»Mach, was du willst« — so lautete die Devise. Nach meinem Militärdienst, den ich 1973 in Tahiti ableistete, begann ich Jura zu studieren, weil ich auf internationaler Ebene arbeiten wollte. Mit neunzehn Jahren lernte ich in einem Hörsaal der Universität unter witzigen Umständen meine erste Frau kennen. Irgendwann sagte ein Kollege während einer Vorlesung ziemlich laut: »Ich verstehe kein Wort, für mich ist das wie Hebräisch!« Natürlich drehte ich mich um, und auch eine Studentin wandte zur gleichen Zeit ihren Kopf. Unsere Blicke trafen sich, und wir lächelten einander an, denn wir verstanden sofort, was uns verband. Ich fand Maryline fantastisch, sie war eine brillante, junge Frau.
In der Folge arbeitete ich im Tourismusbereich, in gewisser Hinsicht war das ein »internationaler« Beruf, um uns beide durchzubringen, während Maryline, die meine Frau geworden war, mit Begeisterung ihr Studium weiterverfolgte. Sie wurde Verantwortliche für die Presseabteilung bei einem Verlag für juristische Werke. Maman liebte meine Frau vom Fleck weg, sobald ich sie ihr vorgestellt hatte, selbst dann noch, als ich das nicht mehr tat.
Ich heiratete 1977. 1978 war mein Bruder Allan an der Reihe. Beide heirateten wir in der Synagoge, aber, wie die Zukunft zeigen sollte, wäre man uns nicht böse gewesen, wenn wir es nicht getan hätten. Papa schenkte mir eine schöne Hochzeit im Grand Hotel Scribe im 9. Pariser Gemeindebezirk. Rückblickend bedauere ich, ihm nicht ausreichend für all die Mühen und Ausgaben gedankt zu haben, die ihm unsere Hochzeit verursacht hatte. Wir hatten das Glück, unglaublich nette Eltern zu haben.
Maman wurde zum ersten Mal 1982 Großmutter, als Alexandre, Allans Sohn, im Jahr 1982 geboren wurde, und zum zweiten Mal, als 1983 meine Tochter Noa auf die Welt kam. Diese Tatsache ließ unsere Mutter keineswegs altern, im Gegenteil, es war wie ein Jungbrunnen für sie. Sie fand, dass mit fünfzig Jahren Großmutter zu werden einen richtigen Energieschub für sie darstellte!
Unsere Mutter war nie eine vollendete Hausfrau gewesen und auch keine jüdische Mutter, die immer hinter dem Herd steht. Insofern wurde sie auch nicht zu einer Oma, die ständig Mehlspeisen für ihre Enkelkinder buk. Süßigkeiten liebte sie zwar — aber die, die man ihr aus der Konditorei brachte! Leider sah unsere Mutter nicht viel von ihren Enkelkindern, weil diese, durch Wechselfälle des Lebens, sehr oft weit weg waren. Allan zog von 1978 bis 1985 nach Lyon, die Stadt, aus der seine erste Frau stammte. Als er dann wieder in Paris war, war er geschieden, und sein Sohn blieb bei seiner Mutter. Ich selbst lebte zwischen 1981 und 1986 in Israel, wohin wir Hals über Kopf aufgebrochen waren, nachdem ich eine Stelle in einem Reisebüro gekündigt hatte, das sich wenig erkenntlich für die viele Mühe zeigte, die ich in diese Arbeit steckte. Mutter sah unserem Kommen und Gehen zu, ohne irgendwelche Kommentare abzugeben, und vor allen Dingen, ohne uns zurückzuhalten. Wir hatten bei jedem neuen Wohnort ihren Segen.
»Mach, was du willst« — dieser Satz von Onkel Isaac klang mir noch im Ohr. Das galt für Arbeitsstellen ebenso wie für Wohnorte im Ausland. Ich war mobil und lehnte es ab, mich mit einer unangenehmen Situation abzufinden. Maryline hatte Familienangehörige in Israel, und die jüdische Agentur organisierte unsere Alija. Wie vorgesehen lernten wir in Gratiskursen Hebräisch, und wir erhielten einen kleinen Betrag, um uns niederlassen zu können. Allerdings wurde für uns als Wohnort Be’er Scheva ausgesucht. In dieser, mitten in der Wüste erbauten Stadt wurde meine damalige Frau, die ein Stadtkind war, fast verrückt! Glücklicherweise hatte sie sehr nette Tanten in Tel Aviv, die uns halfen, an einen für uns vertrauteren Ort, nämlich die Küste, zu ziehen. Mehrere Monate lang führten wir das Yamit, ein Restauraunt in dem an Tel Aviv angrenzenden Jaffa, das der Familie gehörte und über die schönste Terrasse der Stadt verfügte. Die Stadt war damals noch nicht jene moderne Großstadt, wie man sie heute kennt, es gab noch viele alte Gebäude auf brachliegendem Gelände. Wir aber hatten uns in einem touristischen Viertel niedergelassen, das unendlich viel fröhlicher war als die Wüste. Unsere Arbeit war schwierig, insbesondere, weil wir schlecht Hebräisch verstanden. Ich hatte den Eindruck, ständig Opfer bringen zu müssen. Im Alltag war Israel wirtschaftlich gesehen ein schwieriges Land mit einer Inflation von zweihundert Prozent. Ich fand schließlich eine Arbeit im Tourismusbereich, wo ich besser verdiente und mich nicht bei Bestellungen im Restaurant mit den Namen von Fischen auf Hebräisch herumschlagen musste. Meine Frau begann wieder zu studieren und arbeitete dann in der Hotellerie. Mutter akzeptierte die viertausend Kilometer, die uns von ihr trennten, und machte keinerlei Bemerkung zu unserer Initiative, auch wenn sie niemals auf die Idee gekommen wäre, in Israel zu leben. Das Wichtigste in ihrem Leben war und blieb die Liebe — und sie war der Ansicht, dass wir erwachsen waren. Zu dieser Zeit musste sie ihr Leben vollkommen neu aufbauen, weil unser Vater beschloss, in Deutschland zu bleiben — ohne sie.
Der für unsere Mutter normale Zustand bestand darin, verliebt zu sein, wie ein junges Mädchen. Im Übrigen sagte sie oft zu Freunden: »Ich, ich werde nie alt werden.« Zum großen Leidwesen unseres Vaters, der sicherlich froh gewesen wäre, wenn sein Veigele mit der Zeit etwas ruhiger geworden wäre. Sie aber war quirlig wie eh und je. So leitete er zu Beginn der 1980er Jahre die Trennung ein. Die offizielle Erklärung, die unsere Mutter ihren Freunden gegenüber abgab, lautete »Wir trennen uns«. Wahrscheinlich waren die Dinge auf diese Weise für sie leichter zu ertragen. Denn sie hatte ihren Stolz, und die Wahrheit war, dass unser Vater beschlossen hatte, sein Leben mit einer anderen Frau fortzusetzen, die er wahrscheinlich nicht erst kurz vor der Trennung kennengelernt hatte. Was diese Frau unserer Mutter voraushatte? Das erklärte er uns ganz unumwunden: »Sie ist ruhig und kümmert sich gut um mich.« Mit anderen Worten, das Gegenteil von unserer Mutter, die äußerst lebhaft war und wollte, dass man sich in erster Linie um sie kümmerte, was eine schlechte Gewohnheit aus ihrer Kindheit war. Mutter war sehr unglücklich über diese Scheidung, was sie uns aber kaum zeigte. Im Grunde genommen hatte sie ein sehr optimistisches Naturell und einen starken Lebensdrang, der sie immer das Beste vom kommenden Tag erhoffen ließ.
Ich fuhr als Erwachsener mehrere Male nach Deutschland, um unseren Vater zu besuchen, wenn er nicht selbst nach Paris kam, auch wenn mein Reiseziel mich nicht in Begeisterung versetzte. In Hannover lernten wir seine neue Lebensgefährtin kennen, eine Deutsche namens Ruth, die jedoch keine Jüdin war. Dieser biblische Vorname ist bei den Protestanten häufig anzutreffen. Ruth war die Witwe eines Richters, der ihr ein schönes Haus hinterlassen hatte, wo sie bequem leben konnte. Ich bin mir nicht sicher, ob unser Vater ihr gesagt hatte, dass er Jude war. Jedenfalls hatte er sein gesamtes jüdisches Leben weit hinter sich gelassen. Keine Zwiebeles mit Eier mehr! Nichts in seinem Alltag verband ihn mehr damit, auch seine Eltern lebten nicht mehr. Obwohl Papa weiterhin arbeitete, führte er nun mit seinen fünfzig Jahren ein ruhiges Dasein, das er sich nach dem harten Leben verdient hatte. Er liebte es, wenn seine Lebensgefährtin ihm Fußbäder zubereitete, wenn er erschöpft am Abend heimkam. Dennoch mochte Papa unsere Mutter weiterhin sehr und stattete ihr immer Besuche zu Hause ab, wenn er in Paris war. Sobald Mutter die Scheidung verkraftet hatte, nahm sie ihren ehemaligen Mann wieder mit offenen Armen auf.
Wie alle Kinder haben wir keine wirkliche Vorstellung vom Leben unserer Eltern vor der Scheidung, insbesondere dann, wenn unser Vater nicht zu Hause war. Ich denke, dass unsere Mutter treu war. Was unseren Vater betrifft, habe ich da so meine Zweifel, auch wenn mir nie irgendwelche Affären zu Ohren gekommen sind. Er war mit achtzehn Jahren deportiert worden, hatte zwei Jahre unter grauenhaftesten Umständen gelebt, und man kann sich vorstellen, welchen Lebenshunger er danach empfand. Vielleicht war Treue für ihn ein Luxus ohne tieferen Sinn. Er genoss die schönen Zeiten, war verführerisch, die Frauen schätzten seine Gegenwart, sein Äußeres, aber auch seine Liebenswürdigkeit, die man auf den ersten Blick erkennen konnte. Im Übrigen war er bei den Frauen der befreundeten Paare sehr beliebt, umso mehr, als er gut kochen konnte und es schaffte, jeden aufkeimenden Konflikt im Keim zu ersticken. Er war ein Mann, der das Leben leichtnahm und der überall gut ankam. Angesichts des Zeitpunktes der Trennung unserer Eltern, der kurz nach unseren Hochzeiten lag, denke ich, dass unser Vater sicherlich wartete, bis wir selbst sicher im Hafen der Ehe angelangt waren, bevor er die seine auflöste — und sich Fußbäder zubereiten ließ.
Man hätte erwarten können, dass unsere Mutter mit 48 Jahren, nach 29 Jahren Ehe, etwas gereift wäre, aber das entsprach in keiner Weise ihrem Naturell, das in einem überbordenden Gefühlsleben und permanenter Begeisterung bestand. Das Leben begann von vorne!
Unsere Mutter war sich vollkommen sicher, dass alle ihr wohlgesonnen waren. Das hatte sie bei ihrem Vater Émile erfahren, und egal, was ihr passiert wäre — sie meinte, alle wollten ihr nur Gutes. Wenn ein Mann ihr gegenüber Interesse, Zuneigung oder mehr bezeugte, dann war sie sofort bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen, was sie dann manchmal auch tatsächlich tat. Natürlich erzählte sie uns nicht alles, umso mehr, als wir zu diesem Zeitpunkt weit entfernt von ihr lebten — ich in Israel und Allan in Lyon. Eines ist sicher: Unser Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr Leben wieder neu zu beginnen, denn sie hatte mit unserem Vater gelebt, seit sie sechzehn Jahre alt war. Zuerst war sie gut von ihrem Vater beschützt worden, dann hatte ihr Mann diesen Part übernommen. Sie hatte keine fixe Vorstellung von dem Mann, den sie kennenlernen wollte, aber sie schloss nichts aus. In physischer, psychischer, kultureller und religiöser Hinsicht setzte sie keinerlei Grenzen, weder bei Freundschaften noch in der Liebe. Sie liebte, sobald man ihr gegenüber Interesse bezeugte und sobald sie feststellte, dass sie der anderen Person wichtig war. Das war für sie umso klarer, als dass Liebe in ihren Augen der Grundpfeiler des Lebens war. Weder ein spannendes Berufsleben noch ihr Dasein als Mutter beeinträchtigten die Kraft ihrer Gefühle und die Unmenge an Liebe, die sie für einen Mann bereithielt. Da sie nicht in der Lage war, allein zu leben, träumte sie von der »ewigen Liebe«, wobei sie ein Faible für gutaussehende und aufmerksame Männer hatte. In der Tat war unser Vater ein sehr attraktiver Mann, ebenso wie später der mysteriöse Australier …
Mutter lernte Jack bei einem der seltenen Male kennen, die sie uns besuchte, als wir zwischen 1981 und 1986 in Israel lebten. Sie hatte nicht die Mittel, Reisen zu machen, und auch ich konnte sie ihr nicht ermöglichen. Sie lebte nach der Scheidung von den Unterhaltszahlungen, mit denen sie ihre bescheidene Miete und ihr Essen bestreiten konnte. Ich besichtigte Masada mit ihr, ein steiles antikes Ausgrabungsgelände, wo ich es fast geschafft hätte, sie müde zu machen. Als wir den felsigen und stark abfallenden Weg wieder hinabstiegen, sagte sie zu mir: »Viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre müde geworden!« Das war eine Seltenheit. Ihre Wissbegierde war unersättlich, und sie liebte es, uns zu besuchen. Sie war begeistert von ihrer Schwiegertochter. Natürlich stellte sie uns Jack nicht auf der Stelle vor, als sie ihn kennengelernt hatte, aber einige Zeit danach kündigte sie mir von Paris aus per Telefon an, dass sie nach Sydney in Australien fliegen würde, wo der Mann lebte, den sie bei diesem Aufenthalt kennengelernt hatte. Sie war bis über beide Ohren verliebt. Und wir waren erleichtert, sie glücklich zu wissen.
Dieser Jack wollte unsere Mutter heiraten, aber für ihn kam es nicht in Frage, längere Zeit in Paris zu bleiben, weil er sich ein Leben in Australien aufgebaut hatte. Allan hatte das Glück, ihn kennenzulernen, als er einmal unsere Mutter besuchte. Jack war ein großer, braun gebrannter, muskulöser Mann, ein aschkenasischer Jude, von dem wir nicht genau wissen, wo er herkam und warum er nach Australien ausgewandert war, doch diese Verwurzelung war eine Schwierigkeit, denn unsere Mutter hatte Bindungen in Paris, vor allen Dingen ihre Mutter, die Unterstützung brauchte. In jüdischen Familien, ebenso wie in allen alten Kulturen, lässt man alte Eltern nicht allein. Man bindet sie in das Leben der Jüngeren ein, was leichter geht, wenn der Platz fürs Wohnen nicht so eingeschränkt und teuer ist wie in Paris. Oma Sarah war doppelt wichtig für Mutter, nachdem sie ihren geliebten Vater verloren hatte. Oma Sarah hatte einige Zeit bei ihrem Sohn Jacques in der Familienwohnung in der Rue de Turenne 41 gelebt, zog aber irgendwann in eine kleine Zweizimmerwohnung in der Rue de la Folie-Mericourt 84 im 9. Pariser Gemeindebezirk, die für einige Jahre bequemer für sie war. Aber als sie etwas über achtzig Jahre alt war, wollte sie nicht mehr allein zu Hause bleiben und suchte um einen Platz in einem Altersheim an. Mutter, die sich zu diesem Zeitpunkt gerade in Sydney aufhielt, eilte sofort herbei, ebenso wie Allan, der extra aus Lyon anreiste, und unser Vater, der gerade auf der Durchreise in Paris war. Als sie alle in dem Zimmer standen, das Oma Sarah mit jemandem teilte, sahen sie eine solche Traurigkeit in ihren Augen, dass Mutter den Eindruck hatte, ihre eigene Mutter in ein Sterbelager abgeschoben zu haben. Oma Sarah beklagte sich nicht, doch als Allan das Zimmer verließ, sagte er: »Hier können wir sie nicht lassen …« Sein Herz wäre bei diesem Anblick fast gebrochen, unserer Mutter ging es nicht anders, und so fasste man stehenden Fußes die Entscheidung, sie aus dem Heim zu holen. Mutter sagte spontan: »Ich nehme sie zu mir!« Allan fiel die Rolle zu, dem Direktor zu erklären, dass man die Großmutter mitnehmen würde. Man packte den Koffer, setzte sie ins Auto und fuhr sofort in ein Restaurant, um diese glückliche Entscheidung zu feiern. Oma Sarah war glücklich, und Mutter hatte keine Gewissensbisse mehr. Sie fuhr nie wieder nach Sydney.
Die Geschichte mit Jack endete nach sechs Monaten einer intensiven Leidenschaft auf diese Weise. Mutter betonte ihr ganzes Leben, dass er einer jener Männer gewesen sei, die sie am meisten geliebt hatte. Der Beweis: Sein Foto prangte neben Papa und Mike Brant an der Wand ihres Wohnzimmers.
Unsere Mutter gab Oma Sarah ein Zimmer, das sie für sich hatte, in einer bekannten Umgebung. Damals erhielt unsere arme Großmutter eine Nachricht von der brasilianischen Botschaft, dass man ihr, im Anschluss an die Annahme eines neuen Gesetzes, mit dem man die Anzahl der Staatsangehörigen beschränken wollte, die brasilianische Staatsbürgerschaft entzog. Da unsere Großmutter niemals die französische Staatsbürgerschaft beantragt und die polnische seit Ewigkeiten verloren hatte, wurde sie auf einmal staatenlos. Eine gewisse Zeit lang versuchte Oma Sarah daher, die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Man wollte Papiere von ihr, dann wieder Papiere und dann noch einmal Papiere. Irgendwann einmal sagte sie dann: »Jetzt reicht es! Ich lebe seit siebzig Jahren in diesem Land, wenn Frankreich mich nicht will, dann ist mir das auch egal!« Und so starb sie — staatenlos. Mutter hatte sich zwei oder drei Jahre lang um unsere Großmutter gekümmert — bis zu ihrem ungewöhnlichen Ableben im Beisein unseres Vaters. Unser Vater schaffte es immer, in den wichtigen Augenblicken des Lebens anwesend zu sein. Er war gerade auf der Durchreise und besuchte unsere Mutter, als diese die Großmutter zum Zähneputzen ins Bad begleitete. Dort sah Oma Sarah in den Spiegel und brach plötzlich über dem Waschbecken zusammen — ein Herzstillstand. Mutter rief unseren Vater zu Hilfe, da sie die alte Dame nicht halten konnte. Unser Vater nahm Oma Sarah in seine Arme und trug sie zum Bett. Es war vorbei.
Mutter war stolz, Oma Sarah betreut zu haben. Es hatte sie auch nie gestört, früher Oma Yetti beim Aufstehen und Duschen zu helfen, als sie das nicht mehr allein schaffte. Für sie war diese Sorge um die Alten etwas ganz Natürliches, und ich denke, dass sie, als sie selbst eine alte Dame geworden war, sehr froh gewesen wäre, wenn wir ebenfalls auf diese Art für sie gesorgt hätten. Doch die Welt hatte sich geändert, und Kinder kümmerten sich nicht mehr in dieser Weise um ihre Eltern. Allan und ich hatten nach unserer Scheidung beide wieder geheiratet.
Allan ließ sich 1985 scheiden und heiratete dann Colette, seine jetzige Frau, die Mutter sofort in ihre Arme und ihr Herz schloss. Er lebte nun in Paris und machte es sich zur Gewohnheit, unsere Mutter mehrere Male pro Woche zu besuchen. Im darauffolgenden Jahr kam ich mit meiner ersten Frau und unserer dreijährigen Tochter aus Israel zurück. Unser Lebensstandard war in diesem Land einfach zu eingeschränkt. Wir mochten die Menschen, egal, ob Juden oder Araber, und hatten gute Freunde kennengelernt. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo so viele unterschiedliche Nationalitäten im Alltag zusammenleben, so viele Kulturen, die sich gegenseitig bereichern, und so viele verschiedene kulinarische Traditionen und Bräuche. Es ist ein junges, dynamisches Land, doch die Kehrseite dieser Medaille ist ebenfalls deutlich spürbar. Im Vergleich zu Frankreich, diesem reichen Land, wo wir das Glück hatten, auf die Welt zu kommen, und das jahrhundertelang sein Staatswesen und seine Verwaltung perfektionierte, ist die Funktionsweise einer Gesellschaft, die erst im Entstehen begriffen ist, im Alltag ziemlich schwierig. Als wir uns mit dem Eintritt unserer Tochter Noa in den Kindergarten dauerhaft in dem Land niederlassen hätten müssen, entschieden wir uns, nach Frankreich zurückzukehren. 1988 kam Jessica auf die Welt, 1990 Keren, wodurch unsere Mutter zu einer stolzen vierfachen Großmutter wurde. Drei von den Enkeln lebten in Paris. Ich besuchte meine Mutter mit meiner Familie jeden Sonntag, Allan besuchte sie sogar noch öfter als ich. Als ich mich 1994 scheiden ließ, hielt meine ehemalige Frau Maryline den Kontakt mit meiner Mutter weiterhin aufrecht, die sich, ihren Grundsätzen getreu, nicht in unser Privatleben einmischte. Als ich mich in andere Frauen verliebte, die ich im Ausland getroffen hatte oder die aus irgendeinem fremden Land gekommen waren, nahm Mutter sie mit ebensolcher Liebenswürdigkeit auf. Mady, eine Portugiesin, mit der ich sieben Jahre lang zusammenlebte, erfreute sich der gleichen Wertschätzung meiner Mutter, die selbst Portugiesisch sprach und in diesem Land im rettenden Exil gelebt hatte, wie meine zweite Frau Olga, eine Weißrussin, oder meine Lebensgefährtin aus Ecuador, die ich in Buenos Aires kennengelernt hatte. Meine Freundinnen waren selten Jüdinnen, weil ich im Rahmen meiner Arbeit, meist dem Tourismus, viel reiste. Wie unsere Mutter liebte ich die Fremde.
Unsere Mutter machte sich keine großen Sorgen um uns, weil sie wusste, dass wir arbeitsam waren, es war ihr aber bewusst, dass sie uns kein Erbe hinterlassen würde können. Sie litt ihr ganzes Leben darunter, ihre kleine Einnahmequelle, das Lokal in der Rue d’Aboukir, verloren zu haben. Wir kamen immer durch — es blieb uns keine andere Wahl. Ich arbeitete im Tourismus, im Bereich des Ferienwohnrechts, mit Frankiermaschinen, im Immobilienneubau, bei der Störungsbehebung in der Informatik, als Statist, in der Autovermietung, ganz egal, wohingegen mein Bruder im Handel tätig war. Auch wenn wir nie Großverdiener waren, versuchten wir doch, unsere Mutter zu unterstützen, indem wir sie in ein Restaurant ausführten, ihr Einkäufe brachten oder sie in die Ferien mitnahmen. Doch das, was für sie am meisten zählte und was wir ihr nicht bieten konnten, war die Liebe eines Mannes. Glücklich war sie nur, wenn sie in einer Paarbeziehung mit jemandem lebte, der für sie sorgte.
Manchmal konnten wir an ihrer Stimmung und ihrem Zeitplan feststellen, dass sie mit jemandem eine Beziehung hatte, wenn wir diese Person nicht gar bei ihr antrafen. Aber keiner schien auf die Dauer der Passende zu sein. Und schließlich machten wir eines Tages die Bekanntschaft eines Geigers, der nicht Geige spielen konnte und der uns nicht besonders aufgefallen wäre, es sei denn durch die Tatsache, dass unsere Mutter ihm mehr Aufmerksamkeit schenkte, als er verdiente.
Einige Zeit später kündigte unsere Mutter zu unserer großen Überraschung an, dass sie wieder heiraten würde — und zwar diesen Herrn. Es handelte sich um einen Mann, der keine Papiere hatte, aus einem östlichen Land stammte, keinen Groschen in der Tasche und nicht die Absicht hatte, irgendeiner Arbeit nachzugehen. Außer Geige spielen. Er besaß tatsächlich eine, holte sie jedoch nie aus ihrem Koffer heraus. Er war zwar nett und schmeichlerisch zu unserer Mutter, aber nichtsdestotrotz war er ein weiterer Esser, der nichts tat, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Die große Schwäche unserer Mutter war das Bedürfnis nach der beständigen Anwesenheit einer anderen Person, und in dieser Hinsicht war der Mann perfekt, weil er obdachlos und ohne jeden Anhang war. Unsere Mutter wollte ihn also heiraten, weil der Mann keine Aufenthaltsgenehmigung hatte und sonst wieder aus Frankreich ausreisen hätte müssen — dabei hatte sie nie zu jemandem etwas über ihre Gefühle gesagt. Das war typisch Mutter — die Großzügigkeit in Person, ohne irgendwelche berechnenden Hintergedanken. Sie überlegte sich nicht einmal, dass sie, wenn sie wieder heiraten würde, keine Unterhaltszahlungen mehr von unserem Vater bekäme, keine Witwenpension, wenn er vor ihr sterben sollte, und auch keine Wohnbeihilfe mehr. Unsere Mutter erhielt eine minimale Unterhaltszahlung und einige Befreiungen, wie die Herabsetzung der Miete im Gemeindebau, aber sie war eindeutig nicht in der Lage, einen Mann durchzufüttern.
Da ich damals in Israel wohnte, lud sie Allan und Colette zu einem kleinen informellen Hochzeitsessen ein — mehr war aufgrund von Geldmangel nicht drin. Unsere Mutter und der glückliche Auserwählte wussten, dass wir dieser Verbindung gegenüber nicht positiv eingestellt waren. Aber sie sollte glücklich sein. Doch das Glück war nur von kurzer Dauer. Einige Monate später konnte unsere Mutter einfach nicht mehr, war finanziell vollkommen ausgeblutet, weil sie jemanden durchfütterte, der im arbeitsfähigen Alter war, sich aber als Künstler fühlte. Ein Geiger, den wir nie spielen gehört hatten. Wenn er unserer Mutter eine Serenade versprochen hatte, dann konnte sie nicht anders, als weich werden. Alle in der Familie haben eine romantische Veranlagung. Wenn unser Vater unsere Mutter überraschen wollte, dann bereitete er ein Dinner bei Kerzenlicht vor. Sie änderte sich nie — sie war mit achtzig genauso wie mit sechzehn Jahren.
Unsere Mutter wurde mit 48 Jahren geschieden und bedauerte noch mit sechzig und siebzig, nicht den Traummann ihres neuen Lebens getroffen zu haben. Sie lernte zwar manchmal Männer kennen, die ihr gefielen, in die sie sich vielleicht sogar verliebte, aber ohne dass dies zu einer dauerhaften Paarbeziehung geführt hätte, von der sie träumte. In solchen Fällen vertraute sie sich Freundinnen an, die versuchten, sie zu bremsen, um ihr eine weitere Enttäuschung zu ersparen. Doch trotz dieses Singledaseins war ihr Leben sehr kurzweilig. Abgesehen von der Beziehung zwischen Eltern und Kindern hatten wir nie ein sehr intensives Familienleben, aber sie hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrer Cousine Huguette und ihrem Bruder Jacques, bis dieser zu Beginn der 1990er Jahre verstarb. Da sie nie mit irgendjemandem stritt, traf sie weiterhin nicht nur Maryline, meine erste Frau, sondern auch William, meinen ehemaligen Schwager, ebenso, wie sie weiterhin Kontakt zu ihrem Ex-Mann hielt. Einer ihrer neuen Freunde wunderte sich eines Tages darüber und sagte: »Was macht denn der hier?« Wenn Mutter jemanden liebte, dann für immer. Sie hielt Einsamkeit so schlecht aus, dass sie weiterhin ausging, ins Café gegenüber, ins Kino, zu Abendveranstaltungen, wo sie sich mit ihren Freunden unterhielt und auf den Märchenprinzen wartete.
Die Paare, mit denen unsere Eltern während ihrer Ehe Kontakt hatten, blieben meist Mutters Freunde, aber nach der Scheidung sah man sich weniger, denn Paare gehen eher mit Paaren aus und Singles mit Singles. Sehr oft waren die Ehen nicht mehr das, was sie früher waren, und alle Kinder waren mittlerweile ausgeflogen. Im Laufe der fast vierzig Jahre, die auf die Scheidung im Jahr 1980 folgten, kamen einige neue Gesichter hinzu. Sie schaffte es weiterhin, in einem Lokal einen Kaffee zu trinken und uns voller Begeisterung zu erklären, dass sie jemand Wunderbaren kennengelernt habe. Mit ihrem Freundeskreis ging sie essen, ins Kino, wo sie sich immer die Filmpremieren ansah, und wenn ihre Mittel es ihr erlaubten, auch ins Theater. Sie las viel, Bücher und Zeitungen, hörte Radio, sah lange fern und stand als richtige Nachteule spät auf. Sie war immer auf dem Laufenden, und ihre Gesellschaft war angenehm, auch für uns, ihre Kinder. Sie blieb ihr ganzes Leben lang neugierig, kokett und immer bereit, sich zu unterhalten. Sie liebte es, wenn man sie besuchte, und mehr noch, wenn man sie ins Restaurant ausführte. Sie erzählte uns von den Filmen, die bald ins Kino kommen würden, von den Höhen und Tiefen im Leben dieser oder jener Schauspielerin oder Fernsehmoderatorin und war über das Gesellschaftsleben sehr viel besser informiert als wir. Bald konnte sie schon richtige Gespräche mit ihrer ältesten Enkeltochter Noa führen, die fünfzehn Jahre alt war und die bei ihr die Liebenswürdigkeit und Fröhlichkeit vorfand, die man in diesem Alter so schätzt. Doch ihrem Großmutterdasein stand eine bedeutsame Änderung bevor, ohne dass unsere Mutter darin einen Grund für Kummer gesehen hätte.
Im Jahr 1998 baten meine Exfrau Maryline und ihr neuer Lebensgefährte, der in der Folge ihr Mann werden sollte, mich zu einem Gespräch, und, wenn möglich, um meine Zustimmung zu einer für mich wenig erfreulichen Entscheidung: Sie wollten sich mit unseren drei Töchtern Noa, Jessica und Keren, die fünfzehn, zehn und acht Jahre alt waren, in Israel niederlassen. Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich begeistert war, aber die Stimmung in der Schule hier gefiel mir auch nicht: Meine älteste Tochter war in einem kurzen Rock hingegangen und wurde von einem Jugendlichen als »dreckige Hure« beschimpft. Dabei gingen die Mädchen nicht in einem Bezirk zur Schule, der als »schwierig« galt, sondern im 19. Pariser Gemeindebezirk. Ich hatte Zweifel, was die Sicherheit junger Mädchen anging, weil viele Menschen, die normalerweise Autoritätspersonen sind, tatenlos zusehen. Das gilt nicht nur für die Polizei, sondern für wichtige Personen im Alltagsleben — zu Hause, in der Schule, im öffentlichen Raum. Beschimpfungen werden oft nicht geahndet. Schon bevor ich Antisemitismus befürchtete, waren mir Unhöflichkeit, mangelnde Erziehung und komplettes Laissez-faire in Bezug auf »Jugendliche« immer ein Gräuel, eine Bezeichnung, die in den Medien praktisch zu einem Synonym für »Delinquent« geworden ist. Man sagt, die »Jugendlichen« hätten dies oder jenes getan, und gleich darauf werden Verfehlungen genannt, als wären diese beiden Dinge untrennbar miteinander verbunden. Das stimmt aber nicht, denn wir waren alle einmal jung und haben trotzdem ordentlich gesprochen, ohne Mädchen zu beschimpfen, ältere Menschen anzurempeln und Mauern oder U-Bahnen zu besprühen. Schwerwiegende Probleme beginnen mit diesen Unhöflichkeiten, die einen so perplex machen, dass einem das Wort wegbleibt, und die der Einstellung, »ein Recht auf alles und jedes« zu haben, den Weg bereitet. Also gab ich meine Zustimmung und hoffte, dass meine Töchter unter gebildeten Personen aufwachsen würden, auch wenn Israelis sehr direkt, ja schroff miteinander umgehen.
Ich fürchtete nicht, dass meine Töchter extrem religiös werden würden, wie das bei dem Sohn meines besten Freundes Bernard der Fall war, nachdem er nach Israel ausgewandert war. Er beachtete die Ernährungs- und Ritualvorschriften in Übereinstimmung mit dem religiösen Kalender derart genau, dass es manchmal schwierig für den Vater und den Sohn wurde, auch nur gemeinsam zu essen. Aber irgendwie schafften sie es dann. Meine Ex-Frau war nicht sehr religiös. Ihr Mann hielt zwar den Sabbat ein, indem er weder kommunizierte noch arbeitete, aber er war nicht fanatisch und würde es nie werden. Sie ließen sich in Herzlia, einer lebhaften und fröhlichen Stadt in der Nähe von Tel Aviv, nieder, wo meine Töchter zu modernen jungen Mädchen heranwuchsen, wie das auch in Frankreich der Fall gewesen wäre, und dies ohne die Risken, die einem Vater Kopfzerbrechen machen. Die Tatsache, dass sie Frankreich verließen, tat mir weh, aber ich stimmte dennoch zu. Die direkt spürbare Auswirkung für unsere Mutter bestand darin, dass sie nunmehr keine Enkelkinder mehr in Paris hatte. Sie war jedoch sofort bereit, die ganze Sache positiv zu sehen: Wenn man ihr half, ein Flugticket zu finanzieren, dann war sie mit Freuden bereit, die lange Reise mit mir auf sich zu nehmen, um Maryline und ihre geliebten Enkeltöchter zu sehen.
Maryline und die Mädchen kamen einmal pro Jahr, um Mutter zu besuchen, die sich ansonsten daran gewöhnte, jede Woche zu telefonieren und die Fotos zu betrachten, über die sie sich immer so freute. Natürlich hat Noa als Älteste die engste Beziehung zu ihrer Großmutter behalten, weil die beiden einander am besten kannten. Zu Beginn der 2000er Jahre hatte Mutter mehrere Monate lang einen sehr engen Kontakt zu ihrem Enkelsohn Alexandre, weil er bei seinem Praxisjahr in Paris, als er in der Gastronomie arbeitete, bei ihr wohnte. Sie war äußerst glücklich über diese ständige und überdies noch junge Gesellschaft, denn sie sagte oft: »Die Alten, die deprimieren mich.«
Je älter unsere Mutter wurde, desto mehr schätzte sie es, wenn sie Jüngere um sich hatte, denn sie war ihnen an Energie, Begeisterungsfähigkeit und geistiger Frische gleich. Sie waren weder krank noch langweilig, waren auf dem Laufenden wie sie selbst und ließen sie nicht allein, indem sie wegstarben, was bei Mutters Freunden immer häufiger der Fall war. Irgendwann war dann unser Vater an der Reihe, der doch immerhin neun Jahre älter war als sie.
Als unser Vater, der mit seiner Lebensgefährtin Ruth in Hannover lebte, im November 2003 verstarb, war das ein großer Schock für uns. Er kam mehrmals pro Jahr extra nach Paris, um uns zu sehen, so wie wir manchmal die Reise zu ihm auf uns nahmen. Wir gingen gemeinsam essen und genossen seine stille Gesellschaft und den immer wohlwollenden Blick seiner blauen Augen. Auch er wurde natürlich älter, und mit etwa achtzig Jahren musste er sich einer Herzoperation unterziehen. Technisch gesehen war die Operation ein Erfolg — nur leider wachte er nicht mehr auf. Allan und ich fuhren sofort nach Hannover, als er noch im Koma lag, und Ruth nahm uns sehr liebenswürdig bei sich auf. Wir wollten die Hoffnung nicht aufgeben, aber zehn Tage später überbrachte uns Ruth die schlechte Nachricht. Mutter litt sehr unter dem Ableben ihres »Kuti«. Er war der erste Mann ihres Lebens — nach ihrem Vater natürlich —, derjenige, der für sie am wichtigsten gewesen war. Ihr ganzes Leben lang erzählte sie Menschen, die sie neu kennenlernte, wie sehr sie ihn geliebt hatte. Papas deutsche Lebensgefährtin, der sicherlich bewusst war, dass Papa sein ganzes Leben eine sehr liebevolle Beziehung zu unserer Mutter gehabt hatte, war so rücksichtsvoll, unsere Entscheidung mitzutragen, als wir beschlossen, Papa in der Nähe des Familiengrabs der Kerbels am Friedhof von Bagneux zu beerdigen. Allan und ich fuhren erneut nach Hannover, um die Bestattung zu organisieren. Der Körper unseres Vaters wurde überführt, und seine Lebensgefährtin äußerte nicht den Wunsch, der Bestattungsfeier in Frankreich beizuwohnen. Allans und meine Existenz hatten ein unzerreißbares Band zwischen unserem Vater und unserer Mutter geknüpft, auch wenn Vater irgendwann nicht mehr mit ihr leben wollte. Diese Tatsache respektierten beide Frauen nach dem Ableben unseres Vaters, über alle eigenen Gefühle hinweg. Allan hielt lange Jahre den Kontakt mit Ruth aufrecht, aus Anerkennung für das Glück, das unserem Vater mit ihr zuteilwurde. Dann verloren wir sie irgendwann aus dem Blickfeld. Das ist zwar in gewisser Hinsicht idiotisch, aber sie war weder unsere Mutter noch unsere Stiefmutter und gehörte zu dem Leben, das unser Vater sich in Deutschland aufgebaut hatte. Wir achteten immer sehr auf die Privatsphäre aller Beteiligten.
Mutter überwand diesen Schlag, wie sie schon so viele verwunden hatte, und der Alltag nahm wieder seinen Lauf. Von Zeit zu Zeit ging sie auf Reisen, die sie immer lieber machte und die zu moderaten Preisen für Senioren mit geringem Einkommen von der Gemeinde Paris organisiert wurden: Sie fuhr nach Spanien, zu den italienischen Seen und an viele andere Orte. Sie zog den Süden vor, auch wenn sie unserem Vater zuliebe seinerzeit oft nach Deutschland gefahren war. Der Liebe wegen wäre sie bis ans Ende der Welt gefahren — sogar nach Australien! Sie fand neue Freunde, vor allem Renée, eine Pensionistin, die ebenso unternehmungslustig und dynamisch war wie sie, Geneviève, Jacques und andere, von denen wir nicht einmal den Vornamen kannten.