahren, weil sich bereits vor Jahren ein berüchtigter Motorradclub in Mesita niedergelassen hat und seitdem die unmittelbare Umgebung zu kontrollieren versucht. Allerdings hat der MC nichts mit der Belästigung von jungen Frauen am Hut – und ich nichts mit Motorradfahrern –, deswegen beachte ich sie in der Regel gar nicht, sobald einer von ihnen meinen Weg kreuzt.
Aber heute war mir so, als wäre mehr als nur einmal ein und derselbe Typ an mir vorbeigefahren.
Ist vielleicht ganz gut, dass ich einen Termin bei der Polizei habe. Falls der MC seine Prinzipien geändert hat und dieser Biker vorhatte, an mir einen Drive-by auszuführen – warum auch immer –, wird er dieses Vorhaben hoffentlich jetzt ad acta legen.
Oder er dachte tatsächlich, bei mir sei etwas zu holen. Oder möglicherweise …
Nein. Er fand mich bestimmt nicht heiß. Meine krause Mähne war heute wieder besonders garstig und stand zu allen Seiten ab. Zu Hause habe ich sie kaum zu einem Zopf gebändigt bekommen und durch den langen Marsch – ich war über eine Stunde unterwegs – lösen sich bereits die ersten vorwitzigen Strähnen aus dem Haargummi.
Das ändert nichts daran, dass sich die Gesamtsituation irgendwie eigenartig anfühlt.
Na gut. Ich habe jeden Grund, mich so zu fühlen. Ich bin eigenartig.
Trotzdem sagt mir mein Bauchgefühl, dass irgendetwas falsch ist. Es ist wie ein Kribbeln im Nacken, das mich immer wieder dazu bringen will, mich umzudrehen und die direkte Umgebung abzuscannen.
Dieses Gefühl ist mir nicht neu. Im Prinzip habe ich es bereits seit … keine Ahnung. Seit Jahren, glaube ich. Deswegen gehört es irgendwie zu meinem Leben und ich habe es als Schwachsinn abgetan. Als egozentrisches Denken.
Wieso sollte irgendwer auf die Idee kommen, mich tagein, tagaus zu beobachten? Zum einen macht das absolut keinen Sinn, und zum anderen dürfte ich eine der langweiligsten Personen auf diesem Planeten sein.
Doch seitdem ich bei dieser Polizeidienststelle angekommen bin, ist dieses Kribbeln im Nacken besonders schlimm. Nicht nur das Gefühl, beobachtet zu werden, sondern auch … ich weiß nicht. Als würde sich die Erklärung direkt vor meiner Nase befinden, nur sehe ich sie nicht.
»Wahrscheinlich liegt es daran, weil ich mit den Nerven am Ende bin«, flüstere ich mir selbst zu und achte darauf, dass mich niemand hören kann.
Schlimm genug, dass ich die Sache mit den Selbstgesprächen einfach nicht abstellen kann.
Nichtsdestotrotz hilft es mir nicht, mich über irgendetwas aufzuregen. Mein Termin ist in weniger als fünf Minuten und ich sollte um Gottes willen nicht zu spät kommen.
Schnell streife ich die Sneakers ab, die ich mir für den Fußmarsch angezogen habe, und greife in beinahe derselben Bewegung in meine Tasche, um die schwarzen Pumps herauszuholen.
Ein letztes Mal gebe ich meiner Frisur eine Chance, indem ich einige der abstehenden Strähnen plattdrücke und versuche, hinter mein Ohr zu klemmen, aber es ist wie immer vergeblich. Es ist, als hätten meine Haare ein Eigenleben.
»Wie die Medusa aus der griechischen Mythologie«, wispere ich so leise, dass fast kein Ton zu hören ist. »Nur, dass die meisten Menschen, die mich ansehen, nicht zu Stein erstarren, sondern durch mich hindurchgucken, als wäre ich ein Geist. Oder als würde ich überhaupt gar nicht existieren.« Traurig presse ich die Lippen zusammen. »Es sei denn, sie wollen mich für ihre Zwecke gebrauchen oder mich wegen irgendetwas an den Pranger stellen. Dann stehe ich plötzlich im Rampenlicht.«
Nützt ja nichts. Das ist mein Leben.
Endlich nehme ich all meinen Mut zusammen, atme einmal tief durch, und umfasse die abgegriffene Türklinke, die mich in den winzigen Vorraum der Dienststelle bringt.
In diesem Moment kann ich nur hoffen, dass mein Deodorant in den nächsten Minuten nicht versagt. Der Raum ist so … überschaubar, dass einem kaum genug Luft zum Atmen bleibt. Wenn ich also gleich anfange, nach Schweiß zu stinken, fallen sämtliche Personen in meiner unmittelbaren Umgebung einfach tot um. Dann werde ich nicht nur wegen irgendwelcher angeblicher Diebstähle zur Verantwortung gezogen – oder was immer mir diesmal vorgeworfen wird –, sondern ebenfalls wegen fahrlässiger Tötung eines oder mehrerer Polizisten.
Ungewollt huscht der Hauch eines Schmunzelns über meine verkrampften Gesichtszüge. Wenigstens mein Galgenhumor ist mir geblieben.
»Ist ja auch egal. Dann stinke ich eben«, merke ich tonlos an und schaue mich neugierig um. Zum Frischmachen habe ich keine Zeit und es sind verfluchte 35 Grad draußen. Es grenzt an ein Wunder, dass ich unter meinem Designerkostüm nicht eingehe vor Hitze.
Dafür, dass der äußerliche Zustand des Gebäudes eher einen abbruchreifen Eindruck macht – so, wie man es in fast ganz Mesita gewöhnt ist –, scheinen die Räumlichkeiten der Dienststelle ziemlich neu eingerichtet worden zu sein.
Möglicherweise ist diese … na ja, mehr als eine polizeiliche Zweigstelle kann man das hier ja nicht nennen, eine der Neuerungen, die der Süden von New Juarez seinem neuen Stadtoberhaupt zu verdanken hat. Mesita ist nun einmal ein Drecksloch, in dem vor allem die Bandenkriminalität immer mehr zunimmt.
Wobei ich gedanklich gleich wieder bei dem Motorradtypen gelandet bin, der mich verfolgt hat.
Zumindest habe ich es mir eingebildet. Vielleicht beschäftige ich mich einfach zu sehr mit mir selbst und schließe unbewusst daraus, dass alle Welt sich auch mit mir beschäftigt.
Wie lächerlich. Vor einer Minute war ich noch davon überzeugt, eine unsichtbare Medusa zu sein.
Oh Gott, ich habe einen echten Knall.
»Hallo?«, rufe ich kleinlaut und schaue mich um. Der Empfangstresen – oder wie man das bei der Polizei nennen soll – ist nicht besetzt und wirkt auf mich auch nicht so, als wäre er je besetzt gewesen. Ein paar Kartons stehen auf dem Boden herum, als ich mich über den Tresen lehne, mehr nicht.
Sofort überkommt mich einer dieser absurden Gedanken, die einem immer dann einfallen, wenn man sich keinen Reim aus seiner unmittelbaren Umgebung machen kann: Bin ich bei der falschen Adresse gelandet?
»Suchst du etwas, das du klauen könntest?«, vernehme ich auf einmal eine männliche Stimme in meinem Rücken, die mir irgendwie bekannt vorkommt.
Doch bevor sich mein Gehirn weiterhin mit diesem seltsamen Déjà-vu-Erlebnis beschäftigen kann, überschlagen sich bereits meine Gedanken und drängen es in den Hintergrund: Augenblicklich mache ich einen regelrechten Satz in die Luft, verschlucke mich dabei fast an meinem eigenen Speichel und wirbele mit weit aufgerissenen Augen herum.
Der Mann, der sich so erfolgreich an mich herangeschlichen hat, steht keine halbe Armlänge hinter mir. Er trägt schwere Kampfstiefel, eine schwarze Drillichhose und ein schwarzes, eng anliegendes Shirt. Die tätowierten Arme hat er vor der Brust verschränkt, was seine offensichtlich ablehnende Haltung mir gegenüber nur noch verstärkt, zumal seine azurblauen Augen in blanker Eiseskälte auf mich hinabstrahlen.
So, wie man sich den typischen, überarbeiteten Polizisten vorstellt, wirkt er übernächtigt und seine Wangen scheinen seit mehreren Tagen keinen Rasierer gesehen zu haben. Seine Kurzhaarfrisur ist herausgewachsen, sodass ihm einige fingerlange, von der Sonne gebleichte blonde Strähnen in die Stirn fallen.
Er ist groß. Und seine Körperstatur ist … beeindruckend.
Er ist attraktiv. Auffallend attraktiv. Seine Gesichtszüge sind ebenmäßig, an den richtigen Stellen etwas kantig und leicht gebräunt. Die Frauen, die er an sich heranlässt, können sich glücklich schätzen, dass er sich überhaupt mit ihnen abgibt.
Beinahe würde ich ihn sogar als Schönling durchgehen lassen – oder als Sonnyboy , wenn er denn mal lächeln würde. Doch er lächelt nicht. Er durchbohrt mich regelrecht mit seinen Blicken, als wäre ich sein personifiziertes Hassobjekt. Er scheint seine gesamte Abneigung, die er empfindet, auf mich zu projizieren.
Ein grauenvolles Gefühl. Ich bin diesem Mann niemals zuvor begegnet und habe ihm kein einziges seiner blonden Haare gekrümmt, doch er hat nichts Besseres zu tun, als mich absolut feindselig nieder zu starren.
Er hat schlicht und ergreifend ein riesiges Problem mit geistesgestörten Kleptomaninnen, wie es aussieht. Vielleicht ja auch generell mit Frauen.
Oder sein Ego ist das Problem.
»Ähm«, beginne ich und schlage automatisch die Augen nieder, als der Polizist sich wie auf Kommando zu mir hinunterbeugt. Nicht, um mich besser verstehen zu können, sondern um mich aus der Fassung zu bringen. Um dafür zu sorgen, dass mir meine Worte im Hals stecken bleiben. Damit ich mich klein und unbedeutend fühle und anfange, zu denken, dass ich ein abgrundtief schlechter Mensch bin.
»Emilia Stevens?«, erkundigt er sich in einer derart grimmigen Tonlage, dass der Klang seiner Worte meine Knochen zum Vibrieren bringt, worunter ich erneut ungewollt zusammenfahre.
Zum zweiten Mal beschleicht mich dieses Gefühl, dass mir seine Stimme entfernt bekannt vorkommt.
Nicht nur seine Stimme. Irgendetwas … seine Augen erinnern mich an … keine Ahnung. Es fällt mir nicht ein. Womöglich, weil ich immer wieder in dem Versuch scheitere, seinem verhängnisvollen Blick standzuhalten.
Verschämt nicke ich und schaffe es nach wie vor nicht, ihm auch nur eine Sekunde ins Gesicht zu sehen.
»Komm mit. Du steckst echt in der Scheiße. So richtig.«
Das habe ich befürchtet.
Er schenkt mir ein grimmiges Brummen, unter dem mir jetzt auffällt, wie zwiegespalten ich eigentlich bin: Einerseits schaffe ich es kaum, ihm in die Augen zu sehen, ohne sofort devot die Lider zu senken, und andererseits habe ich das ständige Bedürfnis, ihn von oben bis unten zu mustern.
Es ist eine Mischung aus Faszination und … dem Verlangen, dringend herauszufinden, woher er mir so bekannt vorkommt.
Spontan würde ich ihn für ein gescheitertes Unterwäschemodel oder einen erfolglosen Schauspieler halten, der sich aus Geldnot dazu entschieden hat, in den Staatsdienst zu gehen, bevor er – so wie ich – auf der Straße landet.
Doch da ist etwas anderes. Seine Stimme … und diese Augen! Sie verleiten mein Herz dazu, wehmütig zu klopfen und ganz nostalgisch zu werden. Fast kann ich diesen Typen in einer meiner entferntesten Erinnerungen lachen hören. Gemeinsam mit mir.
Aber wieso …?
»Was ist?!«, fährt er mich in dieser Sekunde an. »Worauf wartest du? Eine schriftliche Einladung hast du ja bereits erhalten.«
Oh. Während ich wieder einmal meinen Gedankengängen nachhing, hat sich die Zeit natürlich unaufhaltsam weitergedreht. Augenscheinlich habe ich den Typen ziemlich stumpfsinnig angestarrt – und das mehrere Sekunden lang. Er scheint nämlich seit einer geraumen Weile die hüfthohe Schwingtür neben dem Empfangstresen aufzuhalten und mir mit einem ausgestreckten Arm bedeutet zu haben, dass ich doch bitte durchtreten soll.
»Entschuldigung«, murmele ich kleinlaut und trete an ihm vorbei.
Schon wieder springt mich aus heiterem Himmel eine gewisse Vorahnung an, dass das alles hier komplett falsch läuft – viel schlimmer: Mittlerweile will mir mein Bauchgefühl sogar vergleichsweise eindringlich weismachen, dass ich auf dem besten Weg bin, in eine Falle zu tappen.
Allerdings wird mein Bauchgefühl bei dieser Feststellung kurzerhand unterbrochen, als sich das gescheiterte Unterwäschemodel unsanft an mir vorbeischiebt und auf eine halb offene Tür zutritt, die sich im hinteren Bereich des Empfangsraums befindet. Die Tür ist irgendwann einmal königsblau angestrichen worden, aber inzwischen derart zerkratzt, dass man ihr regelrecht ansieht, wie viele Jahre sie auf dem Buckel haben muss.
Wieder bleibt das Unterwäschemodel stehen, um mir die Tür aufzuhalten und mir dabei einen ungeduldigen Augenaufschlag zukommen zu lassen.
Die Situation ist so grotesk, dass ich mich gezwungen sehe, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Irgendwer hat diesem Mann ganz offensichtlich gute Manieren beigebracht, sodass er es als seine – wenn vielleicht auch unbewusste – Pflicht anzusehen scheint, die allgemeinen Benimmregeln zu befolgen und sich gegenüber einer Frau zumindest halbwegs zuvorkommend zu verhalten. Allerdings kommt dieses Pflichtgefühl wohl seiner Verachtung mir gegenüber in die Quere. Das heißt, er stellt sich mir nicht einmal vor, lässt mir hasserfüllte Blicke zukommen und schiebt mich unsanft beiseite, behält aber die Standard-Höflichkeit bei und hält mir die Tür auf.
Ich frage mich, ob er mir wie selbstverständlich beim Ablegen der Jacke behilflich gewesen wäre, wenn ich diese nicht bereits auf halbem Wege hierher ausgezogen und in meine Tasche gestopft hätte. Sonst hätte ich nämlich einen Hitzschlag bekommen.
Möglicherweise wäre das ein angenehmeres Schicksal gewesen.
Keine Ahnung, was mich geritten hat, als ich mich dazu entschloss, bei diesem Termin das schwere Kostüm zu tragen. Es ist für das Klima hier in New Juarez definitiv nicht geschaffen. Ich hoffe nur, dass ich nicht allzu große Schweißflecken habe, die man bei der hellrosa Bluse mit Sicherheit ziemlich gut erkennen kann.
Zögerlich trete ich an dem breitschultrigen Polizisten vorbei, in einen fast fensterlosen Raum. Nur ein kleines Oberlicht lässt auf der linken Seite ein wenig Nachmittagssonne hineinscheinen. In der Mitte des Raums befindet sich ein Metalltisch, an dem drei Stühle stehen. Ein einzelner Stuhl steht den zwei anderen Stühlen gegenüber, das Oberlicht im Rücken.
Ein leises Klicken ertönt schräg hinter mir und die grellen Neonröhren, die sich direkt über dem Tisch befinden, springen an. »Setzen Sie sich, Miss Stevens.«
Okay. Ich dachte, wir wären schon beim Du angekommen.
Ohne zu zögern, befolge ich seinen Befehl und möchte auf einem der beiden Stühle Platz nehmen, die dem Dritten gegenüberstehen, doch auf einmal umschließt eine unnachgiebige Pranke meinen Oberarm und zwingt mich dazu, in der Bewegung innezuhalten.
»Andere Seite«, knurrt der Polizist und schubst mich grob an dem Tisch vorbei.
»Ist ja gut«, murre ich und merke, wie ein Funken Trotz in mir auflodert. Ich habe dem Mann nichts getan und auch, wenn er womöglich einfach ein Problem mit Kriminellen hat und ihre Beweggründe, gegen das Gesetz zu verstoßen, nicht nachvollziehen kann, finde ich, darf er gerne ein bisschen freundlicher zu mir sein. Er behandelt mich ja, als wäre ich eine absolute Schwerverbrecherin.
Mit verschränkten Armen und Schmollmund lasse ich mich auf den Stuhl fallen und habe auf einmal gar nicht mehr so große Probleme, seinem hasserfüllten Blick standzuhalten. Im Grunde weiß ich, dass es nur zu meinem Nachteil ausgelegt wird, wenn ich jetzt auch noch anfange, bockig zu werden, aber langsam reicht es echt. Die ganze Zeit habe ich auf einen Nervenzusammenbruch hingearbeitet und nun scheint das Fass endlich überzulaufen.
Nur in eine andere Richtung, als ich bisher vermutet habe. Zu Hause würde ich mich in irgendeine Ecke in meiner Wohnung verkriechen, stundenlang in Selbstmitleid zerfließen und mindestens genauso lange vor mich hin heulen.
Allerdings habe ich ein riesengroßes Problem damit, vor anderen in Tränen auszubrechen. Von daher passiert es manchmal, dass sich dieses Selbstmitleid in Wut umwandelt und heute dazu führt, dass ich versuchen werde, diesem Möchtegern-S.W.A.T.-Team-Menschen das Gesicht zu zerkratzen.
»Sie sehen gar nicht wie der typische Streifenpolizist aus, Mister …?« Mit einer Hand wedele ich nachlässig in Richtung seines Aufzugs, der ja eher impliziert, dass er tatsächlich einer Spezialeinheit angehört und keiner heruntergekommenen polizeilichen Zweigstelle, die weder Personal noch eine Kaffeemaschine vorzuweisen hat, wie es aussieht.
»Chase«, legt er fest und setzt sich ebenfalls mit verschränkten Armen vor mich, nur rutscht er salopp einige Zentimeter in seinem Stuhl hinunter und scheint sich in seiner Position verhältnismäßig wohlzufühlen. Aus seinem hasserfüllten Blick wird ein herablassendes Stirnrunzeln, als er mich von oben bis unten in Augenschein nimmt – jedenfalls das, was er oberhalb der Tischkante erkennen kann. »Ich bin kein Streifenpolizist «, fügt er mit einem spöttischen Schnauben hinzu, als sei das eine hochgradige Beleidigung.
Chase … Ich hatte mir erhofft, dass mir sein Name eventuell Klarheit verschaffen würde; zumindest in einem gewissen Rahmen, sodass meine Erinnerungen ein bisschen aufgefrischt werden und ich nicht mehr ganz so sehr auf dem Schlauch stehe. Aber bei Chase klingelt es nicht einmal ansatzweise bei mir.
»Aha«, mache ich und versuche, dabei nicht allzu schnippisch zu klingen. Streifenpolizist zu sein ist bestimmt nichts, weswegen man sich schämen sollte. Schon allein wegen des geregelten Einkommens würde ich gar nicht groß nachdenken und auf der Stelle bei der Polizei anfangen. Da würde ich auch in Kauf nehmen, bei denen das unterste Glied der Nahrungskette zu sein.
Aber das kann ich mir wohl abschminken. Schließlich bin ich eine Frau. Ganz zu schweigen von meinen Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen und meiner angeblichen kriminellen Tendenz.
Darüber hinaus sagt man der Streifenpolizei hier in New Juarez nach, ziemlich korrupt zu sein. Das habe sogar ich schon in der kurzen Zeit mitbekommen, in der ich hier lebe.
Normalerweise würde man Korruption so verstehen, dass die Polizisten irgendwelchen Machenschaften mit Drogenbaronen nachgehen, anstatt dem Staatsapparat treu ergeben zu sein – nur wird das in New Juarez komplett gegenteilig gehandhabt. Das sogenannte Staatsoberhaupt der Stadt ist Vaughn Adler – ein milliardenschwerer Drogenbaron wie er im Buche steht. Jemand, der dafür bekannt ist, sein Herrschaftsgebiet mit eiserner Faust zu regieren, aber auch gerecht dabei vorzugehen.
Die Beamten sollten also ihm treu untergeben sein. Allerdings herrscht das Gerücht, dass sie hinter Vaughn Adlers Rücken mit machtgierigen Politikern von außerhalb zusammenarbeiten, um die Autorität des Adler-Kartells zu untergraben.
Kein Wunder – der Staatspräsident der USA bereut es, dass er bei seiner Machtübernahme vor mehr als dreißig Jahren einige Städte, die für ihn als wertlos galten, an überreiche Nutznießer abgetreten hat. Natürlich haben sie ihm eine ordentliche Stange Geld gezahlt, wodurch er seine Regierungsgeschäfte und seinen eigenen Amtssitz untermauern konnte.
Nun scheint ihm allerdings das Geld auszugehen und damit beginnt er zu den inzwischen größtenteils florierenden, privatisierten Hoheitsgebieten zu schielen, von deren Wohlstand er nun zu profitieren gedenkt.
Sagt man ihm jedenfalls nach. Hinter vorgehaltener Hand.
Hier in New Juarez darf man solche Verschwörungstheorien gegenüber dem Präsidenten natürlich ein wenig lauter aussprechen; hier darf man ihn sogar offen als Militärdiktator bezeichnen. Hätte ich das im Hause meines Vaters, das sich in den Hamptons befindet, irgendwann auch nur angedeutet, wäre ich wahrscheinlich direkt wegen Hochverrats verhaftet worden.
Aber die Hamptons sind, genau wie mein Vater, aus meinem Leben gestrichen.
Ich habe weder eine Familie noch ein Zuhause.
Ich räuspere mich leise, als dieser Mister Chase gar keine Anstalten macht, in irgendeiner Weise mit mir kommunizieren zu wollen. Lieber scheint er es vorzuziehen, mich unverwandt anzustarren und zu überlegen, wie er seinen Hass mir gegenüber am erfolgreichsten zum Ausdruck bringen kann.
»Entschuldigung, kennen wir uns irgendwoher? Oder … ähm … sollte ich Sie kennen?«, erkundige ich mich schließlich, als mich das Gefühl, dass ich irgendetwas zu ihm sagen muss, schier zu erdrücken droht.
Prompt springen seine Augenbrauen empor, während er sich mit einem neugierigen Brummen in seinem Stuhl aufrichtet, vorlehnt und die Arme auf dem Tisch ablegt. »Sagen Sie es mir, Miss Stevens: Sollten wir uns irgendwoher kennen?« Sein Tonfall trieft vor Arroganz und Hohn, sodass sich automatisch ein heißer Klumpen in meinem Magen bildet, der mir erzählen will, dass ich dringend so zickig wie möglich auf jede seiner Aussagen zu reagieren habe. Vor allem werde ich ihm ab sofort mit der gleichen Arroganz begegnen, die er an den Tag legt.
Da hat er wohl noch nicht die Familienmitglieder der Familie Stevens aus der britischen Kleinstadt Eastshire kennengelernt. Hochmut und Überheblichkeit ist uns in die Wiege gelegt worden.
»Keine Ahnung«, gebe ich zurück und schenke ihm ein ironisches Lächeln. »Deswegen frage ich ja.«
Für einen Moment lässt Mister Chase die Kiefermuskeln zucken, während seine Augen ein Bündel brennender Pfeile auf mich abschießen. »Sie scheinen jedenfalls ziemlich guter Dinge zu sein, wenn ich mir Sie so angucke und … anhöre.«
Erschrocken presse ich die Lippen zusammen, um mein Mundwerk davon abzuhalten, ihm eine dazu passende Antwort zu liefern. Stattdessen zeige ich auf den leeren Tisch. »Keine Ahnung. Offensichtlich sind Sie ja nicht einmal im Besitz meiner Akte.«
Gelangweilt folgt er meinem Fingerzeig, lehnt sich mit einem herablassenden Schmunzeln im Stuhl zurück und tippt sich an die Stirn. Für einen Moment frage ich mich, ob er mir gerade den Vogel zeigt, doch dann wird mir klar, dass er mir lediglich mitteilen will, dass er alles in seinem Kopf hat. »Ich brauche keine Akte, um über Sie genauestens Bescheid zu wissen, Miss Stevens.«
Dieses Mal besteht die meinige Antwort aus einem spöttischen Schnauben. »Ach. Sie sind also Ankläger und Richter in einem, ja, Mister Chase?«
Seine Gesichtszüge verdunkeln sich zusehends, während er mich noch hasserfüllter denn je betrachtet. »Ich sagte Chase. Nicht Mister Chase.«
Obwohl mein Herz bei seinem jetzigen Anblick einen erschrockenen Satz macht, schaffe ich es nicht, zurückzurudern. Ich habe mich im Laufe dieser Unterhaltung schon zu weit vorgewagt, wobei mein gesunder Menschenverstand einfach auf der Strecke geblieben ist. »Wie? Nur Chase?«
Im Grunde ist mir klar, dass ich am besten gar nichts mehr sagen sollte, aber eine Mischung aus Neugierde und Trotz hat die Kontrolle über mein Gehirn übernommen. Mein Verstand scheint sich in dieser Sekunde nicht ansatzweise dazu imstande zu fühlen, vernunftbegabte Entscheidungen zu treffen.
»Nur Chase«, bestätigt mein Gegenüber mir mit einem düsteren Knurren, während sein strahlendblauer Blick mich regelrecht aufspießt.
»Und Sie kennen meine … Geschichte auswendig?«, hake ich nach, obwohl ich spüre, dass ich mich dem Abgrund immer mehr nähere, in den dieser Chase mich zu stoßen droht, wenn ich nicht langsam dafür sorge, dass er seine Antipathie mir gegenüber einstellt. »Ich meine … ähm … tut mir leid, aber ich bin doch nur …« Abrupt halte ich inne, als die zerkratzte Tür ein weiteres Mal aufschwingt und jemanden offenbart, mit dem ich aktuell am wenigsten gerechnet habe: »Mister Noyce?«