VORKLANG
Die kleinen und die großen Fehler
In seinem Roman Kaltenburg erinnert sich Marcel Beyer an ein vertracktes Problem seiner Kindheit. Ihm fiel es schwer »anzuerkennen, dass die Seeschwalbe keine Schwalbe ist«. Aber das war nicht alles: »Die Krähenrabe ist mit der Krähe nicht verwandt, die Alpenkrähe keine Krähe, so wenig wie die Alpendohle eine Dohle ist, die Wasseramsel keine Amsel, der Wachtelkönig keine Wachtel« – und erst recht kein König, wie man hinzufügen könnte. Als Junge weigert sich der Autor, den vogelkundlichen Auskünften seiner Eltern Glauben zu schenken. Er wusste doch: »Der Bergfink lebt nicht in den Bergen, der Austernfischer ernährt sich nicht von Austern, die Schnatterente schnattert nicht, mit Eis hat der Name des Eisvogels nichts zu tun, und das Gefieder des Purpurhuhns ist durch und durch blau.«
Als erwachsener Mann kann Beyer die Fehler zwar erklären – zum Beispiel als Übersetzungsfehler aus einem griechisch-lateinischen Mischmasch -, aber er hat mit dem fehlinformierenden Wortsalat vor allem gelernt, dass es nötig ist, jeden Fall in Augenschein zu nehmen, um das jeweils Richtige höchstselbst in Erfahrung zu bringen. Man sollte nicht einfach nachbeten, was man vorgesagt bekommt, auch dann nicht, wenn niemand die Absicht hat, einen hereinzulegen oder anzuschmieren.
Diese Maxime soll auch für dieses Buch gelten. Es geht um die kleinen und die großen Fehler, die sich im öffentlichen Verständnis der Naturwissenschaften breitgemacht haben, sich hartnäckig als Mythen und Legenden halten und ein allgemeines Verstehen von Wissenschaft – das eigentliche Public Understanding of Science (PUS) – blockieren und mehr oder weniger verhindern. In vielen Fällen verbreitet sich ein Mythos durch einen falschen Namen, wie wir ihn in Beyers Roman bei den Vögeln finden. So spricht man zum Beispiel auch von der Spanischen Grippe, die als Pandemie seit dem Mai 1918 in Europa wütete und bis 1919 weltweit 25 bis 50 Millionen Menschen den Tod brachte. Die Bezeichnung erweckt den Eindruck, dass die Grippe von der Iberischen Halbinsel ausgegangen ist, was aber keineswegs der Fall ist. Der Infektionsherd der Spanischen Grippe lag vielmehr im amerikanischen Kansas, und zwar in einem Ausbildungslager der US-Armee. Von da brachten Soldaten die virulente pathogene Variante des Virus nach Europa, wo der Erreger auf eine durch Krieg und Kälte geschwächte Bevölkerung traf, die sich nur höchst mangelhaft ernähren konnte und unter verheerenden hygienischen Bedingungen lebte.
Nun lässt sich leicht argumentieren, dass die Bezeichnung Spanische Grippe zwar irreführend ist, doch wohl kaum dem richtigen Verständnis für den Krankheitsverlauf im Weg steht. Das trifft für das medizinisch relevante Geschehen bei den betroffenen Patienten möglicherweise zu, aber es macht uns zugleich ziemlich blind für die Tatsache, dass die mit einem europäischen Namen verknüpfte Infektion auch in den USA Menschenopfer forderte. Darüber hinaus löste sie eine Hysterie unter der dortigen Bevölkerung aus, in deren Verlauf viele unschuldige Menschen – Amerikaner wie Europäer – gelyncht wurden. Hätte jemand solche Gräueltaten mit einer Grippe in Verbindung gebracht?
Popeyes Kraftfutter
In vielen Fällen lohnt es sich also, genauer hinzusehen und Fehler aufzudecken, vor allem wenn dadurch möglicherweise Schaden von vielen Menschen abgewendet werden kann – etwa von den Kindern, die hierzulande immer noch mit Spinat vollgestopft werden, weil dieses Gemüse dem Vernehmen nach viel Eisen enthalten soll und dadurch angeblich superstark macht.
Übrigens: Warum und wie soll Eisen jemanden stark machen? Überträgt der gesunde Menschenverstand da einfach nur die Eigenschaften des Verspeisten (eines harten Metalls) auf den Speisenden und geht nach dem Motto vor: »Man ist, was man isst«?
Wie dem auch sei: Die Legende vom Kraftfutter Spinat verdankt ihre Verbreitung einer in den frühen 1930er Jahren auf Kinoleinwänden erscheinenden Comicfigur, die als Seemann Popeye mit Kapitänsmütze, Anker-Tattoo auf dem linken Unterarm, einem schiefen, verkniffenen Gesicht, Pfeife im Mundwinkel und einem zugekniffenen Auge bekannt geworden ist. Immer dann, wenn Popeye finstere Gestalten verprügeln oder irgendwelche Kraftakte starten will, futtert er eine Dose Spinat leer, und er beweist mit seinem jeweils unvermeidlichen Triumph, dass Spinat so stark macht wie der Zaubertrank der Gallier, mit dessen Hilfe Asterix und Co. die Römer in Schach halten. Und unsere Eltern haben dann gleich die dazugehörige Pseudoerklärung mitgeliefert, die sie weiß Gott wo herhatten (nur nicht aus ihrer Schulzeit). Sie besagte, dass Spinat den Seemann so stark macht, weil er so viel wertvolles Eisen enthält, das dann auf wunderbare Weise die Blutbildung – und mit ihr zugleich den Muskelumfang – fördert. Bei Popeye sehr imposant am Bizeps.
So klar es ist, dass Popeye den Spinatkonsum gefördert hat, so unklar bleibt, wie sein Schöpfer, der amerikanische Zeichner Elzie C. Segar, von der vorgeblich stärkenden und muskelbildenden Wirkung des Grünzeugs erfahren hat oder überzeugt wurde, die heute in das Reich der Legende zu verweisen ist. Wir können nur vermuten, dass er von der ersten Laboranalyse erfahren hat, die ein Chemiker in der Schweiz mit dem Spinat 1890 unternommen hat und bei der ein Eisengehalt gefunden wurde – 35 Milligramm Eisen in 100 Gramm getrocknetem Spinat -, der zwar zehnmal höher als der heute akzeptierte Wert lag, der damals aber sogleich von allen Ernährungsratgebern übernommen wurde. Sie schwangen sich auf diese quantitative Weise zu gefragten Experten auf, die anschließend Generationen von Müttern dazu gebracht haben, ihren Kindern das von den lieben Kleinen oft als ekelig empfundene Gemüse aufzutischen (was aber ganz sicher keinen Schaden angerichtet hat).
Warum die Panne passiert ist und der Eisengehalt bei der ersten Analyse viel zu hoch angegeben worden ist, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerüchten zufolge soll es sich einfach um einen Schreibfehler gehandelt haben: Der zuständige Wissenschaftler wollte 3,5 schreiben, vergaß aber das Komma. 3,5 Milligramm Eisen pro 100 Gramm Spinat wäre angemessen und vielleicht sogar richtig gewesen. Damit enthält das Blattgemüse allerdings weniger Eisen als Schokolade oder Leberwurst, um nur zwei Beispiele zu nennen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Wenn man Spinat empfehlen will – was hier trotz allem gern geschehen soll -, dann kann man dies wegen seines Geschmacks – wenn man ihn mag – und einiger Ballaststoffe und Vitamine tun, aber die kann man auch durch andere Nahrungsmittel zu sich nehmen, wie man leicht herausfinden kann.
Kleine und große Fehler
Natürlich haben einige Kinder den aufgetischten Spinat hinuntergewürgt, weil ihre Eltern durch wissenschaftliche Analysen überzeugt waren, etwas Gutes für ihre Schützlinge zu tun. Aber wir wollen dies als einen kleinen und leicht verzeihlichen Fehler ansehen, ebenso wie die oftmals gehörte Behauptung, Schokolade mache glücklich. Wer dies in unseren an neurologischen Abläufen besonders interessierten Zeiten sagt, versucht den kausalen Zusammenhang von Schokolade und Glücklichsein oft sogar mit der Biochemie des Körpers und des Gehirns zu erhärten und zu beweisen. Demnach braucht ein Mensch ein bestimmtes Hormon, um glücklich zu sein: Dieser molekulare Glücksbringer in unseren Nervenzellen trägt den Namen Serotonin. Wer Schokolade isst, so hört man immer wieder, steigert seinen Serotoninpegel und damit seine Stimmung. Das ist gar nicht so falsch, allerdings: Kartoffeln und Müsli bewirken dasselbe, und zwar ohne die (manchmal unglücklich machende) Nebenwirkung, die bei vielen Schleckermäulern als Rettungsgürtel um die Hüften herum zum Vorschein tritt. In der Tat – wenn jemand sich biochemisch glücklich machen will, sollte er eher auf Kartoffeln als auf Schokolade setzen. Auf Letztere sollte man dennoch nicht verzichten, vor allem dann nicht, wenn sie einem so gut schmeckt wie dem Autor (der weißer Schokolade mit ganzen Nüssen nicht widerstehen kann).
Wer sich anders verhält, begeht wissenschaftlich betrachtet bestenfalls einen kleinen Fehler. Dem steht allerdings direkt der große Fehler gegenüber, den auch das Spinatbeispiel erkennen lässt. Den ernst zu nehmenden und nachwirkenden Fehler begehen wir dadurch, dass wir meinen, Tatsachen seien unveränderlich, und zwar vor allem dann, wenn es sich um sogenannte wissenschaftliche Tatsachen handelt, die durch möglichst viele Zahlen untermauert werden (wozu in unseren Tagen die Ergebnisse von PISA-Bildungstests gehören, deren Resultate tatsächlich derart von Bildungsforschern als in Stein gemeißelte Offenbarung angebetet werden, dass man sich über deren eigene Bildung wenigstens etwas wundern darf).
Was von Experten präzise gemessen worden ist und mit ihrem Namen versehen schwarz auf weiß gedruckt vorliegt, das muss und wird für alle Zeiten stimmen – so denkt man fröhlich und irrt gewaltig. Die deutschen »Tatsachen« beinhalten wie die angelsächsischen »facts« (Fakten) in dem sie bezeichnenden Wort das Machen und Tun, das sie auszeichnet. »Facio, feci, factum« hat man früher im Lateinunterricht gelernt und unter anderem mit »ich fertige an« übersetzt. Ein »Faktum« ist etwas, das Menschen angefertigt haben, und dabei können sie bekanntlich irren. Mit anderen Worten: Gerade Tatsachen können sich dauernd ändern, und sie tun dies im Lauf der Geschichte immer wieder, manchmal sogar massiv und entscheidend – auch dann, wenn sie schon länger in Lehrbüchern stehen und an die Studierenden als wissenschaftliche Wahrheiten mit Ewigkeitsanspruch vermittelt werden.
Ein Beispiel dafür findet sich in der Entdeckung der Struktur des Erbmaterials DNA. Die berühmte Doppelhelix stand den beiden Molekularbiologen James Watson und Francis Crick erst in dem Moment vor Augen, als sie von den Tatsachen Abstand nahmen, die Chemielehrbücher ihrer Zeit – der frühen 1950er Jahre – über das Aussehen der Bausteine verbreiteten, aus denen die Erbsubstanz besteht. Ein anderes Beispiel hat mit sogenannten Cepheiden zu tun, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als veränderlich leuchtende Sterne am Himmel entdeckt worden waren und durch ihre Helligkeitsschwankungen die Möglichkeit boten, kosmische Entfernungen – etwa von der Erde zum Polarstern – zu bestimmen. Als man anfing, aus den dabei gewonnenen Daten das Alter des Weltalls zu ermitteln, tauchte das paradoxe Ergebnis auf, dass einzelne Sterne älter waren als der Kosmos, zu dem sie gehören. Aufgelöst wurde dieser Knoten durch eine Veränderung von Tatsachen. Man erkannte, dass es zwei Klassen von Cepheiden gab, und wenn man dies angemessen berücksichtige, rückten sich die Dinge am Himmel zurecht.
Man könnte noch viele falsche Tatsachen aufzählen, die wir der Wissenschaft verdanken – etwa die zu hoch ermittelte Menge an Gold, die Ozeane enthalten und mit der Deutschland die Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg bezahlen wollte, oder die immer noch angenommene und am Ende dieses Buches widerlegte Möglichkeit, Menschen ließen sich durch unterschwellige (»subliminale«) Signale beeinflussen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass es sich lohnt, immer wieder aufmerksam zu sein, skeptisch zu bleiben und bei allem Zusichern Zweifel zu bewahren. Wissenschaft liefert zwar möglichst gute Daten, aber das bedeutet nicht, dass nicht eines Tages bessere auftauchen können, die ein Umdenken erfordern.
Damit haben wir die Bühne nicht nur für einen großen, sondern für einen grandiosen Irrtum über die Wissenschaft bereitet. Er hat damit zu tun, dass wir denken, Wissenschaft bringe Erklärungen zustande, mit deren Hilfe etwas verstanden wird und wodurch das Fragen dann zum Abschluss kommt. Wissenschaft – so denkt man – verwandelt eine geheimnisvolle Natur in eine korrekte und technisch nutzbare Lösung.
Genau dies ist nicht der Fall, wie leicht einzusehen ist, wenn man sich erinnert, was große und kleine Forscher ständig unter dem ermunternden Nicken des Publikums sagen. Mit jeder Antwort, so kann man da erfahren, stellen sich neue Fragen, und zwar mehr als vorher. Wissenschaft ist ein offener Vorgang, ein Bildungsprozess, den man in einer etwas paradox klingenden Formulierung so beschreiben kann: Wissenschaft verwandelt eine geheimnisvolle Natur in eine noch geheimnisvollere Erklärung. Sie vertieft das Geheimnis. Deshalb bleibt die Wissenschaft auch dann spannend, wenn wir sie schon länger zu kennen meinen.