Von der Pflicht, Überlegungen anzustellen, ohne je wirklich zu verstehen

Die Anwesenheit einer so großen Menschenmenge rührte uns, denn sie bewies das, was in dem einige Tage danach veröffentlichen Manifest gegen den Antisemitismus stand, das ich unterzeichnete, dass nämlich »Antisemitismus nicht die Sache der Juden, sondern die Sache aller« ist. Ich kann mich nicht erinnern, mehr als zehn Petitionen in meinem ganzen Leben unterzeichnet zu haben. Als Ilan Halimi vor zwölf Jahren ermordet worden war, herrschte noch große Naivität in Bezug auf dieses Thema. Bei den öffentlichen Ehrungen wie jener nach dem Gemetzel vor der Schule in Toulouse sah man praktisch nur Juden, und man musste mitansehen, wie Menschen das Verbrechen als unwichtig abtaten: »Schon wieder knallt’s zwischen den Juden und den Muslimen.« Denn man muss zugeben, dass die Urheber dieser Verbrechen in jedem Fall der muslimischen Kultur angehörten, auch wenn sie nicht immer religiös waren, egal, ob einem diese Tatsache gefällt oder, wie der Mehrzahl aller Franzosen, nicht gefällt.

Sie führen zwar Allah im Mund wie der oder die mutmaßlichen Mörder unserer Mutter, aber trotzdem trinken die meisten Alkohol und führen ein sehr freizügiges Leben weitab religiöser Vorschriften. Man sah »die Juden«, anstatt das jüdische Opfer zu sehen, und »die Muslime« in ihrer Gesamtheit, anstatt Einzelpersonen zu benennen, die, wenn auch nicht immer, mehr oder weniger radikalisiert waren. Bei den Knolls tranken wir Liebe mit der Muttermilch, und es ist keineswegs heuchlerisch, das zu sagen, denn sie war ein Grundprinzip unserer Eltern und lange Zeit eine jüdische Tradition aus Anerkennung dem Gastland gegenüber: »Frankreich liebt uns, es hat zwar während des Krieges eine Politik der Deportation verfolgt, es gab aber viele Heiden — das ist die Bezeichnung, die man Völkern gibt, die keine Juden sind —, die halfen. Man muss nach vorne schauen, und ihr werdet durchkommen, seid fleißig in der Schule.« Und wenn wir nicht einverstanden mit diesen Worten, wenn wir nicht dankbar gewesen wären, wären wir die Schande unserer Familie gewesen, und Züchtigungsmaßnahmen, mit dem Ziel, uns wieder auf den rechten Weg zu bringen, wären nicht ausgeblieben. Das ist das Essenzielle, von dem ich gerne sprechen möchte: Bevor man sich über Religion unterhält, muss man sich des Problems Nummer eins, nämlich der Erziehung, bewusst werden.

Wenn es irgendeine Gemeinsamkeit zwischen allen Mördern gibt, dann die Tatsache, dass sie alle vollkommen ungebildet sind. Bevor man von ideologischen Problemen wie Islamisierung, Radikalisierung und anderen spricht, sollte man sich darüber klar sein, dass diese Individuen keinerlei Bildung haben. Sie kennen nicht einmal die elementaren Regeln des Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Sie haben nichts in der Schule gelernt, und man hat nichts gegen diese Tatsache unternommen. Sie haben sich die Füße auf den Sitzen der öffentlichen Verkehrsmittel abgewischt, und man hat nichts gesagt. Sie haben auf den Boden gespuckt, und man hat nichts gesagt. Sie haben Mädchen angestoßen und auf der Straße oder im Schulhof als Huren beschimpft, und man hat nichts gesagt. Sie haben ihre Kollegen zusammengeschlagen, und man hat nichts gesagt. Und eines Tages haben sie dann einer alten Dame die Handtasche weggerissen oder Drogen verkauft — jedem Alter seine Delikte —, und dann bekamen sie es von Zeit zu Zeit mit der Polizei zu tun und wurden von der Justiz verurteilt. Dann kamen sie ins Gefängnis, wo sie »sich radikalisierten«. Was radikalisierte sie? Das Nichts in sich selbst? Von diesem Augenblick an klammerten sie sich an die Vorstellung, dass sie Opfer seien, denn dieser Status ist bequemer als der eines Täters, aber irgendwann muss man dann den Tatsachen in die Augen sehen: Wer wurde geschädigt, wer hat den Nutzen daraus gezogen? Man behauptet, die soziale Not führe zu Kriminalität, aber kennen wir nicht alle Menschen, die trotz Unterstützung durch das gelobte Land Frankreich bitterarm sind, und dennoch nie gestohlen haben und auch nicht daran denken, es zu tun? Sie bilden sich ein, sich an die Religion ihrer Väter anklammern zu können, um sich zu rechtfertigen, aber diese Wurzeln sind ziemlich imaginär, denn ich glaube nicht, dass man im Land ihrer Vorväter, in das sie oft nicht einmal ihren Fuß gesetzt haben, toleriert hätte, dass sie sich in der Gesellschaft benehmen, wie sie das in Frankreich tun! Alle Mörder waren Rechtsbrecher, Kriminelle und Rückfalltäter — die mutmaßlichen Mörder unserer Mutter wie auch die anderen. Jeder normale französische Bürger leidet im Alltag unter diesem Mangel an Erziehung, an Respekt und an Werten bei diesen Delinquenten. Egal, ob man Atheist, Jude, Christ oder Muslim ist, man leidet täglich darunter, zum Beispiel, weil einem der Vorrang im Auto von einem Typen genommen wird, der sich für eine große Nummer hält, weil er es schaffte, sich von schmutzigem Geld eine große Karosse mit getönten Fenstern zu kaufen, oder weil man in der Schlange im Supermarkt beschimpft oder auf der Straße angerempelt wird. Ich und alle anderen Bewohner der sogenannten »schwierigen« Viertel, ich weiß, wovon ich spreche, denn ich lebe mitten in einem Vorort im Norden von Paris, in Seine-Saint-Denis (93). Meine netten muslimischen Nachbarn, die mich zum Fest des Fastenbrechens einladen, sind die Ersten, die sich über dieses Übel beklagen, das die französische Gesellschaft aushöhlt und von Personen ausgeht, die zum Teil zu ihrer kulturellen Familie gehören. Sie haben keine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen, und tun nicht so, als ob sie sie nicht sähen. Meine philippinische Frau, die sehr asiatisch aussieht, wurde einmal im Viertel so sehr von jemandem bedrängt, dass sie nicht mehr allein zu Fuß zur Schnellbahn RER gehen will. Ist das normal? Wie haben die Eltern derer, die sie belästigten, ihre Kinder erzogen? Was haben sie gemacht? Nichts. Sie haben sie nicht erzogen. Sie haben ihnen zu essen gegeben, wenn überhaupt. Tieren bringt man bei, nicht gegen Mauern zu pinkeln, aber diese Menschen tun das. An bestimmten Orten in den U-Bahn-Gängen stinkt es so furchtbar, dass man kaum noch Luft bekommt. Die neue Maßnahme der Regierung, die vorsieht, Kinder verpflichtend ab dem Alter von drei Jahren in den Kindergarten zu geben, ist wirklich eine gute Idee, denn damit kann man vermeiden, dass die Kinder bis zum Alter von sechs Jahren sich selbst überlassen werden, wo manche bereits verhaltensauffällig und mit Ideen vergiftet sind, die absolut nicht mit den Werten der Republik vereinbar sind. Aber ist es wirklich die Aufgabe des Lehrpersonals, den Kindern die Grundlagen des Gemeinschaftslebens zu vermitteln? Ich glaube zwar, dass viele von ihnen viel zu nachsichtig sind, aber dennoch denke ich nicht, dass sie die Aufgabe der Eltern übernehmen können, vor allem dann nicht, wenn die Eltern diametral entgegengesetzt zu dem arbeiten, was in der Schule gelehrt wird. Man sollte wieder Moral- und Staatsbürgerschaftskunde einführen, selbst wenn man mich jetzt für altmodisch hält, denn es ist besser, altmodische Maßnahmen zu setzen, als später als Waisen dazustehen. Auf diese Weise könnte man vermitteln, dass Moral kein relativer Wert in Bezug auf das ist, was der Nachbar macht, oder in Bezug auf das Böse, das man ihnen angeblich will.

Manchmal versucht man, wie im Fall von bestimmten Terroristen, soziale Schwierigkeiten »als Entschuldigung« für die mutmaßlichen Mörder von Mutter anzuführen. Das hieße aber zu vergessen, dass die Mutter des einen der beiden Mutters Nachbarin und, wie die anderen Bewohner des Hauses, kein »Sozialfall« war, auch wenn sie, wie viele andere, mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Sache stellt sich anders dar. Man könnte auch, wie im Fall mancher Verbrecher, sexuellen Missbrauch während der Kindheit ins Treffen führen, was die Presse im Übrigen über Y kolportierte. Man könnte auch noch auf andere Dinge verweisen. Na und? Unser Vater musste Leichname beseitigen, er musste mitansehen, wie Dutzende Menschen vor seinen Augen durch eine Kugel getötet wurden, er sah den Rauch aus den Gaskammern aufsteigen — kam er deshalb jemals auf die Idee, alte Damen zu erdolchen? Oder ihre Körper zu verbrennen? Hat er Frauen oder Jugendliche vergewaltigt? Die dann wiederum andere aufgrund dessen foltern, was sie erlebt haben? Wenn all diejenigen, die in ihrem Leben ein Trauma erleben mussten, zwangsläufig selbst wieder zu Tätern würden, dann wäre es vorbei mit unserem Leben!

Es ist höchste Zeit, der Vorstellung der Unausweichlichkeit der Wiederholung ein Ende zu setzen! Irgendwann im Leben muss man erwachsen werden und verstehen, dass man verantwortlich für seine Taten ist, und wenn das nicht der Fall ist, dann sollte man ein Minimum an gesundem Menschenverstand beweisen und einsehen, dass man eine Gefahr für alle anderen darstellt, und sich in Behandlung begeben, um seinen bösartigen Neigungen widerstehen zu können. Im Falle des mutmaßlichen Mörders unserer Mutter war dieses grauenhafte Verbrechen kein Einzelfall, sondern sein drittes Delikt, wenn man nur Gewaltakte gegenüber Personen berücksichtigt. Hatte er nie einen Psychiater zu Gesicht bekommen? Man kann sich in Frankreich gratis behandeln lassen, und er war bereits für eine Betreuung vorgesehen. Durch seine zahlreichen Gefängnisstrafen hatte man ihm bereits eine psychiatrische Behandlung auf dem Silbertablett serviert.

Das Problem von Deliktherden, die sich normalerweise in den Vororten von Großstädten befinden, besteht darin, dass niemand dieses Problem wirklich in die Hand nehmen will. Man erklärt uns, dass das bereits Millionen Euro kostet, aber man sollte keine Kosten scheuen, wenn man nur endlich ein Ergebnis erreichen würde. Denn wenn man nicht genug macht, wenn man die Menschen nicht erzieht und bestraft, wenn man die Augen verschließt, mit dem Argument, das Problem sei außerhalb der Stadt angesiedelt und stelle sich zumindest nicht in unmittelbarer Umgebung der Entscheidungsträger, die oft Pariser aus schönen Wohngebieten sind, dann wird dieser Aussatz weiter an Terrain gewinnen. Wenn das Problem dann einmal die schönen Wohngebiete erreicht hat, dann wird es so überhandgenommen haben, dass man nichts mehr dagegen tun kann. Bereits heute leben wir in einem zweigeteilten Land: Auf der einen Seite haben wir Frankreich, das ein schönes und insgesamt sicheres Land ist, auf der anderen Seite gibt es rechtsfreie Gebiete, wie das genannt wird. Diese Gebiete breiten sich aus und gewinnen jedes Jahr an Boden. Demokratien sind jedoch schwach. Sie haben ein Problem damit, einen Taugenichts als Taugenichts zu bezeichnen. Eine Demokratie benimmt sich, als ob jeder Bürger per definitionem das für eine Demokratie erforderliche Verhalten an den Tag legte. Sie räumt Rechte ein, als ob die Pflichten selbstverständlich wären. So ist es aber nicht — manche nehmen sich alle Rechte, lehnen aber jede Pflicht ab. Die Dinge stehen so, dass ich mir nicht einen Augenblick vorstellen kann, Jovitas Töchter an dem Ort, wo wir wohnen, bei uns leben und in die Schule gehen zu lassen. Sie haben eine richtige philippinische Erziehung genossen und sind somit höflich und freundlich, daher kann ich sie keineswegs von heute auf morgen in einen Schulhof meines Bezirks verpflanzen! Sie würden auf der Stelle massakriert werden! Sie wären nicht auf der Hut, haben nicht gelernt, zu streiten, misstrauisch zu sein, sich zu verteidigen, denn sie haben nie in einem »rechtsfreien« Gebiet gewohnt! Was heißt, dass wir umziehen müssen — in einen ruhigeren Vorort. Das ist nicht normal.

Die Anrufung des Islam mit der Parole Allahu akbar! durch die Mörder schiebt sich wie ein Schirm vor die intellektuelle und gesellschaftliche Not dieser Menschen. Noch einmal, nicht alle Menschen, die sich in einer schwierigen sozialen Situation befinden, erwürgen oder verbrennen andere, knallen sie mit einer Kalaschnikow ab, werfen sie aus dem Fenster oder begehen andere Grausamkeiten. Diese Mörder verwenden Gott als einen Vorwand, um zu morden und ihren Tötungsinstinkt wie wilde Tiere ausleben zu können, weil sie vollkommen ungebildet sind und nie irgendetwas gelernt haben, als dem erstbesten Prediger Glauben zu schenken. Manche Passagen ihres heiligen Textes rufen zu Gewalt auf. Sie werden wortwörtlich interpretiert und erscheinen ihnen dann wie die ewige und nicht relativierbare Wahrheit: Das füllt die Leere in ihnen. Wie ein Text aus dem Talmud zeigt, in dem zehn verschiedene Meinungen von großen Weisen zu ein- und derselben Bibelpassage dargelegt werden, liegt die Wahrheit immer in der Mitte, da, wo sich tausend verschiedene Wege kreuzen. Solche Menschen aber kennen nur einen Weg, den einzigen, den sie je gegangen sind — und der führt zum Tod anderer. Zum Tod derer, die etwas anderes, anders oder nichts glauben, zum Tod Jugendlicher, die Musik hören, von Menschen, die ihre Einkäufe machen, von Mädchen auf Terrassen von Cafés, von Passanten, die die Straße entlangschlendern oder ein Feuerwerk ansehen — zum Tod all dessen, was sich bewegt und lebt. »Es steht geschrieben«, sagen sie und greifen Passagen aus dem Koran heraus, die eventuell zum Mord und insbesondere dem an Juden aufrufen, was selten gesagt wird. Aber alle Muslime beziehen sich auf den gleichen Text, und trotzdem wenden ihn glücklicherweise nicht alle gleich an! Die von einigen Persönlichkeiten geforderte Reform wäre sicherlich ein guter Schritt, denn alle monotheistischen Religionen haben solche Bestrebungen durchgemacht: andere Zeiten, andere Sitten.

Wie Emmanuel Macron in seiner Ehrung im Hôtel des Invalides sagte: »Die religiösen Verbrämungen, mit denen diese Menschen sich schmücken, sind nichts als fehlgeleitete Spiritualität und die Verneinung des Geistes an sich. Sie negieren den Wert, den wir dem Leben geben.«

Das Problem in Frankreich sind nicht die Muslime an sich, sondern die zehn Prozent, die sozial deklassiert sind, die auch ihrer Glaubensgemeinschaft schaden und der gesamten Bevölkerung das Leben vergällen. Wurden die beiden mutmaßlichen Komplizen des Mordes unserer Mutter im Gefängnis radikal? Diese Frage wurde gestellt, aber wir wissen nichts Genaueres dazu. Wozu dieses Allahu akbar? Ist das ein Modeeffekt? Man fragt sich wirklich, warum, wenn allein das Anklicken von pädophilen Seiten vom Gesetz bestraft wird, das Anklicken von islamistischen Seiten, die unter Umständen zu Verbrechen im Namen Gottes aufrufen, nicht unter Strafe steht. Man hört manchmal, dass man auch zu Informationszwecken auf solche Seiten gehen könnte, aber die Polizei wird doch in der Lage sein, einen Unterschied zwischen einem forschenden Historiker oder einem Journalisten und einem vielfach rückfälligen Delinquenten zu machen, der sich an Videos von Enthauptungen und anderen barbarischen Akten delektiert. Wenn solche Dinge angeblich dazu dienen, etwas zu lernen, dann könnte man sich ebenso gut vorstellen, dass der Pädophile sich nur informiert, solange er keine Taten setzt: Das ist Unsinn! Man muss einsehen, dass es Dinge gibt, die keinem normalen Menschen Freude machen, ob es nun um barbarische Exekutionen oder sexuelle Handlungen mit Kindern geht, und dass das Ansehen solcher Dinge nur das Gefühl des Grauenhaften herunterspielen und die Hemmschwelle für das Verbrechen verringern soll. Es ist ebenso eine Schande, dass sich Mörder in den sozialen Netzwerken ungestraft feiern lassen dürfen und sogar den Status eines »Märtyrers« bekommen. Das ist der Grund, weshalb wir beschlossen, die beiden nur mit einer Initiale zu erwähnen.

Es wäre uns lieber gewesen, uns niemals zu so ernsthaften Dingen äußern zu müssen. Das ist nicht unsere Sache. Dafür waren wir nicht bestimmt. Wir wollten niemals das Lebensende unserer Mutter mit so viel Ernst erleben, wo sie doch so gern lachte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Glück: Sie wurde gewarnt, als die Razzia stattfand, sie hatte einen brasilianischen Pass, sie nahm alle mit offenen Armen auf und wurde nie enttäuscht. Bis sie den Weg dieser beiden Irren kreuzte!

Die Polizei schickte uns sofort zu einem Psychologen vom Opferhilfsservice in der Rue de Charenton im 12. Pariser Gemeindebezirk. Ich war einmal dort, Jovita dreimal und Allan regelmäßig, weil er Trost darin findet. Das ist ja eine sehr gute Sache, aber Jovita und mir schien das keine Lösung zu sein. Mit oder ohne psychologische Unterstützung weinten wir mehrmals am Tag, wohingegen Allan erstarrt ist und immer noch nicht weinen kann. Colette hat sich ebenfalls noch nicht von dem Schock erholt. Jovita bekam Nervenkrisen beim Fernsehen und ertrug es nicht länger, Mutter am Bildschirm zu sehen, so als wäre sie noch unter uns. Für Allan ist die Situation noch härter. Er hatte Mutter zwei Stunden zuvor noch gesehen. Er sieht ihr Gesicht wie erstarrt vor sich. Im Gegensatz zu mir sah er an dem Tag, als Mutter starb, den mutmaßlichen Mörder, als er noch so »nett« war, wie sie glaubte. Allan sagt mir, dass er sie, wenn er die Augen schließt, immer wieder vor sich sieht, im gleichen Umfeld und in Gesellschaft dieses Individuums, das sie töten sollte. Immer wieder stellt er sich die Frage »und wenn« »und wenn«, doch niemand kann das Unvorhersehbare vorhersehen. In den ersten Wochen schliefen wir wohl kaum mehr als drei Stunden pro Nacht, und in den darauffolgenden Monaten litten wir viele Stunden unter Schlaflosigkeit. Das wird sich wahrscheinlich nie mehr ändern.

Unser einziger Trost bestand darin, dass wir Unterstützung in Worten und Gesten aus der ganzen Welt, oft über Messenger, bekamen — insgesamt etwa hundert. Sie kamen von Atheisten, Katholiken, Muslimen, Juden, Jungen, Alten, Mitgliedern der Partei La France insoumise, aus Katar, Marokko, Tunesien, Los Angeles und Brasilien, insbesondere von jener Dame, die uns so wertvolle Informationen schickte und die Spuren der Familie von Mutters Onkel in Rio ausforschte. Wir erhielten Fotos von Dutzenden von Zeichnungen und Bildern, die unsere Mutter darstellten und ihre Initialien in Form von kleinen Kerzengirlanden zeigten. Wir erhielten Nachrichten, in denen zum Beispiel auf Schildern stand: Wir alle sind Knolls. Selbst die Menschen im Wohnhaus erhielten aufmunternde Nachrichten aus aller Welt, von Kaufleuten oder Institutionen des Viertels, von den Läden, in denen Mutter eingekauft hatte, dem Friseur, der Direktorin der Krippe, die sich unter ihrem Balkon befand, denn alle waren geschockt. Es war das Viertel, in dem wir gelebt hatten und aufgewachsen waren. Das Viertel, in das wir ab diesem Zeitpunkt mit zwei Ausnahmen nicht mehr gehen konnten.

Seit dem Tod unserer Mutter am 23. März konnten wir die Wohnung nicht mehr betreten, weil die Kriminalpolizei ihre Arbeit verrichten musste. Die Siegel sind immer noch angebracht. Jetzt, im Sommer 2018, wo wir dieses Buch schreiben, dürfen wir immer noch nicht in die Wohnung. Wir wissen nicht, was von ihr noch übrig ist. Nur im Fernsehen sahen wir die Wohnungstür von außen, zusammen mit einem Foto unserer Mutter und großen roten Herzen, die Nachbarn als Hommage an sie ausgeschnitten hatten. Das rührte uns natürlich. Wir haben keinerlei Zugang zur irgendetwas, das ihr Leben ausmachte. Wir konnten nicht, wie das sonst bei Trauerfällen in allen Familien ist, in Ruhe durch die Wohnung gehen, über die Möbel streichen, voller Nostalgie vor dem Lehnstuhl haltmachen, in dem sie aß, und uns mitten in ihrem Universum mit ihrem Ableben vertraut machen. Die Brutalität des Verbrechens geht mit der Brutalität ihres plötzlichen Verschwindens einher: Mutter ist nicht mehr da, und uns bleibt nichts mehr von ihr.

Um über ihr Leben erzählen zu können, mussten wir, weil wir keinen Zugang zu ihren Erinnerungsstücken hatten, die auch die unseren sind, die Gedanken aller rund um uns zusammentragen, ohne uns auf Dokumente oder Fotos stützen zu können. Wir hatten uns immer über Mutter lustig gemacht und sie gefragt: »Aber was willst du mit all diesen Alben und diesem Papierkram machen? Willst du nicht langsam etwas aussortieren?« Heute wären sie von unermesslichem Wert für uns, und sind sie das auch, wenn sie nicht verbrannten. Sie befanden sich in Holzschränken, die geschlossen waren, also vielleicht haben sie den Brand überlebt. Oder zumindest ein kleiner Teil?

Glücklicherweise sagte meine jüngere Tochter Keren, wahrscheinlich, weil ihre Kinder größer werden und Fragen über ihre Herkunft stellen, letztes Jahr, ein Jahr vor Mutters Tod, zu mir: »Wir wissen nichts über die Geschichte der Familie.« Daher stellte ich Mutter einige Fragen, ohne auf die Idee zu kommen, dass es bald für immer zu spät dafür sein würde. Es tut mir leid, dass ich mich nicht genug für die Details interessierte. Von der Seite unseres Vaters habe ich das Glück, Onkel Erwin zu haben, das Gedächtnis unserer Familie väterlicherseits. Aber auf der Seite unserer Mutter gibt es Dinge, die wir nie mehr in Erfahrung bringen werden.

Die Wohnung unserer Mutter zu betreten ist ein Bedürfnis ebenso wie ein Albtraum. Wir werden in eine verbrannte Wohnung kommen. Wir werden sehen, welche Dinge von emotionalem Wert kaputt sind, denn von materiellem Wert gab es nichts. Wir werden uns die Szene des Mordes vorstellen müssen. Wir wissen nicht einmal ein tragisches Detail, nämlich inwieweit das Blut rund um die Szene abgewaschen wurde. Vielleicht werden wir auf dem Tisch noch die Gläser vorfinden, in denen die Mörder den Porto getrunken haben, den unsere Mutter ihnen serviert hatte, wenn sie nicht als Beweisstücke verwendet wurden. Im Kühlschrank werden noch alle Einkäufe sein, die wir für sie gemacht haben. Alles Dinge, die uns sicherlich wehtun.Wir wissen nicht, was wir vorfinden werden, und manchmal sagen wir uns: »Glücklicherweise müssen wir nicht heute hingehen.« Es wird sicher ein fürchterlicher Schock werden … Sowohl Allan als auch ich meiden das Viertel und nehmen sogar große Umwege in Kauf, um nicht die Straßen unserer Kindheit wiederzusehen, jenen Weg gehen zu müssen, der »zu Mutter« führte und den wir seit mehr als fünfzig Jahren auswendig kennen. Jovita, die die Angewohnheit hatte, bei der Metro-Station Nation auszusteigen, hat jedes Mal Tränen in den Augen, wenn diese Richtung auf der Anzeigetafel aufscheint. Nur zweimal mussten wir zu dem Wohnhaus zurückkehren, und jedes Mal war es eine Qual.

Das erste Mal kamen wir am 12. April, weil der Präsident der Mietergemeinschaft und die Nachbarn eine Ehrung von Mutter in Anwesenheit der Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, des derzeitigen und früheren Bezirksvorstehers des 11. Pariser Gemeindebezirks und unserer Freunde und Verwandten vornahm. Sie spendeten einen Baum, der an diesem Tag unter Mutters Fenstern gepflanzt wurde. Unser Blick wanderte unwillkürlich zu den Mauern hinauf, auf denen die Spuren des Verbrechens in Form von schwarzen Flecken, die von der Stärke des Brandes zeugen, immer noch abzulesen sind. Doch die Nachbarn sorgten dafür, dass wir uns angenehmeren Dingen zuwandten, nämlich den Erinnerungen, die alle an Mutter hatten. Anne Hidalgo berichtete uns von ihrer Absicht, eine Straße in Paris nach unserer Mutter benennen zu wollen. Das sind symbolische Gesten, die uns guttun, denn all dies dient dazu, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und zum Ausdruck zu bringen, dass man sie ebenso liebt, wie sie die anderen liebte. Wir sahen auch, gegen unseren Willen, zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf und stellten uns vor, was sich dahinter abgespielt haben mochte. Auf den Gitterstäben des Gebäudes, die im Verhältnis zur Straße etwas nach hinten versetzt und auf einem kleinen Vorsprung angebracht sind, entdeckten wir das, was wir bereits in den Medien gesehen hatten, nämlich ein Porträt unserer Mutter, das außen befestigt war mit Blumen und Karten. Die Nachbarn hatten das Foto gewählt, wo sie im Jahr 2013 ihre Ehrenmedaille zum fünfzigsten Jahrestag ihres Einzugs in die Wohnung überreicht bekam, ein Tag, an dem Jovita sie zum Tanzen brachte. Das zweite Mal waren wir anlässlich des Gedenkgottesdienstes am 15. April in dem Viertel, der traditionellerweise einen Monat nach dem Ableben stattfindet. Nach der Synagoge gingen wir mit den Mitgliedern der Familie essen und trafen uns am Boulevard Voltaire. Doch seit diesem Zeitpunkt meiden wir das Viertel — bis zu dem Tag, an dem wir die Erlaubnis erhalten, die Wohnung zu betreten, und an dem wir zwischen unserem Bedürfnis, dies zu tun, und der Angst davor zerrissen sein werden. Wir müssen im Beisein der Anwälte der »Verdächtigen« hingehen, was diesen Augenblick, der ein Moment der Besinnung sein sollte, zu einer Nervenzerreißprobe machen wird. Es ist klar, dass Ys Mutter zu ihrer eigenen Sicherheit eine andere Wohnung zugeteilt bekam, auch sie wurde von der Polizei befragt, aber vielleicht ist sie noch auf freiem Fuß, wir wissen es nicht.

Allan, der oft bei Mutter zu Mittag aß, isst heute allein in einem Bistrot, so weit von dem Viertel unserer Kindheit entfernt wie möglich. Bei diesen einsamen Mahlzeiten hat er alle Zeit der Welt, an Mutter zu denken. Sie fehlt ihm fürchterlich. Wir werden das nie wirklich verkraften.

Einige Juden in Frankreich schrieben uns und stellten uns diese Frage, als ob unsere tragische Erfahrung uns zu Hellsehern gemacht hätte, was nicht der Fall ist. In unseren Augen sollte die Frage anders lauten, nämlich: Gibt es eine Zukunft für die Bewohner Frankreichs? Können wir alle, Juden und Nichtjuden, hier in Sicherheit leben?

Zur Frage der Juden: Wir würden es uns nicht erlauben, anderen gute Ratschläge zu erteilen, noch dazu, wo es sich hier um eines der wenigen Themen handelt, über das Allan und ich nicht einer Meinung sind. Allan fühlt sich zu hundert Prozent als Franzose, ist in Frankreich verwurzelt und findet, dass es für einen Franzosen vollkommen undenkbar ist, Frankreich zu verlassen. Ich hingegen bin viel kosmopolitischer eingestellt. Ich fühlte mich in fast allen Ländern der Welt, in die ich fuhr, glücklich, und ich bin sehr viel gereist. Wenn Allan eines Tages fliehen müsste, dann nach Kanada. Allan hat volles Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit Frankreichs und die Intelligenz der französischen Bevölkerung — und ich immer weniger. Ich bin sehr pessimistisch, was die Zukunft unserer viel geliebten Freiheiten betrifft.

Seit Jahren hatte ich das Gefühl, dass ich meine Pension woanders verbringen will, und was passierte, gibt mir recht. Ich kenne Israel gut, weil ich dort gelebt habe. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich den Alltag leicht fand, aber es gibt eine unbestreitbare Lebensqualität durch die Nähe zum Meer, das Wetter und die prickelnde Atmosphäre voller Jugendlichkeit und Freude. Es handelt sich um ein Land, über das viel Schlechtes gesagt wird, aber es ist eine Demokratie, in seinem Parlament gibt es auch Christen und Muslime, es ist ein Land, in dem ein ehemaliger Präsident und ein Ex-Premierminister im Gefängnis landeten, was in Frankreich nie vorkäme. Ich habe eine persönliche Beziehung zu Israel, weil meine Töchter Israelis wurden. Nach zwanzig Jahren in diesem Land fühlen sie sich dort eher heimisch als in Frankreich, vor allem Keren, die jüngste meiner Töchter, die erst vier Jahre alt war, als sie nach Israel ging, und weniger gut Französisch spricht als ihre Schwestern. Ihr ganzes Leben spielt sich in diesem Land ab. Es ist ein nicht von der Religion bestimmtes Leben, möchte ich hinzusetzen. Meine Töchter lieben ihre Freiheit, sie schminken sich, tragen feminine Kleidung, feiern, machen Sport und gehen in Herzlia an den Strand, wenn sie nicht arbeiten, denn sie sind, wie ihre Mutter, aktive, ja sogar hyperaktive Frauen. Noah, die Älteste, die heute 34 Jahre alt ist, wurde Graphikerin, Jessica, 29 Jahre alt, ist Hippotherapeutin für Autisten und Kellnerin, und Keren war zuerst zehn Jahre beim Militär und arbeitet nun im Hightech-Bereich. Zwei von ihnen, die Älteste und die Jüngste, haben Israelis geheiratet, und ich habe vier Enkelkinder in diesem Land.

Daher schlägt mein Herz zumindest teilweise in Israel. Ich fühle mich dort auch sicherer als woanders, ganz einfach deshalb, weil die Israelis leider viel Erfahrung mit terroristischen Akten auf der Straße haben, ganz im Gegensatz zu den französischen Sicherheitskräften. In Israel hat jeder Polizist, Soldat oder jeder junge Mensch, der in der Armee war und auf der Straße patrouilliert, das Recht und sogar die Pflicht, die Bürger vor einem Angriff durch einen Terroristen zu schützen. Wenn ich höre, dass die Israelis »unverhältnismäßig« reagiert hätten, wenn sie einen mit einem Messer bewaffneten Angreifer erschießen, frage ich mich, worauf man denn warten soll. Eine meiner Töchter war Militärangehörige, die beiden anderen haben studiert. Aber alle drei hätten in diese Art von Situation kommen können, denn sie waren, wie alle jungen Israelis, verpflichtet, ihren Militärdienst abzuleisten, der für die Mädchen zwei, die jungen Männer drei Jahre beträgt. Sie sind in keiner Weise gefährliche Kriminelle, das können Sie mir glauben. Doch das Gefühl der Sicherheit ist nicht alles im Leben. Viele Franzosen haben die Alija gemacht. Manche kommen enttäuscht wieder zurück, weil Israel kein Garten Eden ist. Ich weiß nicht, ob ich mich für Israel entscheiden würde, wenn ich Frankreich verlassen müsste, und ich würde es nicht verlassen, weil ich Jude, sondern weil ich ein Bürger bin. Aus Überdruss vor der ständigen Respektlosigkeit, dem Mangel an Anstand und wegen der verbalen und vor allem physischen Gewalt — da geht es mir wie allen anderen Menschen. Die Leute halten es langsam nicht mehr aus und werden schließlich massenhaft für Parteien stimmen, die keinerlei Lösung haben oder Methoden anwenden werden, an die man besser nicht denkt. Seit ich Jovita kenne, träume ich von den Philippinen, wo meine wahrscheinlich bescheidene Pension es mir ermöglichen würde, besser zu leben als woanders. Ich habe die friedliche Sanftheit dieses Landes, wo die Menschen liebenswürdig und sehr gut erzogen sind, sehr geschätzt! Letztes Jahr musste ich mir solche schwerwiegenden Fragen stellen, als ich erfuhr, dass ich an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs litt, den man glücklicherweise rechtzeitig entdeckt hatte. Als ich Mutter davon erzählte, blieb sie sehr gefasst: Allan hatte bereits mehrere gehabt und war dennoch wieder zur Gänze gesund geworden. Ich war viel weniger ruhig als sie! Aber unsere Mutter hatte Vertrauen in die Medizin, das gleiche Vertrauen wie das, das sie zu allen Menschen hatte. Damals dachte ich mir, dass ich wohl nach Asien ginge, wenn ich mich eines Tages von der Welt zurückziehen müsste. Aber ich glaube, dass ich wirklich ein ewiger Jude bin, verliebt in Reisen und in die Freiheit. Vielleicht fühle ich mich auch mehr als Franzose und weniger als Weltenbürger, als ich denke, zumindest bin ich ein glücklicher Bürger jenes Teils von Frankreich, der gut erzogen ist.

Wir fuhren am 16. April, einen Monat nach Mutters Tod, auf die Philippinen. Diese Reise war seit langem geplant, denn wir wollten bei der Übergabe des Diploms eines Luftfahrtmechanikers an Jovitas Sohn anwesend sein. Es war die Reise, gegen die Mutter so protestiert hatte. Ich beschloss jedoch sehr schnell, sie nicht abzusagen, um nicht mit dem Argument, dass wir einen enormen Kummer durchlebten, einen jungen Mann zu enttäuschen, aber auch, um mich für das Leben zu entscheiden und dem Tod den Rücken zuzukehren, im Namen unserer Philosophie, die darin besteht, nach vorne zu schauen und an andere zu denken. Ich wusste auch, dass mir nichts so guttun würde, als mich mit Menschen zu umgeben, denen ich Gutes tun kann, die mich lieben und die ich liebe, in einer Gesellschaft, die die Gewalt nicht zu kennen scheint. Während des ganzen Aufenthalts von einem Monat auf den Philippinen und dann in Vietnam, den wir mit höflichen und freundlichen Kindern verbrachten, schien all das, was sich in Frankreich abspielte — Presseartikel oder Nachrichten, die ich bekam —, durch die Entfernung ein wenig abgemildert zu sein. Ich sage »ein wenig«. Jovita und ich weinten abwechselnd, und jeder neue Tag begann mit Tränen, sobald unser Bewusstsein wieder erwachte. Daran zu denken, was unsere Mutter gelitten hatte, nachdem es uns seit unserer frühesten Jugend beschäftigt hatte, was unser Vater durchgemacht haben musste — das wird uns für den Rest unseres Lebens verfolgen. Dazu kommt noch die nagende Frage, auf die es nie eine Antwort geben wird, nicht einmal am Ende des Gerichtsprozesses: Warum?

Der erschwerende Umstand des Antisemitismus wurde von den Anwälten eines der mutmaßlichen Komplizen in Frage gestellt, was wir, wie alle anderen, am 21. Mai durch die Presse erfuhren. Die Familien der Opfer erfahren Dinge oft erst aus den Medien, und das ist ganz besonders schmerzhaft, insbesondere, als es um die Messerstiche ging, die sie erhalten hatte. In diesem Fall waren wir eher verblüfft, denn es wurde behauptet, dass der Grund des Verbrechens nicht Antisemitismus sei, weil das Motiv komplexer Natur sei.

Wie kann man so tun, als wüsste man nicht, dass Antisemitismus selten das einzige Motiv für ein Verbrechen ist?

Er tritt immer im Zusammenhang mit einem Vorurteil, einem Vorwand, einem Fehler, dem berühmt-berüchtigten »Grund« auf. Dass unsere Mutter Jüdin war, wusste Y seit Ewigkeiten, und dennoch hatte er sie nie zuvor attackiert. Sie hatte ein oder zwei Gegenstände religiöser Natur in ihrem Wohnzimmer, sie verbarg nichts, denn sie war überzeugt davon, dass die Zeit des Geredes hinter vorgehaltener Hand und der Verwünschungen vorbei sei. Was führte Y an diesem Tag zur Wohnung unserer Mutter, und was passierte, dass er sich zu dieser Tat hinreißen ließ, obwohl er seit jeher wusste, dass sie Jüdin war? Meinte er, die Heimhilfe vorzufinden, die ihn geklagt hatte, und sich an ihr oder ihrer Tochter rächen zu können? Lenkte er diesen Zorn auf unsere Mutter und machte seinem latenten Hass auf Juden Luft? Nährte er diesen Hass auf Juden im Gefängnis, wo er sich »radikalisierte«, oder kam er durch den Kontakt mit seinem Komplizen, den er im Gefängnis getroffen hatte, zustande? Wie dem auch sei, das Ende all dessen, was in dieser Wohnung passierte, waren der Schrei Allahu akbar! und zwei Ungeheuer, die, wie sie selbst erklärten, auf die Shoah und die Gründung Israels zu sprechen gekommen waren, zwei neuralgische Punkte der jüdischen Identität. Der israelisch-palästinensische Konflikt stellt nach der Meinung einiger Leute einen »Grund« dar, aber seien wir uns ehrlich: Wenn jedes Volk oder jede Glaubensgemeinschaft das andere Volk oder die andere Glaubensgemeinschaft für jene zahlen ließen, von denen sie denken, dass sie der anderen wegen am anderen Ende der Welt leiden, dann würden wir in einem permanenten Guerillakrieg leben!

Die mutmaßlichen Mörder hatten getrunken, auch das ist ein »Grund«, so wie es viele Gründe gibt — eine schwierige Vergangenheit oder psychische Labilität. Antisemitismus und Terrorismus sind immer multifaktoriell, aber trotzdem sind die Faktoren immer die gleichen. Das Profil eines typischen Mörders ist immer jenes eines Schulabbrechers, der zu einem vielfach rückfälligen Kriminellen und einem mehr oder weniger offenkundig radikalisierten Islamisten wird. Ein Antisemitismus ohne »Grund«. Ich zweifle daran, dass so etwas existiert. Ob dieser Anklagegrund nun aufrechterhalten oder zurückgenommen wird — wir sagten seit dem Beginn, dass das nicht unsere Angelegenheit ist und wir Vertrauen zu der Justiz unseres Landes haben. Die Strafe der Verbrecher wird dadurch vielleicht schwerer oder weniger schwer — die unsere wird gleich bleiben. Wir haben unsere Mutter durch ein Verbrechen verloren. Für uns wird es nie einen »Grund« geben.

Als wir in der Endphase der Arbeiten für dieses Buch waren, wurden wir am Montag, den 16. Juli zur Untersuchungsrichterin bestellt. Allan ging um 14:45 in ihr Büro und kam erst um 17:30 wieder heraus. Ich wartete darauf, wann ich an die Reihe käme, und fragte mich, wie lange es noch dauern könnte, was für Dinge man da zu berichten hätte, bis auch ich um 17:40 ins Büro gerufen wurde und bis 19:40 dort blieb. Man ließ uns noch einmal wiederholen, was wir wussten, was wir bereits gesagt hatten, und alles wurde mit unseren früheren Aussagen verglichen. Wir waren erstaunt über die Präzision der geleisteten Arbeit und gingen einerseits zerstört und andererseits voller Vertrauen aus diesem Nachmittag hervor: Man tat alles, um eines Tages zu erfahren, wie Mutter starb. Wir brachten auch ein paar Dinge in Erfahrung: Es wurden zwei Messer gefunden, nicht nur eines, bei beiden wurde eine DNA-Untersuchung durchgeführt, obwohl eines gewaschen worden war, wie wir bereits wussten. Wir erfuhren, dass es drei Anklagen und nicht zwei gab, denn auch gegen die Mutter wurde Anklage erhoben, weil sie versuchte, die oder eine der Tatwaffen zu verstecken. Die beiden anderen Angeklagten schoben einander gegenseitig die Verantwortung für das Verbrechen zu, nachdem Y in der ersten Phase der Aussagen von A als der allein Verantwortliche bezeichnet wurde. Wir erfuhren ebenfalls, dass die Wohnung bis auf weiteres versiegelt bleiben würde, vielleicht sogar bis zur Rückgabe, dass die Justiz aber in Person der Richterin einmal vor Ort war. Offensichtlich war der Kühlschrank voll und dürfte fürchterlich gestunken haben, sobald man ihn öffnete. Das ist zwar nur ein kleines Detail, aber es ist so schmerzhaft, daran erinnert zu werden, dass Mutter fragte, was im Kühlschrank sei, uns bat, ihre Lieblingsdinge einzukaufen, da sie gerne vorrätig hatte, was sie mit Vorliebe aß — für sie war Essen so wichtig. Die Justiz musste alles unberührt lassen, und die Richterin sagte uns, dass wir wohl den Inhalt des Kühlschranks samt dem Gerät direkt entsorgen würden müssen — zu einem bis dato nicht näher bezeichneten Zeitpunkt. Wir wissen nur, dass die Untersuchung sicherlich noch ein Jahr dauern wird. Am Ende des Gesprächs konnte ich es mir nicht verkneifen zu fragen, in welchem Zustand der Flur sei. Ob der Schrank, der dort stand, verbrannt sei — wegen der Fotos und der Super-8-Filme. Die Richterin meinte, dass es so aussähe, als ob er unbeschädigt sei. Das ist alles, was uns bleiben wird — und unsere Erinnerung.

Seit unsere Mutter ermordet wurde, schickt uns das Schicksal Zeichen, die uns immer wieder zeigen, wie reich, schön und wie sehr ihr Leben auf die Liebe ausgerichtet war. Da war einerseits diese liebenswürdige Brasilianerin, die Recherchen über unsere Familie unternahm, andererseits machten wir aber auch unglaubliche, »zufällige« Bekanntschaften. Am Tag des Gedenkmarsches wurden wir eingeladen, uns neben die offiziellen Persönlichkeiten auf die Tribüne der Synagoge zu stellen. Neben uns stand ein ehemaliger Deportierter, einer der letzten, die noch am Leben waren, und stellte uns die verblüffende Frage: »Sind Sie mit Robert und Kurt Knoll verwandt? Ich war mit ihnen auf dem Todesmarsch.« Wir trauten unseren Ohren nicht. An diesem Tag erfuhren wir, dass Élie Buzyn, der Vater der Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, ebenfalls bei ihnen war. Wir versprachen einander, uns wieder zu treffen, denn dieser Mann würde uns einige Details aus dem Leben unseres Vaters erzählen können. Unsere Mutter, von deren Leben wir nach und nach ein immer klareres Bild bekamen, war der Grund dafür, dass wir diesen Mann trafen — ganz als ob Papa und Mama auf ewig miteinander verbunden seien.

Während Allan in die Synagoge ging, sobald er konnte, setzte ich fast nie meinen Fuß hinein. Ich glaube aber, dass ich in diesen drei Monaten öfter in der Synagoge war als während der 62 Jahre davor. Wir versuchten, nach Maßgabe unserer Möglichkeiten, die Einladungen der verschiedenen jüdischen, aber auch muslimischen Vereinigungen anzunehmen. Für mich war es wichtig zu sprechen, während Allan zur Ruhe kommen wollte, was unserem jeweiligen Temperament entspricht. Am 11. April 2018 war Allan bei der Verlesung der Namen am Shoah-Gedenkmal im 4. Pariser Gemeindebezirk dabei. Bei dieser Zeremonie wird die Liste aller jüdischen Deportierten aus Frankreich verlesen, und zwar jedes Jahr ein Drittel, also mehr als 25.000 Namen jedes Jahr über einen Zeitraum von drei Jahren, bevor man mit einem neuen Zyklus beginnt. Diese Lesung dauert etwa 24 Stunden, Tag und Nacht. Ich nahm dafür an einer Zeremonie der Bürgermeisterin von Rom teil, bei der das Porträt unserer Mutter auf einem riesigen Transparent auf der Fassade des Bürgermeisteramtes prangte. Ich sprach mit einem Senegalesen über Israel, mit Feministinnen muslimischer Vereinigungen über die Gleichheit der Geschlechter im Judentum, ich nahm Jovita, meine katholische Frau, überallhin mit, wo es nur ging, und überall wurden wir mit offenen Armen aufgenommen. Ich brauchte Gründe, um zu hoffen. Ich verfolge heute wie mein Bruder ganz genau den Kampf gegen den Antisemitismus, ohne dass ich deshalb wüsste, wie man dieses Problem angehen könnte — außer mit Bildung. Bildung, insbesondere in Form von Geschichtsunterricht, wobei nicht toleriert werden sollte, dass Druck gemacht wird, damit man die Shoah nicht im Unterricht behandelt.

Eine im Jahr 2008 vom französischen Bildungsministerium in Auftrag gegebene Studie kam zu dem Schluss, dass die Hälfte der Schülerinnen und Schüler nicht wusste, was die Shoah war. 37 Prozent von ihnen dachten, dass weniger als zweieinhalb Millionen Juden dabei getötet wurden. Doch Geschichte ist nicht alles. Der Beweis dafür, dass man nichts aus ihr gelernt hat, ist, dass auch heute noch Völkermord möglich ist und niemand etwas tut, wie der Mord an 800.000 Tutsis innerhalb von drei Monaten im Jahr 1994 in Ruanda zeigt. Vielleicht wäre es gut, das Judentum bekannter zu machen, seine vielen Gesichter, den Sinn bestimmter, leicht verständlicher Gebräuche wie des Sabbat zu erklären, indem man zum Beispiel Jugendliche, die keine Juden sind, zu einem Mahl einlädt? Vielleicht wird unsere Kultur verkannt, und unsere Religion erscheint deshalb so suspekt, weil wir nicht versuchen, andere zum Konvertieren zu bringen, schon gar nicht mit Gewalt. Wie im Falle unserer Mutter besteht auch unsere Politik immer nur darin, unsere Hand anderen entgegenzustrecken.

Wir bekamen viel Trost während dieser schwierigen Zeit, und wir konnten ermessen, von welchem Übel nicht die Welt, sonderen einige Individuen und sektiererische Bewegungen befallen sind, die jedoch genau das behaupten — wie schlecht die Welt sei. Eines Tages sagte ein junger Rabbiner in einer Synagoge zu mir, unsere Mutter sei ein Symbol für das ganze jüdische Volk, weil sie »als Jüdin getötet worden sei«, und er fügte hinzu: »Bestimmt ist Ihnen das passiert, weil Sie schöne Dinge weiterzugeben haben, es ist eine Gelegenheit, öffentlich das Wort zu ergreifen.« Trotz der guten Absicht muss ich sagen, dass es mir leidtut — so weit geht mein Glaube nicht: Wir hätten es vorgezogen, gar nichts weitergeben zu müssen! Mir wäre es lieber gewesen, einfach weiterzuleben und das zu tun, was ich will, wie mein Onkel Isaak es mir nahegelegt hatte — oder zumindest nicht allzu viele Dinge zu tun, die ich nicht will. Und für Allan hätte es geheißen, einfach nur seine spirituelle Reise fortzusetzen. Für uns wäre es besser gewesen, nicht über Antisemitismus nachdenken und nicht als Opfer dastehen zu müssen, was nun wohl unser ganzes Leben lang der Fall sein wird. Doch als wir in Ruhe nachdachten, stellten wir fest, dass wir doch etwas Schönes weiterzugeben hatten, nämlich das Leben unserer Mutter. Wir wollten zeigen, wie sehr ihre Offenheit und Originalität jenen zur Freude gereichten, die sie kannten, und wie sehr sie allen mit Liebenswürdigkeit begegnete, die sie in ihrem Leben traf, bis auf den Letzten. Möge sie ein Beispiel für jeden von uns sein, damit wir das Leben lieben, wie sie das Leben liebte — und nicht den Tod. Von einem Leben gibt es immer viel zu erzählen. Mutter liebte es, geliebt zu werden — das war ihre kleine Schwäche. Wir hoffen, dass sie, wo auch immer sie sein möge, sieht, dass wir mit diesem Buch zu ihrem Gedenken etwas beigetragen haben und dass wir uns damit als gute Söhne erwiesen.