Heute kann man in Frankreich sterben, weil man Jude ist. Der Mord an Mireille Knoll reiht sich in eine Serie von antisemitischen Gewaltverbrechen und Terrortaten ein, die unser Nachbarland seit fast zwei Jahrzehnten erschüttert. »Lebn wi Got in Frankrajch«, die im Jiddischen seit langer Zeit gebräuchliche Redewendung über das Leben wie Gott in Frankreich trifft weniger denn je zu. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 8. Oktober 2023 schlägt den Juden der Hass immer häufiger entgegen. Frankreich verzeichnet einen neuen Höchststand antisemitischer Übergriffe. 2023 wurden 1676 antisemitische Straftaten registriert, im Jahr 2022 waren es 436 gewesen. Der Alltag in einem Land mit geschätzt sechs Millionen Muslimen ist für die etwa eine halbe Million Juden mehr denn je von der Angst geprägt.
Der Verdrängungsprozess der Juden aus hauptsächlich von Einwanderern aus dem arabisch-islamischen Kulturraum bewohnten Vierteln der Hauptstadt ist gut dokumentiert. Im vergangenen Jahrzehnt sind in der Hauptstadtregion etwa 60.000 Juden umgezogen, weg aus den nördlichen und östlichen Vororten in die »sicheren« westlichen Vororte oder hinein nach Paris. Hinzu kommt ein Exodus ins Ausland. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat nach jedem Attentat in Frankreich aktiv um Auswanderungswillige geworben: »Wir sagen zu den Juden, unseren Brüdern und Schwestern: Israel ist euer Zuhause.« Der Soziologe Danny Trom (Frankreich ohne Juden) schreibt, dass jedes Jahr ein paar Tausend Juden ihre Heimat verlassen und nach Israel, die Vereinigten Staaten oder nach Kanada übersiedeln. Wie viele inzwischen in Israel leben, lässt sich auch an einer traurigen Bilanz ablesen. Unter den Todesopfern der Hamas in Israel waren 41 Menschen mit französischem Pass, die in einer nationalen Gedenkfeier am Invalidendom in Paris vom Präsidenten geehrt wurden. »Wir sind hier, um uns daran zu erinnern, dass unser Leben, ihr Leben, es verdient, dass wir unermüdlich gegen Ideen des Hasses kämpfen, dass wir einem grassierenden, enthemmten Antisemitismus hier wie dort nicht nachgeben. Denn nichts kann ihn rechtfertigen, nichts. Nichts kann diesen Terrorismus rechtfertigen oder entschuldigen, nichts«, sagte Emmanuel Macron im Innenhof am Invalidendom.
Die Vorboten des grassierenden Antisemitismus wollte man indessen lange nicht sehen. Lehrer schlugen kurz nach der Jahrtausendwende in einem Sammelband über die »verlorenen Gebiete der Republik« Alarm, dass sie die Geschichte des Holocaust in bestimmten Vierteln mit hohem Einwanderungsanteil nicht mehr unterrichten können. Die Schüler weigerten sich einfach, Eltern drohten den Pädagogen. Auch Unterricht über die Gründung des Staates Israel und den Nahost-Konflikt fiel an etlichen Schulen aus — Schulleiter wollten keinen Aufstand. Während der zweiten Intifada (2000 bis 2005) fanden Stellvertreterscharmützel in Form von judenfeindlichen Graffitis, Schimpfwörtern und Gesten (die schändliche Quenelle, eine Art umgedrehter Hitlergruß) in bestimmten Vierteln statt. Die Identifizierung der Banlieue-Jugend mit den Palästinensern ist über die Jahre immer stärker geworden.
Die Gewalt erreichte eine neue Dimension. Anfang 2006 schlossen sich ein Dutzend junge Männer aus sozialen Brennpunktsiedlungen zu einer sogenannten Bande der Barbaren zusammen und entführten einen jungen Mann, Ilan Halimi. Mehrere Wochen folterten sie ihn in ihrem Versteck, »weil er Jude war«. Am 13. Februar 2006 wurde Halimi sterbend im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois aufgefunden, jegliche Hilfe kam zu spät.
»Der Antisemitismus verbreitet sich wie ein Gift. Er greift an, er verdirbt den Geist, er mordet.« Die Worte des französischen Innenministers im Februar 2019 haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Der oberste Polizeichef war gekommen, um die Erinnerung an Halimi wachzuhalten. Doch es bot sich ihm ein Bild der Verwüstung an der Todesstätte Halimis. Die beiden Bäume, die zum Gedenken an den gepeinigten jüdischen Mann gepflanzt wurden, waren verstümmelt worden. Ähnliche Szenen der Schändung ereignen sich regelmäßig im Vorort Bagneux, wo eine Stele an Halimi erinnert. Es sind Variationen dessen, was der Dachverband der jüdischen Organisationen CRIF »den neuen Antisemitismus« nennt, der von jungen Leuten mit arabisch-muslimischen Wurzeln ausgeht.
Bereits am 19. November 2003 wurde der jüdische Discjockey Sébastien Selam von einem Nachbarn und Jugendfreund erstochen. Lange blieb das antisemitische Motiv im Dunklen, da dem Täter eine verringerte Zurechnungsfähigkeit eingeräumt wurde. Doch kürzlich hat der französische Präsident Selam in einem Schreiben gewürdigt, als »jungen Franzosen, der unter den Schlägen des dunkelsten Fanatismus gefallen ist«.
Nicht immer war die öffentliche Anteilnahme so groß wie nach dem Mord an Mireille Knoll.
Am 11. März 2012 erschoss der Islamist Mohamed Merah drei jüdische Kinder und ihren Lehrer an der jüdischen Schule in Toulouse. Arié, Gabriel und Jonathan Sandler sowie Myriam Monsonégo — es sind Namen, die den meisten Franzosen nichts sagen.
Da sich die Bluttat mitten im Wahlkampf ereignete, spielte der Präsident sie als Werk eines Einzeltäters herunter. Mit ihrer Trauer und ihrer Angst blieben die Juden damals allein. Schlimmer noch, der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour, der selbst jüdisch ist, hielt den vier Opfern vor, sich in Frankreich immer als Fremde betrachtet zu haben und Fremde zu sein. Damit hob er auf die Tatsache ab, dass die vier Ermordeten in Israel beerdigt wurden. Hintergrund war die Sorge, dass ihre Gräber auf französischem Boden geschändet werden könnten. Viel zu oft geschieht es, dass jüdische Grabsteine beschmiert oder umgestürzt werden, ohne eine größere öffentliche Reaktion hervorzurufen. Als 1990 auf dem jüdischen Friedhof der südfranzösischen Stadt Carpentras mehrere Gräber verwüstet worden waren, gingen damals im ganzen Land Hunderttausende Menschen auf die Straße, in Paris führte Präsident François Mitterrand den Demonstrationszug an. Doch nach dem Mord an der jüdischen Schule in Toulouse herrschte Gleichgültigkeit vor.
Das änderte sich im Januar 2015, als ein Komplize der Charlie-Hebdo-Attentäter einen jüdischen Supermarkt in Paris in seine Gewalt brachte, die Kunden als Geiseln nahm und vier jüdische Menschen tötete. Bei den Kundgebungen im ganzen Land wurde aller Terroropfer gedacht. Aber waren wirklich »alle Charlie«?
Kurze Zeit später schauten die meisten lieber weg, als über den Mord an einer 66 Jahre alten jüdischen Ärztin im Ruhestand am 4. April 2017 in ihrer Sozialwohnung in Paris berichtet wurde. Ein Nachbar, Kobili Traoré, mehrfach vorbestraft, war über den Balkon mitten in der Nacht in ihre Wohnung eingebrochen. Er schlug sein Opfer auf bestialische Weise und warf sie dann aus dem Fenster. Nachbarn erinnerten sich später, dass er Sarah Halimi im Treppenhaus wiederholt als »dreckige Jüdin« beschimpft hatte. Sie hatten in der Tatnacht Allahu-akbar!-Schreie vernommen. Medien, Politik, Justiz, es fiel allen schwer, das antisemitische Motiv anzuerkennen. Da der Täter im Cannabis-Rausch gehandelt hatte, wurde ihm eine verminderte Zurechnungsfähigkeit bescheinigt. In erster Instanz wurde Traoré im Juli 2019 für schuldunfähig erklärt und vom Mordvorwurf freigesprochen. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil Ende 2019. Die Angehörigen legten beim Kassationshof Revision ein. Präsident Emmanuel Macron forderte bei einem Israel-Besuch Anfang 2020: »Alles, was ein Prozess an Reparation bieten kann, muss stattfinden können.« Die Richter sahen in der Präsidentenäußerung einen Versuch, die Gewaltenteilung in Frage zu stellen und sich in Justizbelange einzumischen. Auch der Kassationshof entschied sich dagegen, den Täter vor Gericht zu stellen. Der Eindruck der Straflosigkeit für den Täter führte zu kurzzeitiger Empörung. Aber die Debatte über eine Gesetzesänderung, die Schuldunfähigkeit in derartigen Fällen in Zukunft ausschließen soll, wurde schnell beendet.
Erst mit dem Mord an Mireille Knoll ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Ihr Name markiert das Ende einer gewissen gesellschaftlichen Indifferenz angesichts des Antisemitismus. Mehrere Zehntausend Franzosen versammelten sich in Paris zu einem »weißen Marsch«. Auch in vielen anderen französischen Städten wurde der Ermordeten gedacht. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo löste ein Versprechen ein, das sie nach ihrem Entsetzen über den Mord 2018 gegeben hat. Sie weihte im Oktober 2021 eine Mireille-Knoll-Allee im 11. Arrondissement, nicht weit von ihrer früheren Wohnung, ein.
Der Name Mireille Knoll ist auf diese Weise zum Symbol für ein neues Bewusstsein angesichts der Anfeindungen geworden, denen die jüdische Minderheit seit Jahren ausgesetzt ist. Der Verdienst von Allan und Daniel Knoll besteht darin, ihr Leben im Kleinen nachzuzeichnen, das so charakteristisch für die Zeitläufte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts war. Ein Leben, das sie als »kleine Prinzessin« begann, getragen von elterlicher Liebe und Fürsorge, bis Krieg und Judenverfolgung die Kindheitsidylle zerstörten. Obwohl sie mit ihrer Mutter 1942 knapp der Pariser Großrazzia des Vélodrome d’Hiver entkam, blieb das Trauma der Überlebenden allgegenwärtig, auch wenn es nicht offen besprochen wurde. Die Söhne schildern den unbändigen Lebenshunger der Mutter, den sie sich nie ganz erklären konnten, aber auch, wie zu Lebzeiten ihres Vaters der Fernseher ausgeschaltet wurde, wenn Dokumentarfilme über den Krieg und die Shoah auf dem Programm standen. Die schmerzliche Vergangenheit wurde verdrängt.
Umso bitterer ist, wie Mireille Knoll, geborene Kerbel, am 23. März 2018 im Alter von 85 Jahren starb. Der Haupttäter, ein Nachbarssohn, dem sie kurz zuvor noch Portwein serviert hatte, tötete sie mit elf Messerstichen. Einer davon traf die Kehle. Dann wurde Feuer in ihrer Wohnung gelegt, um sie zu verbrennen, »ganz wie in den Konzentrationslagern, denen sie 76 Jahre zuvor knapp entkommen war«, schreiben ihre Söhne.
Die beiden Täter sind inzwischen rechtskräftig verurteilt worden, der Haupttäter Yacine Mihoub wegen der »besonders barbarischen Tat« zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung, der Mittäter Alex Carrimbacus zu fünfzehn Jahren. Beide verzichteten auf ein Berufungsverfahren. Wie Staatsanwalt Jean-Christophe Muller während der Gerichtsverhandlung betonte, markierte der Mord an der Holocaust-Überlebenden das dramatische Ende gutnachbarlicher Beziehungen zwischen jüdischen und muslimischen Bürgern in Paris. Täter und Opfer seien einander nicht fremd gewesen. Der Hass sei nicht durch Unkenntnis über die Religion und die Lebensbedingungen des anderen entstanden. »Sie lebten in der gleichen Gesellschaft, im gleichen Wohnblock, unter ähnlichen sozioökonomischen Bedingungen«, sagte Muller. Diesen Umstand müsse man gründlich analysieren. Der Staatsanwalt forderte ein »neues Bewusstsein für die Herausforderung durch den Antisemitismus, der von der islamistischen Ideologie ausgeht«.
Mihoub hatte wiederholt Vorurteile gegen Juden zum Ausdruck gebracht. Sie seien alle reich und würden die Medien und die Politik kontrollieren. In seiner Haftzelle vor der Tat hatte der wegen gewalttätigen Raubs zuvor bereits verurteilte Mihoub zudem aus Bewunderung den Namen des Terroristen Amedy Coulibaly an die Wand geschrieben, der den jüdischen Supermarkt in Paris 2015 überfallen hatte.
Dennoch bleibt eine bedauerliche Neigung bestehen, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, oder wie der Philosoph Alain Finkielkraut es formulierte: »Nicht sehen wollen, was zu sehen ist.«
Der Hass gegen die Juden in Frankreich ist nicht von außen hereingetragen worden, er hat sich auf französischem Boden entfaltet, hat sich genährt vom Scheitern in den Klassenzimmern, allen Kindern die Botschaft des »Nie wieder!« nach Auschwitz zu vermitteln. Die Anfeindungen gegen die Juden wirken wie düstere Vorzeichen für eine enthemmte Gewalt, die sich inzwischen auch gegen Lehrer richtet. Deshalb ist es so wichtig, die Erinnerung an Mireille Knoll wachzuhalten, als Mahnung für die Politik, der weiteren Verrohung der Gesellschaft beständig entgegenzuwirken. Nie war die Mahnung des Nobelpreisträgers Elie Wiesel angebrachter: »Die Opfer zu vergessen, bedeutet, sie ein zweites Mal zu töten.«
Michaela Wiegel ist seit Februar 1998 als politische Korrespondentin für Frankreich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Paris tätig.