MENSCHLICHES

Kopernikus hat den Menschen aus der Mitte vertrieben

Bei Kopernikus scheint alles seine Richtigkeit zu haben. Wir kennen uns aus. Der deutsch-polnische Astronom hat im 16. Jahrhundert erkannt, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt unseres Planetensystems steht und dass die Erde nur einer der um die Sonne kreisenden Planeten ist. Der mit dieser Annahme des Weltbilds eingeleitete Wandel des menschlichen Bewusstseins wird als kopernikanische Wende bezeichnet. Obwohl dieser Gedanke so leicht zu fassen ist, rief er den Unmut der Kirche hervor, die deshalb Kopernikus’ 1543 erschienenes, lateinisch verfasstes Werk über die Umläufe der Himmelskörper – De Revolutionibus Orbium Coelestium – auf den Index setzte und verbot. Wie so oft kämpfte die Kirche dabei gegen die wissenschaftlich erwiesene Wahrheit an.
Mit seinem heliozentrischen Modell konnte Kopernikus die beobachteten Himmelsbewegungen anderer Planeten viel leichter erklären als seine Vorgänger, die sich an die antiken Vorstellungen des geozentrischen Weltbilds anlehnten. Er erschütterte das seit etwa tausenddreihundert Jahren unbestrittene und den religionsideologischen Bedürfnissen der katholischen Kirche entsprechende Weltbild des griechischen Mathematikers, Geografen und Astronomen Ptolemäus (um 100 – um 175 n.Chr.). Indem er die Menschen aus der Mitte der Welt entfernte und sie an den eher bedeutungslosen Rand schob, eröffnete Kopernikus eine bis in das 20. Jahrhundert reichende Folge von Kränkungen, die der wissenschaftliche Geist dem Menschen zugefügt hat.
So ungefähr lässt sich das zusammenfassen, was immer noch mit dem Namen Kopernikus verbunden ist – aber fast alles davon ist falsch und unsinnig. Die Tatsache, dass diese Denkfehler offenbar schwer zu korrigieren sind, ist ganz schön deprimierend.

Der Sachverhalt

Kopernikus fand trotz der Doppelbelastung als Domherr und Arzt Zeit für die Erkundung des Himmels. Er entwickelte dabei die Vorstellung von der Sonne als Mittelpunkt des Planetensystems und der von den Planeten um sie beschriebenen Kreisbahnen. Bei der Erde stellte er sogar zwei kreisförmige Drehbewegungen fest, eine längere um die Sonne (einmal im Jahr) und eine kürzere um ihre eigene Achse (einmal am Tag). Nicht die erste Drehbewegung, sondern die Rotation der Erde um ihre eigene Achse hat den Namen kopernikanische Wende bekommen, und zwar durch Immanuel Kant, der dabei die Philosophie der Erkenntnis im Sinn hatte.
Diese modern wirkende Überschreitung der disziplinären Grenzen beeinträchtigt keineswegs die Bedeutung der ersten Drehung, die es sogar doppelt in sich hat. Zum einen kann keine Rede davon sein, dass die von Kopernikus postulierte Umkreisung der Sonne leicht zu begreifen ist, denn tatsächlich sehen wir mit unseren Augen etwas anderes, wenn wir zum Beispiel abends zum Himmel blicken, nämlich einen Sonnenuntergang. So etwas darf es bei Kopernikus gar nicht geben. In seinem Modell geht unser Zentralgestirn ja weder unter noch auf, es ruht vielmehr in der Mitte des Planetensystems, und wir müssen diesen scheinbaren Widerspruch auflösen. Und zum andern kann erst recht nicht behauptet werden, dass Kopernikus durch die Vergabe einer neuen Position an die Erde die auf ihr wohnenden Menschen erniedrigen oder gar beleidigen wollte. Er unternimmt vielmehr genau das Gegenteil: Kopernikus erhöht die Menschen durch die neue Position und rückt sie näher an die (antiken) Götter oder den (christlichen) Gott heran, weil beide stets außen angesiedelt und über allen Sphären schwebend gedacht wurden.
Dies kann man unter anderem in der Göttlichen Komödie nachlesen, in der Dante die antiken Vorstellungen vom Aufbau des Kosmos übernimmt und christlich auflädt. Bei ihm trifft man auf Gott in einem Empyreum, einem Feuerhimmel, der sich über alle anderen Sphären wölbt. Wer jetzt fragt, was denn die Kirche an alldem auszusetzen und warum sie das Werk von Kopernikus verboten hat, dem sei versichert, dass die katholische Geistlichkeit in diesem Fall sehr vernünftig gehandelt und der Wissenschaft kein Hindernis in den Weg gestellt, sondern ihr vielmehr einen Dienst erwiesen hat, wie später noch geschildert wird.

Der Mann mit dem Maiglöckchen

Der Vater von Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) hieß Niklas und schrieb sich noch Koppernigk, solange er es nicht geschafft hatte, zu den wohlhabenderen Bürgern (Kaufleuten) von Thorn zu gehören, dem Städtchen, in dem unser Protagonist geboren wurde. Thorn lag im Ermland und galt demnach als preußisch. 1466 war es an Polen abgetreten worden, was Kopernikus von Geburt an amtlich zu einem Polen machte, obwohl er seine Werke auf Deutsch oder Lateinisch schrieb.
Das bekannteste Porträt von Kopernikus zeigt ihn mit einem Maiglöckchen, und das Blümchen soll der Welt zeigen, dass sich Kopernikus als Arzt verstanden hat. Festzuhalten ist, dass er die Ausübung dieses Berufs ebenso wenig als seine Hauptaufgabe angesehen hat wie seine Bemühungen um die Erforschung des Himmels. Tatsächlich hatte Kopernikus seit 1510 hauptamtlich eine Domherrenstelle in Frauenburg inne, die aber keine geistlichen Aufgaben mit sich brachte, sondern von ihrem Inhaber vor allem juristische Qualifikationen und ab und zu auch einige medizinische Tätigkeiten verlangte. Kopernikus hatte sich auf diese Vielfalt an Pflichten durch seine Studienzeit vorbereitet, die er unter anderem in Krakau, Padua und Bologna verbracht hatte und in deren Verlauf er sich um die Gesetze des Körpers (Medizinisches) und des Staates (Juristisches) bemühte und schließlich sogar zum Doktor des Kirchenrechts promovierte. Daneben beschäftigte ihn die Astronomie, die ihn im Verlauf des 16. Jahrhunderts immer mehr in ihren Bann schlug – wozu sowohl ein Leseerlebnis als auch eine Enttäuschung mit anschließender Herausforderung beigetragen haben.
Das Leseerlebnis verdankte Kopernikus der Tatsache, dass während seines Italienaufenthalts am Ende des 15. Jahrhunderts die erste gedruckte Ausgabe des Almagest von Ptolemäus erschien und von Kopernikus emsig studiert wurde. Mit der hierdurch erworbenen Kenntnis beeindruckten ihn zunächst eine Konjunktion (Ausrichtung) von Saturn und Mond und eine Mondfinsternis, die beide im Jahr 1500 zu beobachten waren. Kopernikus sah nun voller Erwartung dem Jahr 1503 entgegen, in dem eine Konjunktion der Hauptplaneten zu erwarten war. Sie fand tatsächlich statt – allerdings sehr viel später, als die Astronomen vorhergesagt hatten. Das war die Enttäuschung, die nur einen Schluss zuließ, nämlich den, dass vielleicht doch etwas nicht ganz stimmen konnte mit der seit mehr als einem Jahrtausend angenommenen Beschreibung der Himmelsbewegungen – wie sich auch Martin Luther zu bemerken nicht versagen konnte, als er in seinen Tischreden die »Unordnung« am Firmament beklagte.

Die heliozentrische Idee

Kopernikus wollte diese Unstimmigkeiten klären, und die kosmischen Gedanken reiften in aller Stille mehr als ein Jahrzehnt in ihm heran. In der Abgeschiedenheit seiner Domherrenstelle konnte er in aller Ruhe die Planeten ganz genau beobachten – natürlich noch ohne Hilfsmittel wie etwa Fernrohre, die erst rund hundert Jahre später zur Verfügung standen. Erst 1514 war Kopernikus in der Lage, seine neuen Vorstellungen der Himmelsordnung in Worte zu fassen: Er verfasste einen kleinen Kommentar – einen Commentariolus -, in dem es unter anderem kurz und bündig heißt: »Alle Sphären drehen sich um die Sonne, die im Mittelpunkt steht. Die Sonne ist daher das Zentrum des Universums.«
In diesen Sätzen sind ein neuer und ein alter Gedanke zu erkennen, die es beide zu beachten gilt. Der alte steckt in den Sphären, die Kopernikus nach wie vor als die bewegten Elemente des Himmels betrachtet (und deren kreisförmige Drehung keine physikalische Erklärung braucht, auch wenn man sich wundern könnte, warum eine Sphäre so viel länger braucht als eine andere, um sich zu drehen). Kopernikus hielt daran bis zum Ende seines Lebens fest, das zeitlich zufällig mit dem Erscheinen seines Hauptwerks zusammenfiel, in dem er seine kosmischen Vorstellungen sogar durch eine hübsche Illustration veranschaulichte.
Der neue Gedanke kommt in der Position der Sonne zum Ausdruck, wobei anzumerken ist, dass er bereits in der Antike geäußert wurde – ohne allerdings Anhänger zu finden.
Der Hauptgrund, der Kopernikus veranlasste, das geozentrische System des Ptolemäus durch ein heliozentrisches Modell zu ersetzen, war sicher das geschilderte Versagen der überlieferten Astronomie. Daneben muss es aber noch andere Beweggründe gegeben haben, von denen einige vermutlich ästhetischer Natur waren. Es war einfach schöner, die strahlende Sonne ins Zentrum der Welt zu stellen, und zudem bestand mit diesem Schritt die Hoffnung, »eine vernünftigere Art von Kreisen zu finden«, wie Kopernikus in seinem kleinen Kommentar schrieb. Damit deutete er an, dass er vor den vielfach verschachtelten und höchst künstlich wirkenden Konstruktionen des Ptolemäus, die man Epizyklen nannte, zurückschauderte. Schon in der Antike gab es viele Beobachtungen von Planetenbewegungen, die mit einer Handvoll von Kreisen nicht zu fassen waren, und so stellte man sich vor, die Planeten würden ihre Bahn entlang eines kleinen Kreises, des Epizykels, ziehen, der sich seinerseits wiederum entlang eines größeren Kreises, des deferierenden Kreises, bewegte.
Kopernikus meinte, es müsse möglich sein, den Lauf der Planeten einfacher und eleganter darzustellen, und deshalb schlug er seine neue Ordnung am Himmel mit der Sonne in der Mitte vor, was wir bis in unsere Tage als heliozentrische Revolution feiern. Doch so schön sein Vorschlag ist, es trifft nicht zu, wenn man behauptet, Kopernikus käme bei seinem Schema mit weniger Hilfskonstruktionen als Ptolemäus aus und er könne genauer als jener die zahlreichen Himmelsbewegungen vorhersagen. Tatsächlich bleibt das heliozentrische System quantitativ ebenso unbefriedigend wie sein geozentrischer Vorläufer. Signifikant reduzieren konnte Kopernikus die Zahl der zusätzlichen Kreisbewegungen nicht, die auch im heliozentrischen System nötig sind, um die beobachteten Positionen und vielfach merkwürdigen Verläufe der Planeten berechnen zu können.
Es liegt noch ein zweiter schwerer Irrtum vor: die vor allem in den Schriften von Sigmund Freud verkündete Behauptung, Kopernikus habe mit seinem Modell den Menschen aus der Mitte vertrieben und an den Rand der Welt gedrängt. Freud redet gar von einer der großen Beleidigungen für die Menschheit, und niemand nimmt zur Kenntnis, wie unsinnig die Darstellung des begnadeten Wiener Psychoanalytikers ist, der sich selbst wohl für die Mitte der geistigen Welt hielt.
Die Behauptung, Kopernikus habe die Menschen erniedrigt, kann nur aufstellen, wer das Zentrum für einen bevorzugten und erstrebenswerten Ort ansieht. Das mag heute so sein, es war damals aber gerade nicht der Fall. Die Mitte wurde – im Gegenteil – als der tiefste Punkt angesehen, zu dem man herabsinken konnte. Im Zentrum der Welt war man so weit wie möglich von den Göttern entfernt, deren Platz bekanntlich außen war. Indem Kopernikus den Menschen aus der Mitte holte und in eine Umlaufbahn um die Sonne brachte, rückte er ihn näher an die Götter heran. Mit anderen Worten – Kopernikus befreite die Menschen aus der demütigenden Lage, der Bodensatz – der Abtritt – der Welt zu sein. Der französische Essayist Michel de Montaigne (1533 – 1592) hat dies durch die deutlichen Worte ausgedrückt, dass der Mensch – vor Kopernikus – »im Schlamm und Kot der Welt, (…) im niedrigsten Stock des Hauses, am weitesten vom Himmelsgewölbe entfernt« untergebracht war – aber nur, bis ihn das heliozentrische Schema in engere Tuchfühlung mit den Göttern brachte, die sich vielleicht nun sogar großzügig dazu herabließen, auf ihn aufmerksam zu werden.
Mit diesen Bemerkungen erledigt sich der dritte Irrtum um Kopernikus schon fast von selbst, der mit dem kirchlichen Verbot zu tun hat, das untersagte, sein Werk in den Seminaren der Hochschulen zu lesen. Dieses Verbot gibt es zwar – es ist tatsächlich 1616 ausgesprochen worden -, aber es hat nichts damit zu tun, dass die Lehre des Kopernikus eine Gefahr für irgendein Dogma darstellen würde. Die päpstlichen Hüter der Lehre waren berechtigterweise über etwas ganz anderes besorgt: über die unvorstellbar große Zahl der Fehler, die sich in dem Buch fanden – »innumerabilis errores«, wie sie es ausdrückten. Es ging also um Fehler, nicht um Irrtümer. Und die Fehlermenge des legendären Buchs lässt sich leicht erklären: Kopernikus erhielt nämlich das erste Exemplar erst, als er auf dem Totenbett lag, und da konnte er auch beim besten Willen keine Korrekturfahnen mehr lesen. Als 1620 endlich eine verbesserte Ausgabe der Revolutiones vorlag, durfte sie – fast ist man geneigt, hier »selbstverständlich« einzufügen – im kirchlichen Lehrbetrieb benutzt werden. Das Buch enthielt jetzt weniger Fehler – und immer noch keine Irrtümer.

Die kopernikanische Wende

Das heliozentrische Weltbild brachte eine Konsequenz mit sich, die lange übersehen wurde und darum vielleicht einen festen Platz im allgemeinen Denken gefunden hat: Durch die kopernikanische Verschiebung wurde unser Planet zu einem Himmelskörper unter anderen, wodurch die tradierte antike Unterscheidung zwischen irdischer und himmlischer Materie hinfällig wurde. Es gab von nun an nicht mehr die zwei Welten (das »Duoversum«), die Aristoteles eingeführt hatte und die sich an der Mondsphäre schieden, sondern nur noch eine Welt, in der es überall physikalisch zuging – sublunar und supralunar. Und diesen neuen Kosmos würde man bald mit dem neuen Wort Universum bezeichnen.
Zwar ist das schon aufregend genug, doch bei Kopernikus gibt es etwas, das noch mehr Spannung in die Geschichte des Himmels bringt: eine zweite Bewegung, die der Frauenburger Domherr unserer kosmischen Heimat zumutete beziehungsweise zutraute. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Drehung der Fixsterne am Firmament, die bekanntlich leicht zu beobachten ist und erklärt werden muss. Kopernikus kommt auf die wahrhaft wunderbare und erstaunliche Idee, die sich dem Augenschein mitteilende Kreisbewegung der Fixsterne als etwas zu betrachten, das es nur dem Schein nach gibt. Was unsere Sinne melden, wird vielmehr durch unseren Standpunkt als Beobachter auf der Erde bedingt und wahrgenommen. Nicht die Fixsterne drehen sich, schlägt Kopernikus vor, sondern die Erde, und dieses Rotieren um eine Achse (die wir heute vom Nord- zum Südpol laufen lassen) lässt uns die kreisförmigen Bewegungen am Himmel beobachten, die nur scheinbar stattfinden und uns von unseren Sinnen vorgespielt werden. Er drückt das im fünften Satz des bereits zitierten Commentariolus folgendermaßen aus: »Alles, was an Bewegung am Fixsternhimmel sichtbar wird, ist nicht von sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen. Die Erde also dreht sich mit den ihr anliegenden Elementen in täglicher Bewegung einmal um ihre unveränderlichen Pole. Dabei bleibt der Fixsternhimmel unbeweglich als äußerster Himmel.«
Leider erlaubt uns Kopernikus keinen Einblick in den tieferen Grund, der ihn zu dieser Umkehrung geführt hat. Eine Überlegung, die ihn geleitet haben könnte, ging vielleicht von dem seit dem Spätmittelalter nachweisbaren Bemühen aus, die Distanz zwischen der Erde und den Fixsternen abzuschätzen. Man war dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Entfernungen für den menschlichen Geist unfassbar sind. Wenn die Abstände so immens waren, dann mussten im All gigantische Körper sein, da sie sichtbar waren, und diese Riesen mussten zudem unvorstellbare Wege für ihre Drehbewegungen bewältigen. Das war alles unfassbar.
Wenn hingegen wir selbst es waren, die sich drehten, dann war alles nicht nur einfacher vorstellbar, dann konnte Kopernikus zudem ein die damalige Kirche ärgerlich bedrängendes Problem besser lösen: das Datum des Osterfests genau zu bestimmen. Wie Kopernikus nämlich zu seinem Verdruss feststellte, wurde die Auferstehung des Herrn zu seiner Zeit bereits neun Tage später gefeiert, als es von den Kirchenvätern auf dem Konzil von Nicäa (im Jahr 325) beschlossen worden war. Kopernikus wollte den kirchlichen Festkalender reformieren, und dazu diente ihm die tägliche Drehung der Erde, die wir zwar nicht spüren, wenn wir auf ihr stehen, die wir aber trotzdem als Bewegung der Fixsterne sinnlich registrieren können, wenn wir dem Vorschlag des Frauenburger Domherrn folgen.

Die philosophische Wende

Viele Zeitgenossen sind ihm gefolgt, und im 18. Jahrhundert hat die zweite Drehung des Kopernikus ihre eigentliche Bedeutung durch den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) bekommen, der wie sein astronomischer Vorgänger einen Standortwechsel vollziehen wollte, und zwar in der Philosophie der Erkenntnis. Kant hielt es für besser, davon auszugehen, dass die Naturgesetze von uns Menschen stammen und der Natur gewissermaßen vorgeschrieben werden, als zu denken, dass die Naturgesetze in der Natur selbst liegen und dort von uns gefunden werden. In seiner Kritik der reinen Vernunft heißt es: »Es ist hiermit ebenso als mit den (…) Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen«, nämlich, wie oben angedeutet, indem man sagt, dass die Gesetze der Natur nicht aus ihr, sondern aus uns kommen. Wir machen sie. Wir erfinden die Form, mit der wir die Natur verstehen.
Es ist dieser Gedanke aus der Kritik der reinen Vernunft, der in der Philosophie als kopernikanische Wende bezeichnet wird – und der nichts mit dem heliozentrischen Umbau zu tun hat -, und die Frage lautet, ob dies eine passende Beschreibung ist. In den meisten Fällen besteht eine kopernikanische Wende darin, den Menschen aus einer Mitte zu entfernen. Kant unternimmt aber das Gegenteil. Er setzt den Menschen erneut in das Zentrum des Geschehens. Er führt also eher so etwas wie eine ptolemäische Gegenrevolution aus, die man dann umdeuten kann, wenn eingeräumt wird, dass der Mensch seine Erkenntnisfähigkeit zunächst in Anpassung an die Natur – von ihr – bekommen hat. Dies gelingt im Rahmen einer evolutionären Epistemologie, die den Menschen wieder aus der zentralen Position herausnimmt, die Kant ihm zugewiesen hat, um ihn zu einem Teil des gesamten kosmischen Geschehens zu machen. Kopernikus hätte diese Wendung gefallen, und wir sollten uns ihr anschließen.

Das ästhetische Erkennen

Damit kommen wir zum letzten Punkt, dem Widerspruch zwischen dem, was wir sinnlich erfassen, und dem, was wir begrifflich benennen. Während wir sehen, dass die Sonne auf-und untergeht, mit der Betonung auf dem Gehen, das eine Bewegung meint, wissen wir, dass sie im heliozentrischen Modell des Kosmos gerade nicht unterwegs ist, sondern ruht. Wenn jetzt jemand fragt, was denn nun der Fall ist: »Bewegt sich die Sonne oder bewegt sie sich nicht?«, dann müssen wir erneut von den Phänomenen absehen und auf den Menschen schauen, der sich um sie bemüht. Dabei verfügt er über zwei Hilfsmittel, seine Sinne und seine Ideen, seine Anschauung und seine Begriffe, um auf Kants Unterscheidung zurückzugreifen. Kopernikus und sein kosmisches Modell zeigen uns, dass wir zwei gleichberechtigte Weisen haben, die Welt zu erfassen, und man könnte sie poetisch und wissenschaftlich oder logisch nennen. Der letzte Vorschlag stammt von Kant, der die subjektive von der objektiven Wahrheit so unterschieden hat: »Dass die Sonne in den Ozean taucht, ist wahr nach den Gesetzen der Sinnlichkeit und Erscheinung, aber nicht logisch, nicht objektiv.« Und der Philosoph fügt hinzu: »Die Sonne taucht sich ins Wasser, sagt der Poet; würde er sagen, die Erde dreht sich um ihre Achse, so wäre er ein Logiker und kein Poet.«
»Wahrnehmung« heißt im Griechischen »aisthesis«, weshalb man auch sagen kann, dass es das ästhetische und das begriffliche Wissen, eine ästhetische und eine objektive Wahrheit gibt, dass wir die Welt erleben oder erklären können. Kopernikus zeigt, dass Menschen beide Fähigkeiten in sich vereinen. Vielleicht kann ja das Erklären zum Erlebnis werden. Wir können am Himmel beginnen, der sich über uns wölbt.

Einstein war ein schlechter Schüler und hielt nicht viel von Gott

Der Name von Albert Einstein (1879 – 1955) scheint allgemein bekannt zu sein. Und die meisten meinen, auch schon einmal die wesentliche Einsicht gehört zu haben, die wir ihm verdanken: »Alles ist relativ.« Außerdem ist der hübsche Satz »Gott würfelt nicht« fast schon ein geflügeltes Wort geworden, das aus einer großen Idee einen billigen Jakob zu machen scheint, den Einstein nicht in sein Leben eingreifen lassen wollte. Und dann fällt vielen Menschen noch ein, dass Einstein ein schlechter Schüler war, und wenn davon die Rede ist, lächeln die um den Stammtisch Herumsitzenden und denken an ihre eigenen Zeugnisse und an die ihrer Kinder. Vielleicht wird aus ihnen doch noch etwas, ein zweiter Einstein. Immerhin war der Mann des 20. Jahrhunderts, zu dem ihn das TIME-Magazin gekürt hat, doch ein glühender Pazifist. Oder? Er war jedenfalls ein hochanständiger Mensch, der sich anderen gegenüber nur einwandfrei verhalten hat, selbst wenn er uns am Ende seines Lebens die Zunge herausgestreckt hat.

Der Sachverhalt

Das Bild ist als Postkarte oder Poster weltweit verbreitet – Einstein streckt die Zunge raus. Aber er meinte damit nicht die Menschheit, sondern die etwas aufdringlichen Fotografen, die ihn unentwegt ablichteten, als man seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag feierte. Damals war die Atombombe längst abgeworfen worden, zu deren Bau er den amerikanischen Präsidenten bewegt und gedrängt hatte, was man nicht unbedingt einen pazifistischen Akt nennen kann. Einstein handelte da eher vernünftig und verantwortlich, und das vermochte er bereits als Schüler, der stets gute Noten nach Hause brachte und auch deshalb zum Stolz seiner Mutter wurde, weil er so brav auf der Geige übte. Ungeduldig und ungehalten wurde er dann später beim Studium der Physik, bei dem ja noch nicht die Wissenschaft unterrichtet werden konnte, die wir Einstein verdanken. Dem genialen Teenager mussten einfach die vielen Ungereimtheiten in dem vorgetragenen Lehrstoff auffallen, was er auch ansprach und was die Lehrer irritierte, die sich deshalb nicht vorbehaltlos für ihn einsetzten.
Einstein hatte folglich Mühe, nach dem Studium eine Anstellung zu bekommen. Als er sie aber endlich am Patentamt in Bern gefunden hatte, war er so wenig ausgelastet, dass er trotz seiner Pflichten noch ausreichend Zeit und Muße fand, die Physik zu revolutionieren. Seine Relativitätstheorie von 1905 ist dadurch zustande gekommen, dass er gerade nicht alles relativ zueinander betrachtete, sondern – im Gegenteil – einiges Absolute einführte: erst die Geschwindigkeit des Lichts und dann die Masse von Körpern, die nicht davon abhing, ob sie Gegenstände schwer machte oder ihnen Trägheit verlieh. Mit seinen wissenschaftlichen Gedanken konnte Einstein in kosmische Sphären vordringen, in denen sich in unserer Kultur die Frage nach Gott stellt. Einstein hat darauf geantwortet und zuletzt nur noch eines wissen wollen, nämlich wie viel Freiheit der liebe Gott sich nehmen und leisten konnte, als er Himmel und Erde schuf.

Biographisches

Albert Einstein wurde am 14. März 1879 in Ulm geboren und starb am 18. April 1955 in Princeton (New Jersey). Seine Schulzeit verbrachte Einstein in München und im schweizerischen Aarau, sein Studium absolvierte er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Nach dem Examen nahm Einstein die Schweizer Staatsbürgerschaft an, und von 1902 bis 1909 war er am Patentamt in Bern tätig. In diese Zeit fällt sein als Annus mirabilis bezeichnetes Wunderjahr von 1905, in dem der 26-jährige Angestellte III. Klasse die Physik und unser Weltbild nicht zuletzt durch eine neue »Auffassung vom Wesen von Raum und Zeit« revolutionierte.
Einsteins Gedanken sind so ungewohnt und geraten so sehr mit dem gesunden Menschenverstand in Konflikt, dass die offizielle Wissenschaft ein paar Jahre brauchte, bis sie ihren künftigen Star entdeckte. Er wurde erst 1909 als Professor nach Zürich berufen – allerdings nur als ein außerordentlicher. Den Sprung zum Ordinarius schaffte Einstein 1911, und zwar dank der Deutschen Universität Prag, an der er aber nicht lange blieb. Bereits 1912 kehrte er in die Schweiz zurück, die er zwar liebte, die ihn aber oft peinlich beargwöhnte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs folgte der einer breiten Öffentlichkeit nach wie vor völlig unbekannte Einstein dem Ruf von Max Planck und wechselte in die deutsche Hauptstadt. In Berlin wurde er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik ohne Lehrverpflichtung und hauptamtliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Im Jahr 1915 stellte Einstein auf einer Sitzung der Akademie eine wesentlich erweiterte Fassung seiner neuen Vorstellungen von Raum und Zeit vor, die als allgemeine Relativitätstheorie bekannt geworden sind und ein merkwürdiges Bild des Kosmos zeigen. Einstein zufolge leben wir nämlich auf der gekrümmten Oberfläche einer vierdimensionalen Raumzeit. Das hört sich (nicht nur) für den Laien völlig unverständlich an, aber die dazugehörigen physikalischen Ideen sind präzise messbar und quantitativ überprüfbar. Als die geeigneten Experimente 1919 durchgeführt wurden und offiziell bestätigten, dass Einsteins Ideen das Universum besser beschrieben als die Vorstellungen von Isaac Newton, an denen man sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts orientiert hatte, war ein neuer Star geboren. Einstein kam auf die Titelseite der populären Zeitungen, und die Relativitätstheorie wurde zum Stadtgespräch. Von nun an wuchs er in die Rolle eines Weltweisen, und sein Gesicht wurde nach und nach zu einer Ikone.
1933 emigrierte Einstein in die USA, und 1935 bezog er in Princeton das Haus in der Mercer Street, in dem er bis zu seinem Tod wohnen sollte. Einstein arbeitete in den ihm verbleibenden zwanzig Jahren an dem Institute for Advanced Studies, das in Princeton eingerichtet worden war und wie für ihn geschaffen wirkte. 1939 empfahl er in einem berühmten Brief dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, möglichen deutschen Bemühungen um eine Atombombe zuvorzukommen, deren Bau im Rahmen der damals entwickelten Physik gelingen konnte. Die Tatsache, dass im Lauf seines Lebens mithilfe einer abstrakten Wissenschaft der Weg zu konkreten Vernichtungswaffen gefunden werden konnte, entlockte Einstein kurz vor seinem Tod die Bemerkung: »Wäre ich noch einmal ein junger Mensch und stünde ich erneut vor der Entscheidung über den besten Weg, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, so würde ich nicht Wissenschaftler, Gelehrter oder Pädagoge, sondern eher ein Klempner oder Hausierer werden wollen in der Hoffnung, mir damit jenes bescheidene Maß von Unabhängigkeit zu sichern, das unter heutigen Verhältnissen noch erreichbar ist.«
Seine wissenschaftliche Neugier konnte Einstein aber nicht abtun. Bis zuletzt beschäftigen ihn Fragen der Physik, deren theoretische Grundlegung ihm unlösbare Schwierigkeiten bereitete. Unermüdlich dachte er etwa über die Frage nach, was Licht wirklich ist. Zwar meinten viele Zeitgenossen, die Antwort zu kennen, wie er ironisch anmerkte, aber Einstein zufolge waren sie im Irrtum. Sie blieb ein großes Geheimnis.

Gerüchte

Zu den vielen Gerüchten um Einstein gehört die Behauptung, er habe sich geistig langsam entwickelt. Das stimmt offenbar, denn seine Eltern zeigten sich anfangs besorgt über den bedächtigen Umgang ihres Sohns mit der Sprache.
Doch Einstein selbst beurteilte seine langsame Entwicklung durchaus positiv: »Der normale Erwachsene denkt über die Raum-Zeit-Probleme kaum nach. Das hat er seiner Meinung nach bereits als Kind getan. Ich hingegen habe mich geistig derart langsam entwickelt, dass ich erst als Erwachsener anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Problematik eingedrungen als die normal veranlagten Kinder.«
Hingegen stimmt die Behauptung nicht, dass Einstein ein schlechter Schüler gewesen sein soll. Natürlich war er kein ehrgeiziger, büffelnder Junge, und wie alle Teenager hasste er das sinnlose Pauken und den Drill der Prüfungen. Aber seine Noten waren gut. In Latein hatte er mindestens eine Zwei, in Griechisch weisen seine Zeugnisse stets eine Zwei auf, in Mathematik schwankten die Bewertungen erst zwischen Eins und Zwei und stabilisierten sich dann bei Eins. Auch beim Studium entsprachen seine Leistungen den Anforderungen; seine Lehrer bemängelten an ihm etwas anderes: »Sie sind ein gescheiter Junge«, soll einer seiner Dozenten in Zürich gesagt haben, »aber Sie haben einen großen Fehler: Sie lassen sich nichts sagen.«
Im heutigen Sprachgebrauch würde man Einstein als antiautoritär bezeichnen. Er amüsierte sich über alle, die sich als Autorität aufspielten, was sein Leben als Schüler im Kaiserreich nicht leichter machte. (Einstein empfand es übrigens als Strafe des Herrn, dass er ihn selbst später eine Autorität werden ließ.)
Die Frage, wie das Gerücht vom schlechten Schüler Einstein in die Welt gesetzt werden konnte, lässt sich leicht beantworten. Einstein war eine Zeitlang in der Schweiz zur Schule gegangen, und dort wurden Noten als Punkte gegeben. Eine Eins in Deutschland entsprach (und entspricht heute noch) einer Sechs in der Schweiz. Leider hat sein erster Biograph dies nicht bemerkt. So lasen die Menschen vom schlechten Schüler Einstein, und diese Vorstellung gefiel allen, die selbst – oder deren Kinder – ohne glänzende Zeugnisse dastanden. Ihre schlechten Noten ließen ihnen wenigstens die Hoffnung, noch ein Einstein werden zu können. Da die Hoffnung zuletzt stirbt, wird sich auch dieses Gerücht halten.
Zu den weiteren unzutreffenden Bemerkungen über Einstein gehört der Hinweis auf seine pazifistische Haltung. Tatsächlich verabscheute er gewalttätige Auseinandersetzungen, und in einem Text mit dem Titel »Zur Abschaffung der Kriegsgefahr« findet sich der wichtige Satz: »Töten im Krieg ist nach meiner Auffassung um nichts besser als gewöhnlicher Mord.« Darüber hinaus bezeichnete er Gandhi als den »größten politischen Genius unserer Zeit«, weil er erkannt hatte, welche Opfer gebracht werden mussten, um den Weg der Toleranz in eine friedliche Zukunft zu finden.
Aber Einstein blieb bei allen friedlichen Träumen ein Realist, der erkannte, dass Staaten anders handeln mussten als Individuen und genötigt waren, »sich auf einen Krieg vorzubereiten«. Diese Haltung empfahl er 1939 dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt, als er ihn dazu aufforderte, die Entwicklung einer Atombombe in Angriff zu nehmen. Mit diesem Stichwort wird klar, dass Einsteins Friedensappelle vor dem Hintergrund einer neuen Dimension der Vernichtung erklangen, die aus der Wissenschaft kam. Mit den Kernwaffen bestand nämlich die Gefahr, die Menschheit in die Steinzeit zurückzukatapultieren, und Einstein befürchtete, dass der nächste Krieg mit Pfeil und Bogen geführt würde.
In einer Ansprache vor einer Abrüstungsversammlung begann Einstein explizit mit einem Hinweis auf das zweischneidige Schwert seiner Wissenschaft:
Die letzen Generationen haben uns in der hochentwickelten Wissenschaft und Technik ein überaus wertvolles Geschenk in die Hand gegeben, das Möglichkeiten der Befreiung und Verschönerung unseres Lebens mit sich bringt. (…) Dieses Geschenk bringt aber auch Gefahren für unsere Existenz mit sich, wie sie noch niemals schlimmer gedroht haben. Mehr als je hängt das Schicksal der zivilisierten Menschheit von den moralischen Kräften ab, die sie aufzubringen imstande ist. Deshalb ist die Aufgabe, die unserer Zeit gestellt ist, nicht etwa leichter als die Aufgaben, welche die letzten Generationen gelöst haben.
Wie eine Lösung konkret gefunden werden könne, wusste allerdings auch Einstein nicht.

Glaubensbekenntnisse

Bevor die Nazis an die Macht kamen, fühlte sich Einstein in Deutschland so wohl, dass er sich innerlich ein »Glaubensbekenntnis« zurechtgelegt hatte. 1932 sprach er es aus und ließ es auf Schallplatte aufnehmen. Es endet mit folgenden Worten:
Ich bin zwar im täglichen Leben ein typischer Einspänner, aber das Bewusstsein, der unsichtbaren Gemeinschaft derjenigen anzugehören, die nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit streben, hat das Gefühl der Vereinsamung nie aufkommen lassen.
Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder. Das Empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unseren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erreicht, das ist Religiosität. In diesem Sinne bin ich religiös. Es ist mir genug, diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen.
Um Einsteins Religiosität besser erfassen zu können, muss man wissen, dass er selbst nie an einem Gottesdienst teilgenommen, seinen Söhnen den Religionsunterricht verweigert und bis zu seinem Tod an seiner Konfessionslosigkeit festgehalten hat. Trotzdem vertrat und verteidigte er die Überzeugung, dass wissenschaftliche Theorien mit Weltanschauungen verträglich sein können. Im Übrigen gilt Einstein zufolge: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.«
Am liebsten sprach Einstein über seine Wissenschaft, und es hätte ihm nichts ausgemacht, wenn man Gott aus dem Spiel gehalten hätte, aber die Verhältnisse waren leider nicht so. Im Frühjahr 1929 warnte ein amerikanischer Kardinal seine Gemeinde vor dem Studium der Relativitätstheorie, da sie angeblich Gott und die Schöpfung bezweifle und gottlose Gedanken in ihr steckten. Dies brachte den Rabbiner von New York dazu, seinem Glaubensgenossen Einstein ein Telegramm zu schicken: »Glauben Sie an Gott? Stopp. Bezahlte Antwort 50 Worte.«
Einsteins Antwort ist berühmt geworden. Er telegrafierte folgenden Text:
Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.

Einsteins Götter

Friedrich Dürrenmatt hat einmal den Verdacht geäußert, dass Einstein insgeheim als Theologe tätig war. Diesen Eindruck kann man jedenfalls gewinnen, wenn man zählt, wie oft Einstein sich über Gott geäußert hat. Der Grund für seine häufigen Ausflüge in religiöse Sphären hat mit der Wissenschaft zu tun. Denn »was mich eigentlich interessiert, ist, ob Gott die Welt hätte anders machen können; das heißt, ob die Forderung der logischen Einfachheit überhaupt eine Freiheit lässt«. Und bei anderer Gelegenheit schrieb Einstein: »Ich möchte nichts als meine Ruhe haben und wissen, wie Gott die Welt erschaffen hat. Seine Gedanken sind es, die mich beschäftigen.«
Wichtig ist, dass Einstein explizit die Idee einer Welt vertrat, die Menschen verständlich ist. Das bedeutet, dass Gott die Gesetze so versteckt hat, wie es Eltern mit Ostereiern im Garten tun. Wir können darauf vertrauen, dass es sie gibt und wir beim Forschen von den Göttern – wie die Kinder beim Suchen von den Eltern – wohlwollend und amüsiert beobachtet werden. Dabei kann man sich ihrem Gelächter aussetzen. Man hat aber auch die Möglichkeit, sich als Wissenschaftler sein Leben lang als Kind zu fühlen. Diese Freiheit nahm sich Einstein. An eine andere glaubte er nicht.

Der private Mensch

1903 heiratete Einstein zum ersten Mal, und zwar die aus Serbien stammende Mileva Marić, die er seit vielen Jahren als Studienkollegin kannte. Die Ehe kam gegen den erbitterten Widerstand von Einsteins Eltern zustande, die zum Glück nichts wussten von einer unehelichen Tochter namens Liserl, deren Spur sich verlor, ohne dass Einstein sie jemals zu Gesicht bekam. 1904 wurde der erste Sohn Hans Albert geboren, der vielleicht auf Einsteins Knien saß, als der Physiker seine Arbeiten für das »Wunderjahr« niederschrieb, und 1910 folgte der zweite Sohn Eduard. Während Hans Albert sich wie erwartet entwickelte (und Professor für Hydraulik im kalifornischen Berkeley wurde), zeigte Eduard erst Ansätze einer hohen Begabung, erkrankte jedoch bald an Schizophrenie. Er kam in die Züricher Anstalt Burghölzli und hatte kaum mehr Kontakt zu seinem Vater. Der hatte sich inzwischen von Mileva scheiden lassen, um im gleichen Jahr (1919) seine Cousine Elsa zu heiraten, was jedoch keineswegs aus großer Liebe geschah.
Es stimmt sicher, wenn Biographen schreiben, dass Einstein als Familienmensch versagt hat, und zwar sowohl seinen beiden Kindern als auch seinen beiden Ehefrauen gegenüber. Er selbst hat oft und gerne gesagt, er sei eigentlich der geborene »Einspänner«, aber bekanntlich braucht auch ein solcher Mensch jemanden, der ihm den Haushalt führt und ihm frische Hemden hinlegt. Am Ende der Ehe behandelte Einstein Mileva schlechter als eine Hausangestellte, verlangte von ihr vor allem, pünktlich das Essen auf den Tisch zu stellen, wenn er vom Amt nach Hause kam, und gefälligst den Mund zu halten, während er aß.
Im Sommer 1914 diktierte Einstein seiner Frau folgende »Bedingungen«, unter denen er (zunächst noch) bereit war, auf eine Scheidung zu verzichten, die im Originalwortlaut hier wiedergegeben werden:
A. Du sorgst dafür, 1. dass meine Kleider und Wäsche ordentlich im Stand gehalten werden, 2. dass ich die drei Mahlzeiten im Zimmer ordnungsgemäß vorgesetzt bekomme. 3. Dass mein Schlafzimmer und Arbeitszimmer stets in guter Ordnung gehalten sind, insbesondere dass der Schreibtisch mir allein zur Verfügung steht.
 
B. Du verzichtest auf alle persönlichen Beziehungen zu mir, soweit deren Aufrechterhaltung aus gesellschaftlichen Gründen nicht unbedingt geboten ist. Insbesondere verzichtest Du darauf 1. dass ich zuhause bei Dir sitze, 2. dass ich zusammen mit Dir ausgehe oder verreise.
 
C. Du verpflichtest Dich ausdrücklich, im Verkehr mit mir folgende Punkte zu beachten: 1. Du hast weder Zärtlichkeiten von mir zu erwarten noch mir irgendwelche Vorwürfe zu machen. 2. Du hast an mich gerichtete Rede sofort zu sistieren, wenn ich darum ersuche. 3. Du hast mein Schlaf- bzw. Arbeitszimmer sofort ohne Widerrede zu verlassen, wenn ich darum ersuche.
 
D. Du verpflichtest Dich, weder durch Worte noch durch Handlungen mich in den Augen meiner Kinder herabzusetzen.

Die Quanten und der liebe Gott

Kehren wir zur Wissenschaft zurück und korrigieren den Irrtum, dass Einstein seinen Nobelpreis für das Aufstellen der Relativitätstheorie bekommen hat. Er ist für die erste Arbeit ausgezeichnet worden, die er 1905 publizierte, das inzwischen als »Wunderjahr« in die Geschichte der Physik eingegangen ist. Der damals 26-jährige Einstein lebte in Bern, und als Angestellter des Patentamts hatte er genug Zeit, um fünf Arbeiten zu publizieren, die jede für sich sensationell und nobelpreiswürdig war. Zwischen dem 17. März und dem 30. Juni schloss Einstein genauer gesagt zunächst vier Manuskripte ab, die sich mit höchst unterschiedlichen Themen beschäftigten. Zwei befassten sich mit Molekülen – mit ihrer Dimension und Diffusion (bekannt als Brown’sche Bewegung) – und zwei mit dem Licht – mit seiner Natur und Ausbreitung. Im September fügte Einstein dem Quartett noch als eine Art Coda seine Antwort auf die eher langweilig klingende Frage hinzu: »Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?«
Einsteins Antwort »Ja« ist weniger wichtig als die Form, die er ihr gibt. Die Trägheit eines Körpers steckt in seiner Masse (m), und Einstein entdeckt, dass ihr eine Energie (E) entspricht. Er leitet zwischen den beiden Größen die wohl berühmteste mathematische Formel der Welt ab. Sie hat längst den Weg auf viele T-Shirts gefunden und lautet: »E = mc2«. Der Buchstabe c steht dabei für die Geschwindigkeit, mit der sich Licht in einem leeren Raum ausbreiten kann.
In der ersten Arbeit aus dem »Wunderjahr« 1905 geht es um die Rolle von Quantensprüngen, und für sie wurde Einstein mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Seine Überlegungen behandeln dabei »die Erzeugung und Umwandlung des Lichts«, was konkret heißt, dass Einstein zu erklären versucht, warum die Energie, die von Licht auf Elektronen übertragen wird, von der Frequenz des Lichts, und nicht von seiner Intensität, abhängt, wie jedermann erwartete. Einsteins Idee bestand darin, die jahrhundertealte Auffassung, Licht breite sich kontinuierlich als Welle aus, durch die Annahme zu ergänzen, die Energie des Lichts bestehe aus »in Raumpunkten lokalisierten Energiequanten, welche sich bewegen, ohne sich zu teilen«, und die sich dadurch auszeichnen, dass sie »nur als Ganzes absorbiert und erzeugt werden können«.
Diese Worte sind als der »revolutionärste« Satz bezeichnet worden, der je von einem Physiker des 20. Jahrhunderts zu Papier gebracht wurde, und das starke Attribut stammt von Einstein selbst. Die Idee von Quanten als einem unstetigen Element war 1900 von Max Planck in die Physik eingeführt worden, aber nur als eine mathematische Hilfsgröße, die man zuletzt aus den Naturgesetzen entfernen wollte. Einstein gab Plancks Konzept eine physikalische Bedeutung. Er erkannte, dass es die Quanten nicht nur in der Theorie, sondern in der Wirklichkeit gibt, wobei ihm diese Einsicht nicht leicht gefallen sein muss. »Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne dass sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können«, wie er selbst einmal schrieb. Einstein war klar, dass seine Lichtquantenhypothese das Ende der klassischen Physik bedeutete, und es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis der Ersatz in Form einer Quantenphysik kam, mit der er sich nie anfreunden konnte.
In der Geschichte der physikalischen Wissenschaften unterscheidet man zwischen einer Quantentheorie und der Quantenmechanik. Mit Quantentheorie werden die Bemühungen bezeichnet, die seit Newtons Tagen entwickelte klassische Physik zu erweitern, um Platz für die Quantensprünge von Planck und Einstein aus den Jahren 1900 beziehungsweise 1905 zu schaffen. Wie ihr klassisches Vorbild wollte die Quantentheorie von messbaren Größen (Impuls, Energie) handeln, und ihre Gleichungen sollten die natürlichen Abläufe festlegen. Doch in der Mitte der 1920er Jahre brach dieses Programm zusammen, und eine völlig neue Theorie – die Quantenmechanik – wurde in den Köpfen einiger Physiker geboren. Sie operierte mit merkwürdigen mathematischen Größen, die nicht mehr direkt messbar waren, und ihre Gesetze waren nicht deterministischer, sondern statistischer Art. Wie sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten herausstellte, konnte die Quantenmechanik alle Phänomene im Bereich der Atome höchst genau erklären. Doch das hinderte Einstein nicht, sowohl ihre Allgemeingültigkeit als auch ihre Vollständigkeit in Zweifel zu ziehen. Für ihn konnte die Quantenmechanik »nicht der wahre Jakob« sein.
Einstein bestritt nicht die Qualität der Quantenmechanik, aber er vermutete und hoffte, dass sich eines Tages eine noch umfassendere Theorie finden würde, die mit bislang verborgenen Parametern operieren und zeigen würde, dass das, was im Augenblick nur statistisch erfassbar war und Zufälligkeiten unterlag, doch streng kausal bestimmt war. Einstein presste seine Abneigung gegen die Quantenmechanik in das berühmte Diktum »Gott würfelt nicht«, das er vor allem in seinen Diskussionen mit dem dänischen Physiker Niels Bohr einsetzte, über die dieser in einem Aufsatz mit dem Titel »Diskussionen mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme der Atomphysik« berichtet hat.
Die über mehr als zwei Jahrzehnte geführte Debatte handelte unter anderem von der merkwürdigen Rolle, die den Beobachtern beziehungsweise der Beobachtung in der neuen Physik zukam. In der Quantenmechanik bekommt ein Elektron seine Eigenschaften erst durch eine Messung. Mit ihr wird bestimmt, was vorher unbestimmt war. Während Bohr sich auf diese Unbestimmtheit der physikalischen Realität einließ und sie in ein philosophisches Gerüst (namens Komplementarität) einbaute, blieb Einstein der Gedanke unerträglich, dass sich die Natur nicht festlegen ließ. Er dachte sich ein Gedankenexperiment nach dem anderen aus, um zu zeigen, dass die Unbestimmtheit hintergangen werden konnte, aber Bohr konnte all diese Versuche als untauglich entlarven.
Die Hartnäckigkeit, mit der Einstein das Thema verfolgte, hat den Gedanken aufkommen lassen, dass es in der Debatte um mehr als ein Verständnis der Wirklichkeit gegangen und ihr eigentliches Thema Gott gewesen sei, und zwar im Angesicht der neuen Physik, die den Kosmos so gut kannte wie die Atome. Tatsächlich stellt Einsteins stures »Gott würfelt nicht« sein letztes Wort in dem Dialog dar, auf das Bohr noch geantwortet hat. Zum einen, so meinte er, könne niemand – nicht einmal Einstein selbst – Gott vorschreiben, wie er mit der Welt umgeht. Und zum andern wisse ebenfalls niemand, was ein Wort wie »würfeln« bedeutet, wenn es in Verbindung mit Gott gebraucht wird.

Einstein für die Schule

Zu den Irrtümern über Wissenschaft gehört die Überzeugung, dass sie unverständlich ist, vor allem dann, wenn sie originelle Gedanken enthält. Einstein sorgt aber auch da für eine Überraschung. In dem Jahr (1926), in dem die Quantenmechanik ihre bis heute gültige Form bekommen hat, dachte er über etwas völlig anderes nach, nämlich über die »Ursache der Mäanderbildung der Flussläufe«, der in dem Band Mein Weltbild vor dem Aufsatz »Über wissenschaftliche Wahrheit« abgedruckt ist.
Wenn für den Schulunterricht ein Text gesucht wird, mit dem die Neugierde von Schülerinnen und Schülern sowohl auf Beobachtungen von Phänomenen, die zur eigenen Erlebniswelt zu Hause und in der Natur gehören, als auch an ihrer eleganten Erklärbarkeit geweckt werden soll, dann ist es dieser. Einstein beginnt seine Ursachenforschung mit zwei bekannten Tendenzen, nämlich zum einen der von Wasserläufen, »sich in Schlangenlinien zu krümmen, statt der Richtung des größten Gefälles des Geländes zu folgen«, und zum andern der von Flüssen, auf der Nordhälfte der Erde »vorwiegend auf der rechten Seite zu erodieren«.
Er stellt fest, dass die bisherigen Erklärungen der Fachleute zu kurz greifen, um dann das große Problem durch ein kleines Experiment in Angriff zu nehmen, »das jeder leicht wiederholen kann: Es liege«, so Einstein, »eine mit Tee gefüllte Tasse mit flachem Boden vor. Am Boden sollen sich einige Teeblättchen befinden«, mit denen nun Folgendes passiert: »Versetzt man die Flüssigkeit mit einem Löffel in Rotation, so sammeln sich die Teeblättchen alsbald in der Mitte des Bodens der Tasse.« Man spricht dabei vom »Teetassenphänomen«. Einstein erläutert den Grund für diese Erscheinung, um anschließend die Ursache der Mäanderbildung zu erklären.
Wie er von der kleinen Teetasse ausgehend mit hübschen Zeichnungen auf wenigen Seiten die ganze Welt physikalisch erfasst, gehört zu den Kabinettstückchen, die man sich nicht entgehen lassen sollte. »Einstein at his best«, würde man in der Marketingsprache sagen, und er brilliert zudem mit Formulierungen, die alle verstehen können und begeistern müssen. Damit hat er einen Weg geöffnet, auf dem die Öffentlichkeit zur Wissenschaft gelangen kann. Einstein verstand nicht, dass man ihn nicht gehen wollte. Er war vielmehr der Meinung, dass sich alle »schämen« sollten, »die gedankenlos sich der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon erfasst haben, als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst«.

Alexander Fleming hat das Penicillin entdeckt

In Quizsendungen wird immer noch gern gefragt, wer das Penicillin entdeckt hat: Alexander Fleming (1881 – 1955) natürlich, der schottische Bakteriologe, der in den 1920er Jahren in London arbeitete und dort tatsächlich den Auftrag hatte, nach »Zauberkugeln« zu suchen, wie man damals sagte. Mit diesen hypothetischen »magic bullets« hoffte man, Infektionsherde im menschlichen Körper vernichten zu können. Die Idee zu solchen Medikamenten, die wir heute Antibiotika nennen, war in den ersten Jahren das 20. Jahrhunderts aufgekommen, und Fleming probierte sein Glück auf die herkömmliche Weise, indem er erst infektiöse Bakterien (Staphylokokken) auf flachen Schalen (gefüllt mit geeigneten Nährstoffen) wachsen ließ und sie dann mit verschiedenen Stoffen beträufelte, von denen er eine abtötende (bakterizide) Wirkung erhoffte.
Dem Wort »Glück« kam bei Fleming eine besondere Bedeutung zu, und zwar mindestens zweimal. Im Januar 1919 war er einmal erkältet, und während er seine Schalen betrachtete, fiel ein Tropfen aus seiner Nase auf eine Kolonie mit Bakterien – und zur großen Überraschung des Forschers vernichtete die trübe Flüssigkeit alles, was sie berührte. Offenbar – so der richtige Gedanke Flemings – befand sich in dem schleimigen Sekret (Mucus) etwas, das Bakterien zu vernichten vermochte, das also antibiotisch wirkte und als Medikament bei Infektionen eingesetzt werden konnte. Die Absonderung, die Fleming aus der Nase fiel (und sogar in unserer Tränenflüssigkeit enthalten ist), heißt Lysozym. Diese Episode wird hier nur erwähnt, weil sie auf die Penicillin-Geschichte vorbereitet, in der offenbar ein zweites Mal eine Glücksgöttin entscheidend in Flemings Arbeit eingriff.
Darüber verbreitete er folgende Legende: Im September 1928 kehrte Fleming aus einem Kurzurlaub zurück, und er entschloss sich, sein Laboratorium aufzuräumen, also die alten Schalen wegzuwerfen, auf denen in seiner Abwesenheit alle möglichen Dinge gelandet und Zellen gewachsen waren. Bakteriologen sprechen in einem solchen Fall von Kontaminationen (Verunreinigungen), die durch allerlei Mikroorganismen bedingt sind, die sich in der Luft aufhalten und die Kulturen besetzen können, auf denen es reichlich Futter gibt.
Auf einer der Schalen bemerkte Fleming nun einen Schimmelpilz, der sich darauf niedergelassen und, wie es bei allen Pilzen üblich ist, ein feines Geflecht – ein Myzel, wie es in der Fachsprache heißt – gebildet hatte, das aber nur auf den ersten Blick keine Besonderheiten aufwies. Auf den zweiten Blick zeigte sich, dass am Rand des Geflechts keine Bakterien mehr vorhanden waren. Der Pilz musste die vorher dort angesiedelten Exemplare von Staphylococcus aureus vernichtet haben, mit denen Fleming experimentierte und die bei Menschen Lungenentzündungen auslösen können. Der wachsame Bakteriologe zog aus seiner Beobachtung sofort den Schluss, dass in dem Pilz ein wirksames Antibiotikum vorhanden sein musste, und wir wissen, dass dies der Fall ist. Wir nennen es heute Penicillin, und die Forscher in Flemings Umgebung konnten beizeiten ausreichende Mengen dieses Wirkstoffs herstellen, um zahllosen Verwundeten bereits in den frühen 1940er Jahren – also während des Zweiten Weltkriegs – mit seiner Verabreichung bessere Überlebenschancen zu bieten. Mit dem Penicillin begann der wundersame Aufstieg der Antibiotika, und die Menschheit feierte den Entdecker Fleming, der 1945 den Nobelpreis für Medizin erhielt, mit Ehrendoktortiteln überhäuft wurde und dem der Papst mehrfach Privataudienzen gewährte.

Die etwas andere Geschichte

An dieser Darstellung stimmt nur, dass Fleming Glück gehabt hat, und zwar eine ganze Menge. Aber alles andere ist fraglich oder gelogen.
Was das Glück angeht, so gehört dazu nicht zuletzt auch die Tatsache, dass es ausgerechnet die Pilzart Penicillium notatum war, die seine Kulturschalen kontaminiert hatte, denn dieser Stamm verfügt über mehr antibiotische Qualität als alle anderen. Ohne P. notatum hätte Fleming nichts auffallen können, aber mit dem Pilz ging sein Glück auch dem Ende entgegen. Denn diese Art zeigte sich damals so selten, dass Fleming sie gar nicht identifizieren konnte – mit der Folge, dass er bald das Interesse daran verlor. Er kümmerte sich auch deshalb nicht weiter um seine vermeintliche Jahrhundertentdeckung, weil er – hier agierte er wenigstens nicht völlig unwissenschaftlich – seine legendäre Beobachtung nicht wiederholen konnte. Heute können wir genau sagen, woran das lag – an der Reihenfolge. Fleming hat erzählt, er habe erst die Bakterien ausgesät, und dann seien aus der Dunkelheit der Nacht durch das offene Fenster Pilzsporen in das Laboratorium geflogen und hätten sich auf den Schalen niedergelassen und ihre antibiotische Wirkung demonstriert. Genau so hat Fleming seine Bemühungen um eine Reproduktion der Beobachtung dann auch durchgeführt, und eben das ist falsch herum. Wir wissen heute, dass, sobald die Bakterien Kolonien geformt haben, das Penicillin nicht mehr wirkt. Wenn die Bakterien bereits ihre Zellwände errichtet haben, blockiert das Antibiotikum die Teilung der Zellen und verhindert die Anfertigung von Substanzen, die Bakterien für die Herstellung ihrer Zellwände benötigen.
Tatbestände dieser Art waren übrigens zu der fraglichen Zeit sehr wohl bekannt. Die Bakteriologen kannten genügend Beispiele dafür, dass ein Mikroorganismus das Leben eines anderen ver- oder behindern kann. Das heißt, Fleming hatte nichts von Bedeutung bemerkt. Er wusste auch nicht, womit er es zu tun hatte, er kümmerte sich erst recht nicht ernsthaft um die Frage, ob und wie man das, was der Pilz produzierte, isolieren und identifizieren konnte, und er plante weder Tierversuche, noch unternahm er etwas, um die klinische Relevanz seiner Beobachtung zu erkunden. Fleming gab dem Penicillin zwar seinen Namen, ließ den Stoff aber bereits am Ende der 1920er Jahre links liegen und lenkte seine Aufmerksamkeit auf chemische Verbindungen, die Quecksilber enthielten und dadurch antibiotisch wirken sollten. In den vielen Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg erwähnte er Penicillin jedenfalls mit keinem Wort. Es kam ihm anscheinend gar nicht in den Sinn, dass da ein Schatz gehoben werden konnte.

Penicillin in der Praxis

Es waren schließlich der australische Pathologe Howard W. Florey und der britische Biochemiker Ernst B. Chain, die sich am Ende der 1930er Jahre und in Erwartung des von Hitlerdeutschland betriebenen Kriegs ernsthaft und systematisch daranmachten, in den bekannten Mikroorganismen nach Stoffen zu suchen, die Bakterien abtöten und somit eventuell Infektionen beim Menschen stoppen können. Bei ihren Arbeiten stießen sie auch auf den Schimmelpilz P. notatum, und sie begannen unter zunehmend schwieriger werdenden Bedingungen, die wirksame Substanz, das bislang nur hypothetische Penicillin, zu extrahieren und in Tierversuchen einzusetzen. Vorsichtig und behutsam näherten sie sich dem kritischen Punkt jeder Entwicklung eines Medikaments, nämlich dem ersten Einsatz am Menschen, der 1941 vorbereitet wurde.
Während Penicillin heute in ausreichenden Mengen leicht verfügbar ist, musste man damals um jedes Milligramm ringen. Die Massenproduktion des Antibiotikums, an der Andrew Moyer und Norman Heatley sich versuchten, kam erst nach 1945 in Gang. Anfangs mussten Florey und Chain derart haushalten, dass man sogar alles daransetzte, das Penicillin aus dem Urin von damit behandelten Patienten zurückzugewinnen. In dieser verzweifelten Lage baten sie erst einige Pharmafirmen um Hilfe, die aber zögerten, das benötigte Antibiotikum in großem Stil aus dem Schimmelpilz zu extrahieren, weil sie befürchteten, dass eines Tages ein Biochemiker es im Reagenzglas synthetisieren könnte, was dann keinen Gewinn für sie einbringen würde. Als Nächstes kontaktierten Florey und Chain Fleming, um ihn für ihre Ideen zu gewinnen, aber der Namensgeber des Penicillins winkte zunächst ab und verhielt sich passiv. Sein Interesse wurde erst geweckt, als ein Freund seiner Familie erkrankte und das Antibiotikum gebrauchen konnte, von dem inzwischen erwiesen war, dass es bei Wundinfektionen gut wirkte, wie sie gerade in Kriegszeiten vermehrt auftraten.
Jetzt wurde Fleming aktiv. Er wandte sich an das Fachblatt British Medical Journal und ließ in Interviews durchblicken, dass es sein Penicillin sei, das jetzt den Soldaten im Feld das Leben rettete, und die Öffentlichkeit kaufte es ihm ab. Fleming wurde Mitte der 1940er Jahre weltberühmt. Wenn die Welt gerecht wäre, würde sein Name in diesem Zusammenhang nur in einem Nebensatz fallen – wenn überhaupt.

Der Nobelpreis für Wissenschaft wird immer gerecht verliehen

Der Nobelpreis gehört zu den weltweit begehrtesten Auszeichnungen, und die testamentarische Verfügung seines Stifters Alfred Nobel, dass mit seinem Vermögen eine Stiftung gegründet werden sollte, deren Zinsen »als Preis denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben«, verdient Bewunderung. Sie gebührt auch der Nobel-Stiftung, die vier Jahre nach dem Tod Nobels gegründet wurde und das Geld zu fünf gleichen Teilen auf die Gebiete Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und für Friedensbemühungen verteilt. Nobelpreise für die Naturwissenschaften werden seit 1901 – also seit mehr als einem Jahrhundert – vergeben, was bedeutet, dass es einige hundert Menschen gibt, die zu Laureaten geworden sind und sich vor dem schwedischen König verneigen durften. Bei so vielen Entscheidungen keinen Fehler zu machen, ist nahezu ausgeschlossen, auch wenn die Auswahlverfahren so angelegt sind, dass Pannen nach menschlichem Ermessen kaum und auf keinen Fall leichtfertig passieren können.
Zweifellos hat der Nobelpreis seine hohe Wertschätzung verdient und verdankt seine Reputation auch der Tatsache, dass die Entscheidungen der für die Naturwissenschaften zuständigen Akademien in der überwiegenden Zahl der Fälle auch dem Urteil der Zeit standhalten und die Zustimmung von Historikern finden konnten. Keine Frage aber auch, dass sich einige Fehlentscheidungen feststellen lassen. Aus Fehlern wird man bekanntlich klug, und die Öffentlichkeit interessiert sich für solche kleinen Pannen im großen Getriebe. Im Zuge der Entdeckung des Penicillins, um die es gerade ging, bekamen drei Personen die begehrte Einladung nach Stockholm, und zwar ein Schotte, ein Australier und ein Brite: Alexander Fleming, Howard Florey und Ernst Chain. Wir haben aufgezeigt, warum die Berücksichtigung von Fleming nicht angemessen erscheint, und es wäre gut gewesen, wenn man statt seiner Norman Heatley nach Stockholm eingeladen hätte, der sich 1938 zusammen mit Florey und Chain an die systematische Erkundung und Produktion der antibiotischen Wirkstoffe gemacht hatte. Vermutlich hatten die Gutachter in Schweden kein Verständnis für die Leistung von Heatley, der ja nur Pilze wachsen ließ und chemische Substanzen aus ihnen isolierte, wobei wir diesen Verdacht äußern, weil er in mindestens einem Fall bestätigt werden kann.
Ebenfalls am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Nobelpreis für Chemie an Otto Hahn vergeben, und zwar für die »Entdeckung der Kernspaltung von schweren Atomen«. Es soll nicht bezweifelt werden, dass Otto Hahn ein bedeutender Naturwissenschaftler war, dem große Beiträge zur Chemie zu verdanken sind. Es scheint nur, dass dieser Nobelpreis ihm nicht allein gebührte und dass zumindest auch Lise Meitner hätte geehrt werden müssen. Manchmal sagt man, dass Otto Hahn den Nobelpreis von Meitner bekommen hat, und damit meint man, dass sie die Experimente vorbereitet hat, die Otto Hahn von 1938 an weiterführte, nachdem Lise Meitner als Wiener Jüdin Deutschland verlassen musste und gezwungen war, ins Exil zu gehen. Lise Meitner hatte auch sofort – und besser als Hahn – das Resultat der Experimente im Winter 1938/39 verstanden, und sie konnte sogar die dazu nötige theoretische Erklärung liefern. Und an dieser Stelle setzt die ärgerliche Ungerechtigkeit ein. Denn das Komitee, das für die Vergabe des Nobelpreises für Chemie zuständig war, um den es unglücklicherweise für die Physikerin gehen sollte, bat einen Wissenschaftler um Rat, der zwar praktisch versiert war, aber den gesunden Menschenverstand nicht walten ließ. Er sichtete die Unterlagen, stellte fest, dass Lise Meitner zuletzt keinen experimentellen Beitrag mehr geliefert hatte – ohne sich zu fragen, wie ihr das im schwedischen Exil ohne angemessene Ausrüstung gelingen sollte -, und hielt die Entscheidung für Hahn für ausreichend.

Der Nobelpreis für das Insulin

Wenn man auf die Einzelheiten eingeht, wird die Sachlage rasch komplizierter, denn neben Lise Meitner und Otto Hahn gab es noch den Chemiker Fritz Straßmann und den Physiker Otto Robert Frisch, die beide an verschiedenen Orten zu den Bemühungen beigetragen haben, die Kernphysik am Ende der 1930er Jahre voranzubringen. Alle vier hätten den Nobelpreis verdient, aber zusammen durften sie keinesfalls berücksichtigt werden, denn die Statuten der Nobel-Stiftung erlauben dies nicht. Maximal drei Personen können sich einen Preis teilen, und das aus gutem Grund, denn sonst könnte leicht die erwünschte Exklusivität verlorengehen. Diese eisern durchgehaltene Dreierregel hat schon mal dazu geführt, dass ein Vierter nicht ausgezeichnet werden durfte – wie bei den Olympischen Spielen, die nicht zufällig zu derselben Zeit als friedlicher Wettstreit unter den Nationen wiederbelebt wurden, als Alfred Nobel sein Testament konzipierte.
Klar ist auf jeden Fall: Wenn vier Personen an einer nobelpreiswürdigen – und vielleicht sogar lebensrettenden – Entwicklung beteiligt sind, gerät das zuständige Komitee in Verlegenheit, es sei denn, es kann trickreich ausweichen und einem Physiker den Chemiepreis oder einem Chemiker den Physikpreis zusprechen. Wir lassen auch diese Fälle auf sich beruhen und wenden uns der mehr oder weniger missglückten Preisvergabe zu, weil bei ihr tatsächlich vier Personen zu berücksichtigen waren (und man etwas zu rasch entschieden und den Preis zu früh verliehen hat). Es geht um die Entdeckung des für Zuckerkranke unentbehrlichen Insulins, für die im Jahr 1923 der Kanadier Frederick G. Banting und der Schotte John J. R. Macleod mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurden. Während einer von beiden den Preis nicht so recht verdient hat, taucht der wahrscheinlich wichtigste Forscher in der Insulin-Geschichte bis heute kaum in den entsprechenden Annalen und in den Lehrbüchern auf. Sein Name ist James Collip. Wer hat schon einmal von ihm gehört?
Die Geschichte, die zum Nobelpreis führte, begann 1921, als Experimente an der der Universität Toronto nachweisen konnten, dass ein Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) die Zuckerkrankheit unter Kontrolle halten konnte – bei Hunden. Kurz darauf riskierten einige Wissenschaftler, den nur sehr grob gereinigten Stoff am Menschen zu testen, und als das tatsächlich funktionierte und Leben rettete, wurde bereits 1923 der Nobelpreis für Medizin verliehen. Es lag zwar in der ursprünglichen Absicht des Stifters, Entdeckungen in dem Jahr auszuzeichnen, in dem sie gemacht worden waren. Aber seine Testamentsvollstrecker waren da vorsichtiger und vertraten die Ansicht, dass man sich bei der Auswahl der Laureaten etwas mehr Zeit lassen sollte – und vielleicht hätte man dies auch 1923 tun sollen. Doch das Insulin konnte offenbar den Tod besiegen, und die Menschen waren zu begeistert, um mit der Auszeichnung ein Jahr oder länger zu warten.

Süßer Urin

Das Ganze begann natürlich viel früher. Die Zuckerkrankheit bei Menschen wurde bereits im 17. Jahrhundert diagnostiziert, und zwar dadurch, dass mutige Mediziner durch Probieren entdeckten, dass der Urin süß schmeckte – so süß wie Honig, was im Namen Diabetes mellitus ausgedrückt wird. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte man beobachtet, dass die Bauchspeicheldrüse eine Rolle spielt, denn wenn man Hunden die Bauchspeicheldrüse entfernte, sammelte sich in ihrem Urin Zucker an. Die experimentelle Operation war zwar aus anderen Überlegungen heraus unternommen worden, aber den Forschern fiel eines Tages auf, dass sich Fliegen um den Hundeurin sammelten – und diese können bekanntlich nicht irren. Nach entsprechenden Messungen wurde bald auch den Biochemikern und Medizinern klar, was sie anlockte: Zucker.
Damit war der Diabetes-Forschung das Ziel vorgegeben – nämlich herauszufinden, was die Bauchspeicheldrüse im Normalfall produziert und bei Zuckerkranken nicht zustande bringt. An der Universität von Toronto machten sich Frederick Banting und Charles Best an die Arbeit, und zwar in der Abteilung für Physiologie, die von John Macleod geleitet wurde. Banting und Best bemühten sich in zahlreichen Tierversuchen darum, den von der Bauchspeicheldrüse ausgeschiedenen Faktor erst anzureichern und dann möglicherweise zu isolieren und zu identifizieren. Inzwischen war allgemein bekannt geworden, dass es die sogenannten Inselzellen – auch bekannt als Langerhans’sche Inselzellen – sind, die den entscheidenden Stoff ausscheiden, der seitdem Insulin genannt wird. Die experimentelle Herausforderung bestand zum einen darin, den Wirkfaktor mit chemischen Methoden zu extrahieren, und zum andern den medizinischen Nachweis zu führen, dass seine Verabreichung den frühzeitigen Tod der Hunde verhinderte, bei denen man die Bauchspeicheldrüse entfernt hatte.
Banting und Best unternahmen ihre Experimente, als ihr Chef in Urlaub war. Als sie ihm erste Erfolge nach seiner Rückkehr melden wollten – sie schwärmten dabei höchst optimistisch von Verbesserungen im Gesundheitszustand durch die Gabe eines Pankreasextrakts, ohne dies tatsächlich belegen zu können -, zeigte sich Macleod verärgert, weil die beiden offenbar zu schnell und zu schludrig vorgegangen waren. Er stellte ihnen den Biochemiker James Collip an die Seite, der – unter anderem mit methodischen Hinweisen von Macleod – zunächst den noch unbekannten Wirkstoff besser vom Rest zu trennen lernte. Er begann, die medizinischen Experimente sauber durchzuführen, wandte neue Methoden wie das Filtern der Extrakte an und nahm überhaupt im Lauf der Zeit das ganze Projekt unter seine Fittiche – sehr zum Ärger von Banting und Best, die daraufhin etwas übereilt eine biochemische Probe aus der Bauchspeicheldrüse an einem Zuckerkranken ausprobierten. Ihr unbedachtes Vorpreschen scheiterte erwartungsgemäß, mit der Folge, dass sie nun immer mehr von Collip abhängig wurden. Der Biochemiker konnte bald tatsächlich hochgereinigtes biochemisches Material aus dem Pankreas liefern, das anschließend diabetischen Kindern verabreicht wurde und deren Leben retten konnte. Collip informierte seinen Chef, Macleod, der voller Stolz die so erfolgte Entdeckung von Insulin im Juli 1923 verkündete – und noch im selben Jahr zusammen mit Banting den Nobelpreis entgegennehmen konnte.

In Stockholm

Mit Banting? Tatsächlich mit ihm. Und was war mit Best und Collip? Sie wurden immerhin bei den Feierlichkeiten in Stockholm erwähnt und finanziell bedacht. Macleod lobte Collip über alle Maßen und spendierte ihm die Hälfte seines Preisgeldes (ohne das Komitee direkt zu kritisieren). Banting tat zunächst dasselbe für Best. Er rühmte seinen Juniorpartner, doch dann beschimpfte er seinen Chef, obwohl er gerade mit ihm ausgezeichnet worden war. Banting fühlte sich bärenstark. Er ritt auf einer Welle der patriotischen Zustimmung, da er der erste Kanadier war, der den Nobelritterschlag bekommen hatte und die dazugehörigen – vitalen – Entdeckungen in Toronto, seinem Heimatland, gelungen waren. Und in dieser Stimmung beschuldigte er Macleod, die Forschungsarbeiten eher behindert zu haben, wobei sich die heutigen Wissenschaftshistoriker darüber einig sind, dass Banting und Best so zerfahren und schludrig experimentiert und so viele leichtfertige Behauptungen publiziert hatten, dass ihre Beiträge ohne Collip und Macleod niemals in der Medizingeschichte Erwähnung gefunden hätten.
Bantings Stockholmer Lob für seinen Partner Best war übrigens eine einmalige Angelegenheit. An anderen Stellen behauptete er, der führende Kopf des Duos gewesen zu sein, mit der Folge, dass Best auf eine Gelegenheit wartete, um sich zu rächen. Sie bot sich ihm nach Bantings Tod im Jahr 1941. Dann begann der einstige Junior, seine Tiraden loszulassen und zum Beispiel zu verkünden, er persönlich habe den ersten Pankreasextrakt produziert, der Patienten verabreicht wurde. Außerdem streute er die Behauptung, der große Chef Macleod sei die ganze Zeit in Europa gewesen, während Best nach dem Insulin forschte und seine Wirkung nachwies. Die Auftritte von Best mögen peinlich gewesen sein, gewirkt haben sie doch. In vielen Lehrbüchern findet man bis heute den Eintrag, dass Best und Banting – in dieser Reihenfolge – das Insulin entdeckt haben, und zwar ganz ohne Hilfe. Dafür hätten dann auch beide den Nobelpreis für Medizin bekommen – so steht es in einigen Chroniken als Tatsache, obwohl sie gar keine ist.

»Ohne Shakespeare gäbe es seine Werke nicht, aber ohne Einstein gäbe es seine Theorien«

Es gibt natürlich auch Wissenschaftler, die die begehrte Auszeichnung aus Stockholm deshalb nicht bekommen haben, weil ihnen jemand zuvorgekommen ist und den besseren Weg eingeschlagen hat, der zur gekrönten Lösung geführt hat. Ein Beispiel dafür ist der aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Paris und schließlich nach New York emigrierte Biochemiker und Essayist Erwin Chargaff, der in den ersten Nachkriegsjahren an dem Stoff arbeitete, aus dem die Gene sind. Gemeint sind die als Nukleinsäuren bekannten Moleküle, die als Gene dienen. Dass die mit den drei Buchstaben DNA abgekürzten Bestandteile einer Zelle – sie finden sich vornehmlich im Zellkern – tatsächlich für die Weitergabe der Erbinformation zuständig waren, wusste man seit der Mitte der 1940er Jahre und ganz sicher nach 1952. Damit begann ein Rennen um das Verständnis ihrer Struktur: Wie sahen Gene aus? Wie waren sie aufgebaut, und was versetzte sie in die Lage, sich zu verdoppeln?
Einer der Teilnehmer an dem Rennen war Erwin Chargaff, der die Lösung alleine finden wollte und sie ausschließlich in seiner Wissenschaft, der Chemie, zu finden vermutete. Zu seinen Konkurrenten zählte das britisch-amerikanische Duo Francis Crick und James Watson, das jede Hilfe annahm, die ihm von anderen geboten wurde, und bei der Lösung auf eine Kombination von vielen Einzelwissenschaften und deren Ergebnisse setzte. Wir wissen heute, dass Watson und Crick im Frühjahr 1953 das Rennen gewonnen haben durch den Vorschlag der heute berühmten Doppelhelix – und wir wissen auch, dass die Sieger wegen der Schönheit ihres Ergebnisses den besonderen Rang bekommen haben, zu den berühmtesten Biologen des 20. Jahrhunderts und vielleicht sogar darüber hinaus gezählt zu werden. Einer von ihnen – James Watson – hat einen persönlichen Bericht über diesen Erfolg verfasst, der so heißt wie die Struktur, die er mit Crick zusammen aus der Taufe gehoben hat: Die Doppelhelix. Es ist ein wunderbares Buch, das viele Jahre lang die internationalen Bestsellerlisten angeführt und so viele Besprechungen bekommen hat, dass man daraus ein weiteres Buch zusammenstellen konnte. Eine dieser Rezensionen stammt von Chargaff, und mit ihr kommen wir endlich auf die zwar unsinnige, aber leider immer wieder vorgebrachte Behauptung dieses Kapitels zu sprechen.

Die Prozedur

Einige Leser werden sich bestimmt über dieses Urteil wundern, weil sie anderer Meinung sind. Es stimmt doch wohl, dass es Shakespeares Werke ohne den Dichter nicht gegeben hätte. Und was Einsteins Theorien angeht, so hört man doch immer wieder, dass etwa der Franzose Henri Poincaré mit ähnlichen Überlegungen befasst war und der Holländer Hendrik Antoon Lorentz ebenfalls wichtige Beiträge dazu geleistet hatte. Hätte es Einstein nicht gegeben, hätten uns Poincaré und Lorentz seine Theorie vorgelegt?
Man findet diesen Gedanken sogar in dem Roman Die Prozedur von Harry Mulisch, in dem sich der Autor auf das oben angeführte Beispiel mit der Doppelhelix bezieht. In dem Text von Mulisch spielt ein Biochemiker namens Victor Werker mit, und der äußert als Biologe folgende Ansicht:
Wenn Watson und Crick die Struktur der DNA nicht entschlüsselt hätten, dann hätte es innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre jemand anders getan, aber was für die Wissenschaft gilt, trifft nicht für die Literatur zu, denn wer immer nach Watson gekommen wäre, der hätte nicht anschließend dieses Buch [Die Doppelhelix] geschrieben.
Und Werker lernt daraus für sich selbst:
Für meine eigenen Forschungen gilt das Gleiche; aber wenn Kafka nicht den Prozess geschrieben hätte, dann wäre dieser Roman bis in alle Ewigkeit ungeschrieben geblieben. Kurzum, es ziemt uns, bescheiden zu sein.
Vermutlich stimmen selbst viele naturwissenschaftlich tätige Leser dieser Bemerkung zu, weil sie den Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft genauso sehen – und damit die Qualität ihrer eigenen Arbeit abwerten, ob sie es merken oder nicht. Schließlich sagen oder denken sie, was Doktor A heute nicht erreicht hat, wird morgen Doktor B oder spätestens übermorgen Doktor C erreichen. Nur was Dichter D heute geschrieben hat, das kann kein anderer schreiben, das kann nur er so machen.
Hinter diesem sich hartnäckig haltenden Vorurteil steckt die offenbar nicht zu erschütternde Ansicht, dass es zwar besondere (geniale) Menschen sind, die künstlerische Schöpfungen hervorbringen, dass die Wissenschaft aber durch austauschbare (anonyme) Wesen vorankommt. Es sind nicht die Menschen, die Wissenschaft machen. Es ist vielmehr die Wissenschaft, die Menschen (berühmt) macht – und Watson liefert genau das geeignete Beispiel, wie es vielen scheint, die dann nicht weiter nachdenken.
Das Seltsame an der zitierten Stelle bei Mulisch besteht darin, dass er so schreibt, obwohl er die literarische Arbeit von Watson – seine zweite Doppelhelix – sehr hoch einschätzt. Der Vergleich zwischen der Publikation von 1953, in der die Struktur des Erbmaterials zum ersten Mal beschrieben worden ist, und Werken der Kunst ist nämlich ursprünglich verwendet worden, um Watsons autobiographischen Text von 1968 abzuwerten, was uns zu dem Biochemiker Chargaff zurückbringt, der eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Doppelhelix gespielt hat und in Watsons persönlichem Bericht vorkommt. Chargaff gefiel die »literarische« Doppelhelix überhaupt nicht, und er verwarf sie noch im Erscheinungsjahr aus grundsätzlichen Überlegungen. In einer Rezension verbreitete er das beliebte Gerücht, dass Naturwissenschaftler uninteressante Menschen sind, die im Vergleich zu Künstlern ein langweiliges und ereignisarmes Leben führen. Er erklärte dann auch, warum Künstler biographisch um vieles ergiebiger seien. Dies liege – Chargaff zufolge – daran, dass es einen zentralen Unterschied gebe zwischen den seiner Ansicht nach stets einmaligen Schöpfungen von Künstlern einerseits und den oft banalen Hervorbringungen von Naturwissenschaftlern andererseits. Und an dieser Stelle taucht in aller Deutlichkeit das Argument auf, dessen Nachhall drei Jahrzehnte später bei Mulisch zu lesen ist und das in den meisten Köpfen umherspukt. Timon von Athen - so Chargaff - wäre nie geschrieben, Les Desmoiselles d’Avignon wäre nie gemalt worden, wenn Shakespeare und Picasso nicht existiert hätten. Aber von welchen naturwissenschaftlichen Errungenschaften könne Gleiches behauptet werden? Ist es nicht so, dass es Impfstoffe gegen die Tollwut auch ohne Pasteur, ein Atommodell auch ohne Bohr und die Doppelhelix ohne Watson und Crick gegeben hätte?

Ein Werk und sein Inhalt

Wer sich auf Partys oder bei anderen Gelegenheiten umhört und Chargaffs Ansicht zum Besten gibt, wird feststellen, dass ihm fast alle zustimmen, sogar Harry Mulisch, wobei er diese Worte vorsichtshalber einem Naturwissenschaftler in den Mund legt. Er verdeutlicht auf diese Weise, was leider der Fall ist, dass nämlich viele Forscher an die Einmaligkeit künstlerischer Schöpfungen und die Zufälligkeit unabänderlicher wissenschaftlicher Entdeckungen glauben. Immerhin steigert Mulisch die Höhe des Vergleichs, denn während Chargaff das schwächste Stück von Shakespeare heranzieht, um der Arbeit von Watson und Crick auch den kleinsten Anspruch auf Qualität zu nehmen, wählt Mulisch immerhin ein Hauptwerk von Kafka, um die Präsentation der Doppelhelix in den Blick zu bekommen.
Verwirrend bleibt, dass weder Mulisch noch andere Literaten selbst Jahrzehnte nach Chargaff nicht gemerkt haben, dass der angestellte Vergleich nicht nur falsch, sondern sogar sinnlos ist. Schließlich wird da etwas verglichen, was nicht einmal im Ansatz zu vergleichen ist, nämlich ein Roman beziehungsweise ein Theaterstück auf der einen und das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung auf der anderen Seite. Der Prozess ist ein Roman, Timon von Athen ist ein Drama, und die Doppelhelix ist eine Struktur, und Bohrs Konzeption des Atoms ist ein Modell. Das eine sind Werke, und das andere sind Inhalte, und wenn beides verglichen wird, kann nur Unsinn herauskommen. Man muss sich fragen, warum sich dieses dumme Vorurteil so hartnäckig hält, und zwar auch unter intellektuell anspruchsvollen Poeten, die dem wissenschaftlichen Treiben doch sonst mit Vergnügen zuschauen.

Das Ende der Bescheidenheit

Hier muss die Psyche zur Erklärung herangezogen werden. Mulisch lässt seinen Helden Werker am Ende des Zitats etwas über Bescheidenheit murmeln, und das heißt doch wohl, dass sich Wissenschaftler nicht einbilden sollen, ihre Kreativität mit der von Dichtern und anderen Künstlern messen zu können. Offenbar wehrt sich unser kollektives Unbewusstes gegen das Eingeständnis, dass Wissenschaft schöpferisch und kreativ sein kann und ist. Irgendwie suchen wir gerne falschen Trost bei dem Gedanken, dass Wissenschaften nur entdecken, was schon da ist, ohne etwas zu erschaffen, während die Künste erschaffen, was vorher nicht da war, ohne etwas zu entdecken.
Stellen wir die konkrete Frage bei dem angeführten Beispiel: War die Doppelhelix immer schon so, wie sie heute ist? Und war sie schon da, bevor Watson und Crick sie 1953 beschrieben haben? Wer hier rasch Ja antworten will, sollte wissen, dass es danach weitere Fragen gibt. Angenommen, jemand sagt, die Doppelhelix gab es schon vor Watson und Crick, dann würde man gerne wissen, wo sie denn damals war. Die Antwort kann nicht »in der Natur« oder »in einer Zelle« heißen, denn die Doppelhelix ist kein konkret vorliegendes DNA-Molekül, und wer »in der Natur« sucht oder »in einer Zelle« nachsieht, wird dort nichts Derartiges finden. Die DNA ist eine Abstraktion, die von uns als Symbol gefasst und kommuniziert wird. Ihr Auftauchen verdanken wir den langwierigen Bemühungen vieler Biowissenschaftler, Physiker und Kristallographen. In der natürlichen Welt – in den Zellen der lebendigen Körper – gibt es nicht so etwas wie ein DNA-Molekül, und es gibt erst recht nicht die Doppelhelix, die eher aus der wissenschaftlichen Literatur bekannt ist und ihren ästhetischen Reiz als Symbol ausübt.
Es ist einfach falsch zu sagen, die Struktur der DNA war, was sie war, bevor Watson und Crick sie vorlegten. Es ist vielmehr richtig zu sagen, dass die Doppelhelix sowohl Schöpfung als auch Entdeckung ist, und der Bereich ihres Daseins ist nicht die Natur, sondern die Gedankenwelt und Literatur der Naturwissenschaft. Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen Entdeckung und Schöpfung hat in der Naturwissenschaft wenig philosophische Bedeutung. Naturwissenschaftler und Dichter repräsentieren die gleiche Höhe der Kultur – alles andere wäre falsche Bescheidenheit und dient der Verbreitung von Legenden, die uns nicht helfen.

Die Wissenschaft kennt keine Klassiker

Auch wenn viele das nicht hören möchten: Hierzulande besteht zwischen den Naturwissenschaften und anderen schöpferischen Leistungen – Literatur, Malerei, Musik – ein tiefer Graben, den der englische Physiker und Romancier Charles P. Snow vor rund einem halben Jahrhundert auf den Begriff der zwei Kulturen gebracht hat. Snow regte die Hochnäsigkeit von sogenannten Intellektuellen an der Eliteuniversität von Cambridge auf, die auf der einen Seite ihre Nase rümpften, wenn sie jemanden trafen, der mit Shakespeares Sonetten nichts anzufangen wusste, während sie es auf der anderen Seite für überflüssig hielten zu verstehen, wovon der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik handelte.
Zur Erinnerung: Die eben erwähnte Gesetzmäßigkeit der Naturforschung tritt einem Ersten Hauptsatz an die Seite, der von der Erhaltung und Unzerstörbarkeit der Energie handelt. Der Zweite Hauptsatz drückt aus, dass physikalische Systeme dazu tendieren, ihre Ordnung (Strukturen) zu verlieren und den Zustand anzustreben, der am wahrscheinlichsten ist. In der Öffentlichkeit wird meistens zustimmend genickt, wenn man erwähnt, was Snow bemerkt hat, dass nämlich die Gebildeten Shakespeares Sonette kennen, nicht aber den Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre, ohne dass die Beipflichtenden bemerken, dass sie damit den katastrophalen Zustand unserer Kultur akzeptieren. Die Naturwissenschaften werden weithin nicht als Bildungsbestandteil betrachtet, deren Geschichte es zu kennen lohnt. Kein Wunder, dass unter dem Jubel der Feuilletons kurz vor der Jahrtausendwende (1999) ein Buch erscheinen konnte, das Bildung hieß und im Untertitel versprach, »Alles was man wissen muss« zu enthalten, ohne auch nur halbwegs ernsthaft den Versuch zu unternehmen, den naturwissenschaftlichen Bereich wenigstens ansatzweise zu berücksichtigen.
Die Behauptung, dass die Theorie der Evolution, die Quantensprünge der Atome oder die genetische Basis des Lebens nicht zum Bildungsstoff gehören, leuchtet deshalb vielen sich sonst an Kultur orientierenden Menschen ein, weil sie keine Personen vor Augen haben, die sie mit diesen Lehren verbinden. Wenn von Musik, Literatur oder Malerei die Rede ist, fallen einem sofort Namen wie Mozart, Brecht oder Rembrandt ein, und wir richten unsere Bildung an diesen Klassikern aus. Große Leistungen auf den genannten Gebieten verbinden wir mit großen Namen, aber wir haben ein Manko in unserer Bildung, wenn es um Naturwissenschaften geht. Dadurch entsteht der Graben zwischen den zwei Kulturen, den Snow selbst erkennen lässt. Er spricht zwar auf der einen Seite von einem Dichter – Shakespeare -, auf der anderen Seite aber nicht von einem Forscher. Der Zweite Hauptsatz hat entweder keinen Schöpfer, oder dieser Schöpfer hat keinen Namen. Er bleibt unbekannt und fremd wie die ganze Naturwissenschaft, der dadurch ein Gesicht fehlt. Kein Wunder, dass die Menschen lieber weg- als hinschauen und sich Kafka und Kleist zuwenden.
Das Namenlose findet man selbst bei Autoren, die für die Naturwissenschaft leben und zu ihr beitragen. Der Wiener Physiker Victor Weisskopf versucht zum Beispiel in seiner Autobiographie die gleichrangige Bedeutung von Kunst und Wissenschaft zu empfehlen, indem er sagt, wir sollten auf »Mozart und die Quantenmechanik« stolz sein. Und neulich konnte man in der Zeitschrift New Scientist den gut gemeinten Hinweis lesen, dass die Theorie der Relativität ihren Platz in der kulturellen Landschaft ebenso beanspruchen könne wie Beethoven. Klassiker hier, Disziplinen dort; Menschen mit Namen hier, Abstraktionen ohne Gesicht dort – das macht die tiefe Kluft zwischen den beiden Kulturen aus, und die gilt es in einer Gesellschaft zu schließen, die ernsthaft angefangen hat, von Bildung zu reden, und damit nicht den Museumsbesuch am Wochenende meint, sondern die Grundlage einer zukunftsfähigen Lebensform, die unserer Wissenschaftskultur entspricht.
Es ist nicht zutreffend, dass die Naturwissenschaft keine Klassiker hat. Es stimmt nur, dass wir sie nicht lesen und zur Kenntnis nehmen. Es gibt wunderbare Texte zum Beispiel von Max Planck (Kausalgesetz und Willensfreiheit, Wissenschaft und Glaube), Werner Heisenberg (Die Einheit der Natur bei Alexander von Humboldt und in der Gegenwart, Die Tendenz zur Abstraktion in moderner Kunst und Wissenschaft), Max Born (Über den Sinn von physikalischen Theorien, Entwicklung und Wesen des Atomzeitalters) und selbstverständlich Albert Einstein (Die Religiosität der Forschung, Der wahre Wert eines Menschen). Nicht zu vergessen auch Schriften aus früheren Jahrhunderten.
Was für herrliche Texte gibt es unter anderem von Hermann von Helmholtz, der sich über Tonempfindungen und das Wahrnehmen des Wirklichen äußert, von Georg Christoph Lichtenberg, wenn er von der Luft und vom Licht berichtet, oder von Leonhard Euler, wenn er Briefe an eine Prinzessin schreibt, um ihr sein Vergnügen an der Naturkunde zu vermitteln.
Die Geschichte der Naturwissenschaft kennt eine Fülle von Personen, die das Zeug zum Klassiker haben. Wir brauchen nur Mut, über den Graben zu springen, der sie zu Außenseitern macht. Vielleicht bringen die Philologen diesen Mut auf, indem sie sich naturwissenschaftliche Texte vornehmen und sie so gut lesbar machen wie die Klassiker der Literatur.

Galileo Galilei ging es nur um die Wahrheit

Wenn es eine historische Figur in der Geschichte der Naturwissenschaft gibt, die am ehesten das Zeug zum Klassiker haben könnte, dann fällt den meisten Menschen Galileo Galilei ein. Immerhin gibt es ein Theaterstück über den italienischen Mathematiker, Astronomen und Höfling – Leben des Galilei, das der Klassiker Bert Brecht geschrieben hat. Galilei selbst hat einige als klassisch zu bewertende Texte verfasst, die von einer neuen Wissenschaft künden und in denen Dialoge über Weltsysteme geführt werden. Galileis Leben selbst steckt voller spannender Momente, die von der Erfindung des Fernrohrs über die (allerdings knapp verpasste) Entdeckung erster Gesetze der Bewegung bis hin zu seiner Auseinandersetzung mit der Kirche um das kopernikanische Modell des Universums reichen, bei dem sich die Erde um die Sonne dreht. Und wie nachzulesen ist, hat die Kirche mit ihrer Inquisition Galilei zwar ins Gefängnis geworfen und ihm offenbar auch mit der Folter gedroht, aber er soll sich unbeirrt für die wissenschaftliche Wahrheit, und nur für die Wahrheit eingesetzt haben.

Andere Sachverhalte

Zweifellos war Galilei ein überragender und grandioser Wissenschaftler. Zu Recht fällt bis heute sein Name, wenn Physik unterrichtet wird – etwa in Form der sogenannten Galilei-Invarianz, der zufolge die Gesetze der Natur sich nicht ändern, wenn man vom ruhenden Dasein in das einer gleichförmigen und gleichmäßigen Bewegung wechselt. Galilei hatte – wie viele vor ihm – bemerkt, dass Wasser auf einem dahintreibenden Schiff genauso fließt wie an Land und Gegenstände in beiden Fällen genau gleich zu Boden fallen, nur hatte er im Gegensatz zu den anderen daraus den Schluss über die Invarianz, die Unveränderlichkeit, gezogen. Galilei hat gewiss Großes in der Wissenschaft geleistet, aber daraus folgt leider nicht, dass es ihm vor allem um die Wahrheit ging. Man hat fast den Eindruck, es ging ihm mehr um Ruhm und Aufmerksamkeit. An ihm war immer auch etwas Widersprüchliches, ja Hinterhältiges. Galilei war stets kampfeslustig und riskierte eine dicke Lippe, selbst dann, wenn seine Argumente eher dürftig waren.
Nehmen wir zum Beispiel seine berühmte These, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Wir nehmen das heute für bare Münze und bewundern Galileis Weitsicht, die darin zum Ausdruck zu kommen scheint. Aber solche Sätze klingen eher wichtigtuerisch, sie heben ihn selbst – als Professor der Mathematik – in den Rang des Experten, und dabei ist er selbst bei dem Versuch gescheitert, etwa das schlichte Gesetz für den freien Fall zu formulieren. Er war ihm zwar auf der Spur, hat es aber nicht zu fassen bekommen.
Betrachten wir weiter seinen Umgang mit dem Fernrohr, das ihm 1609 zugespielt wurde und mit dessen Hilfe er begann, sich den Ideen des Kopernikus zu widmen (vorher hatte er kein Interesse an der Drehung der Erde gezeigt). Galilei hat seinem Dienstherrn vorgeschwindelt, das Teleskop selbst entwickelt zu haben (in der Absicht, eine bessere Position zu bekommen und seine Bezüge aufzubessern). Er hat es tatsächlich käuflich erworben, um es anschließend – immerhin – zu verbessern.
In den folgenden Jahren hat Galilei sicher eine Menge Einsichten mithilfe des Fernrohrs gewonnen – etwa dass es Berge auf dem Mond gibt und dass der Jupiter Monde hat, die ihn umkreisen -, aber am meisten hat ihm wohl Spaß gemacht, seine Zeitgenossen mit dem neuen Gerät zu verschrecken und zu attackieren, etwa wenn sie nicht durch das Instrument schauen wollten oder nichts zu erkennen vermeinten, nachdem sie es getan hatten. Aber Galilei hat auch verärgert reagiert, wenn andere ihm mit einer Entdeckung zuvorkamen. 1618 zum Beispiel beobachteten Jesuiten am Collegio Romano drei merkwürdige Objekte am Himmel, die wir heute als Kometen kennen. Sie konnten zwar mit ihren damaligen Kenntnissen nicht viel über die sich selten zeigenden Himmelskörper sagen, hatten aber den Mut, sie der supralunaren Sphäre zuzurechnen, also anzunehmen, dass sie weiter von der Erde entfernt sind als der Mond. 1619 publizierten die Jesuiten dann ihre Vermutung, die Kometen seien sogar weiter weg als der Merkur oder die Sonne.
Galilei war zwar auch dieser Ansicht, den Jesuiten aber einfach zuzustimmen, wäre völlig unspektakulär gewesen. Also veröffentlichte Galilei – unter dem Namen eines Freundes – eine Erwiderung, in der er sämtliche unwissenschaftlichen Register zog und mit Mitteln der Polemik, Unterstellung und Verneblung operierte. Es wäre ein Fest für jede Talkrunde, deren Moderatoren einen wie Galilei jederzeit gebrauchen können, gerade weil er als Experte so leicht zu durchschauen ist.

Galilei und der Papst

Er wäre zudem für unsere heutigen Medien ein äußerst prominenter Gast, denn immerhin hat er mit dem Papst selbst gestritten, als es in den 1630er Jahren in Rom um die Wahrheit der kopernikanischen Idee ging, dass sich die Erde dreht und nicht im Mittelpunkt der Welt ruht. Galilei hatte sich mit dem Fernrohr am Himmel umgeschaut und dort nicht nur sehr viel mehr Sterne gefunden, als man bis dahin gezählt hatte, sondern sich selbst nach und nach klargemacht, dass viele Beobachtungen besser unter der Annahme einer zentralen Sonne erklärt werden konnten. 1632 erschien sein Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, in dem er sich zu Kopernikus bekannte und deutlich dem Dekret des Heiligen Offiziums widersprach, das 1616 festgelegt hatte, der Gedanke einer sich um die Sonne drehenden Erde sei »irrtümlich im Glauben«.
Der Standpunkt des Vatikans musste Galilei aufregen, der ja dabei war, den (alten) Glauben durch das (neue) Wissen abzulösen. Also nahm er den Kampf mit den kirchlichen Doktrinen auf, und der Papst stellte sich. Urban VIII. sah Galilei besonders genau auf die Finger, weil der Wissenschaftler den Stellvertreter Christi auf Erden in dem erwähnten Dialog unter dem Namen des Dummkopfs Simplicius hatte auftreten lassen. Nun stellte dieser scheinbar einfältige Mann eine ebenso einfache Frage, nämlich, ob Galilei die Wahrheit des kopernikanischen Modells nicht nur behaupten, sondern beweisen könne.
Es war eine gute Frage, und die Antwort ist für alle Zeiten klar. Sie lautet Nein und sogar zweimal Nein. Zum einen gibt es – auch nach Galilei – Beweise nur in der Mathematik (aber nicht am Himmel), und zum andern konnte die Wissenschaft tatsächlich erst im 19. Jahrhundert durch astronomische Evidenz (Ermittlung einer Parallaxe) Pluspunkte für das heliozentrische Modell sammeln und es durch Präzisionsmessungen überzeugend begründen.
Doch Galilei sagte nicht Nein. Es ging ihm ja auch nicht um die – jeweils nachweisbare und prüfbare – Wahrheit, sondern um die Lust am Streiten und die Möglichkeit, der Kirche ihre Rückständigkeit vorzuhalten. Die Kirche verurteilte ihn zum Widerruf und zum Hausarrest, aber sie hütete sich davor, ihn in ein Gefängnis zu sperren, und körperliche Folter hat sie ganz sicher bei Galilei nicht eingesetzt. Sie hat ihm aber damit gedroht, und so steht die Kirche schlechter da als der Wissenschaftler. Immerhin hat die Geistlichkeit im Lauf der Jahrhunderte gemerkt, dass sie auf verlorenem Posten kämpft, was die Mechanik des Himmels angeht, und als Folge davon hat Papst Johannes Paul II. im Jahr 1992 Galilei rehabilitiert und erklärt, seine Verurteilung sei das Ergebnis »eines tragischen wechselseitigen Unverständnisses zwischen dem Wissenschaftler und den Richtern der Inquisition«.
Galilei hätte diese Beurteilung vielleicht gar nicht gefallen. Er hätte betont, dass es langweilig sei, wenn sich alle einig sind, und sich ein neues Streitthema gesucht. Der Gedanke, dass sich der Papst zum Beispiel mit dem Urknallmodell zur Entstehung des Kosmos anfreunden könnte, weil die biblische Erzählung von der Schöpfung dadurch eine wissenschaftliche Erklärung erfahren würde, hätte Galilei gerade gegen diese Idee aufgebracht. Vielleicht hätte er mit den Worten geschimpft, dass eine Physik, die den Anfang der Welt mit einem Knall erklärt, selbst einen hat. Die Einladung in die nächste Talkshow wäre ihm damit sicher.

Die Wissenschaft macht die Religion überflüssig

Galilei wird immer wieder als Beispiel für den unauflösbar scheinenden Konflikt zwischen der Religion und dem Glauben auf der einen und der Wissenschaft und dem Wissen auf der anderen Seite zitiert. »Glauben heißt nichts zu wissen«, wie man uns in der Kindheit eingetrichtert hat, um dann die scheinbar witzige Frage anzuschließen: »Was ist flüssiger als Wasser?« »Suprafluides Helium« würde man als Erwachsener sagen, aber damit wäre man damals nicht weit gekommen. Denn die erwartete Antwort hieß »die Religion«, weil sie überflüssig ist. Das heißt, sie sollte durch die Wissenschaft überflüssig werden, wie man einmal dachte, als es auch als zeitgemäß galt, von den Rückzugsgefechten Gottes zu sprechen. Er zog sich – in diesem Bild und Denken – dorthin zurück, wo die wissenschaftliche Forschung ihn noch nicht aufgescheucht hatte.
Diesem Glauben an die vollständige Erklärbarkeit der Welt standen und stehen Überzeugungen gegenüber, dass die Naturwissenschaft nur irrelevante Dinge wie die Reibung beim Rutschen auf Schmierseife erkunden kann und ansonsten die großen Fragen wie »Woher kommen wir?« den Religionen überlassen muss. Es gibt offenbar mächtige – jedenfalls lautstarke – Gruppen, die den vernünftigen und prüfbaren Vorschlag einer Evolution des Lebens und der Menschen vehement von sich weisen und stattdessen einem angeblich »intelligenten Designer« das Feld überlassen.
Lassen wir uns aber nun auf das Wechselspiel zwischen Glauben und Wissen ein – zwischen dem Vertrauen in (einen) Gott und der Überzeugung, Wissen erwerben zu können. Galileis Streit mit dem Papst und der Inquisition um das Verstehen der Himmelsbewegungen ist dabei ebenso unglücklich wie die Auseinandersetzung, zu der es nach 1859 kam, als Charles Darwin eine natürliche Erklärung für die Vielfalt des Lebens – also die Schöpfung – vorschlug und sich mit diesem Gedanken der Evolution daranmachte, die Herkunft des Menschen als Frage der Wissenschaft zu behandeln. Zwar trifft es zu, dass Darwin persönlich keinen Zugang zu einem (irgendwie gerecht vorgehenden und menschliches Elend abweisenden) Gott finden konnte. Aber sein Vorschlag einer durch natürliche Selektion von zufälligen Varianten entstandenen Lebensfülle war genau das – ein Vorschlag, eine wissenschaftliche Hypothese, die sich zu bewähren hatte und uns viele Aufgaben stellte, mit deren Bewältigung wir nach wie vor in vielen Details zu tun haben.

Von Newton zu Planck

Zu Beginn der modernen Wissenschaft zeigten die Begründer wenig Neigung, ihren Glauben durch ihr Wissen erschüttern zu lassen. Isaac Newton zum Beispiel schien sich nicht daran zu stören, dass Gott ab und zu einmal in das himmlische Geschehen eingriff, um es wieder in stabile Bahnen zu lenken. Newton hatte zwar durch seine Gleichungen für die Bewegungen der Planeten gezeigt, dass es so etwas wie ein kosmisches Uhrwerk gab, bei dem die Erde als ein Rädchen mitmachte. Er hatte aber – besser als selbst viele Wissenschaftler heute – auch verstanden, dass die Lösungen seiner Gleichungen nicht determiniert waren, dass es zu Abweichungen und Zusammenstößen kommen konnte und Stabilität durch die Physik keinesfalls garantiert war. Dafür gab es Gott, der alles im Blick hatte und gegebenenfalls die nötigen Korrekturen vornahm.
Natürlich finden wir heute einen solchen Gott eher komisch, aber den Gedanken an ihn haben große Wissenschaftler keineswegs aufgegeben. Wer sich zum Beispiel mit dem Vater der Quantensprünge, Max Planck, beschäftigt, wird seine Grundhaltung kennen lernen, dass Religion und Wissenschaft nicht gegeneinander angetreten sind, sondern im Gegenteil miteinander wirken können – nämlich gegen Magier, Esoteriker, Astrologen und andere »Feinde der Wissenschaft«, wie Planck sie mutig nannte. Naturforscher agieren eher dicht am religiösen Feld, wie sich bei Planck zeigt, der sich zu seinen Lebzeiten nicht scheute, einige Naturgesetze mit dem Attribut »heilig« zu versehen – der heilige Energiesatz zum Beispiel. Für ihn standen Naturwissenschaften und Religion auf derselben Seite des humanen Kampfs gegen Aberglauben und Ideologie, mit dem Unterschied, dass der religiöse Mensch am Anfang bei Gott ist und der wissenschaftliche Mensch am Ende zu Gott findet.
Damit will Planck auf die Tatsache hinweisen, dass gelungene Einsichten in das Wirken der Natur in dem sie vollziehenden Menschen religiöse Gefühle auslösen können, weil sie Erfahrung von Selbsttranszendenz vermitteln. Man wird eins mit der Natur und ist im Vollzug außer sich vor Glück, wie es im Volksmund heißt. Und wer vermitteln will, was Naturwissenschaft kann, sollte ruhig darauf eingehen, wenn er Menschen erreichen will, deren Kulturverständnis in der Kunst beginnt und die mit existenziellen Erlebnissen schöpferisch tätiger Individuen vertraut sind.

Die Achsenzeit

Die selbstverständliche Verbindung von Glauben und Wissen, Religion und Forschung, die wir bei den zeitlichen Polen Newton und Planck finden, hat eine tiefe historische Ursache, die Karl Jaspers in seinem 1949 erschienenen Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte entdeckt und vorgestellt hat. Jaspers verdichtet hierin viele ältere historische Untersuchungen zu der Beobachtung, dass der Ursprung der Weltreligionen – wie auch der griechischen Philosophie – in den Jahren zwischen 800 und 200 v. Chr. zu finden ist. Jaspers nennt diesen Abschnitt der menschlichen Geschichte die »Achsenzeit« und schreibt dazu:
In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie (…) – in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt -, im Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.
Während der »Achsenzeit« – die parallelen Prozesse, die zu ihr hinführen, und deren Ursprung und Wesen müssen noch erforscht werden – verlässt die Menschheit ihre mythische Phase, wie Jaspers meint. Ihre intellektuellen Vertreter beginnen über die Bedingungen des humanen Lebens (Existierens) nachzusinnen. Sie entdecken dabei die Möglichkeit, den Göttern, die bislang im Irdischen verankert waren, einen eigenen Ort – einen Platz im Himmel – zuzuweisen, und sie werden im Volk verstanden. Die Wende der Achsenzeit erfasst alle, und mit der in ihr vollzogenen Aufteilung entsteht eine Spannung zwischen dem Diesseits (dem Weltlichen) und dem Jenseits (dem Transzendenten). Wer jetzt neben die irdischen Machthaber tritt und Gottes Ratschluss verkündet, lenkt die Aufmerksamkeit auf sich und erwirbt Anerkennung – also die Priester und Propheten.
Eine Aufgabe der Kulturgeschichte besteht darin, die Gründe zu erkennen, die die Achsenzeit herbeigeführt haben. In dieser Phase sind die Kulturen und Gesellschaften, die bis heute überlebt haben, entstanden. Dies bedeutet, dass wir Nachfahren von Menschen sind, die vor Tausenden von Jahren Gott entdeckt haben und transzendenzfähig geworden sind. Wir verfügen daher über die dazugehörigen Qualitäten des Glaubens und Denkens, wenn sich viele von uns auch nicht immer daran erinnern und sie gern übersehen.
Wir haben aus den gleichen Gründen die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten, denn wir sind ebenfalls Nachfahren von Menschen, die vor Hunderten von Jahren für die Geburt der modernen Wissenschaft gesorgt haben, weil sie – zumindest in Europa – mit dem, was die religiösen Institutionen anboten, nicht mehr zufriedengestellt werden konnten. Im frühen 17. Jahrhundert nahmen sich die Pioniere der europäischen Wissenschaft vor, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz dadurch zu erleichtern, dass sie ihre Rationalität einsetzten, um durch Experimentieren und Nachdenken Naturgesetze zu finden, die dann in technischen und anderen Anwendungen genutzt werden konnten.
Weil es ihr gelang, dieses Versprechen im 19. Jahrhundert glänzend in die Tat umzusetzen, konnte die Wissenschaft im 19. Jahrhundert die Religion an den Rand der Geschichte drängen und im 20. Jahrhundert die Behauptung wagen, dass es ihre Wahrheit sei, die uns frei macht. Religiöse Menschen haben sich sicher über die wissenschaftlichen Fortschritte gefreut, aber ohne sich durcheinanderbringen zu lassen. Wie der Gelassene erfahren kann: Wer etwas übertreibt, versperrt sich den eigentlichen Weg, den er gehen will. Oder wie es im Buch der Prediger heißt: Alles hat seine Zeit. Wer zu weit vorauseilt, muss nur länger auf die anderen warten. Wissenschaft und Religion gehören zusammen. Sie machen beide unsere Humanität möglich.

Die Kirche hat die Wissenschaft dauernd behindert

Die Kirche hat die Wissenschaft sicher ab und zu in ihrer Arbeit behindert, aber das haben andere Institutionen auch gemacht – Parteien und Medien zum Beispiel in der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik. Manchmal stand sich die Forschung auch selbst im Weg. Unabhängig davon meint man trotzdem zu wissen, dass die christlichen Kirchen das wissenschaftliche Treiben durch die Jahrhunderte behindert haben – im Mittelalter, wenn es um die Erkundung der Himmelssphären ging, in der frühen Neuzeit, als große Figuren wie Leonardo da Vinci oder Andreas Vesalius sich daranmachten, anatomische Studien an Toten vorzunehmen, obwohl der Klerus das doch verboten hatte, und im 19. Jahrhundert, als sich die Geistlichkeit vehement dagegen wehrte, die Geburtsschmerzen werdender Mütter durch die Gabe von Schmerzmitteln zu lindern. Man ist geneigt, das so anzunehmen, und doch stimmt das alles überhaupt nicht.

Im Mittelalter

Was das Mittelalter anbelangt, können wir uns auf das Buch The Sun in the Church des Historikers John Heilbron berufen, der geschildert hat, wie man vor der Erfindung des Fernrohrs die in Kathedralen einfallenden Lichtstrahlen und ihre Wanderbewegung über den Boden nutzte, um etwas über den Kosmos zu verstehen. Heilbron eröffnet seine Darstellung mit der folgenden Feststellung:
Die römisch katholische Kirche hat mehr als sechs Jahrhunderte lang, von der Wiederentdeckung der alten Schriften im späten Mittelalter bis zum Zeitalter der Aufklärung, das Studium der Astronomie mit umfangreicheren finanziellen und sozialen Mitteln gefördert als irgendeine der anderen Institutionen – und wahrscheinlich übertrifft sie alle zusammen.
In der Tat – die genannte Epoche hat zum Beispiel die Geburt der Universität erlebt, und dies konnte nur mit der tatkräftigen Unterstützung der katholischen Kirche geschehen, die auch die wissenschaftliche Tätigkeit im Einzelnen förderte.
Man mag vielleicht einwenden, dass keineswegs die nötige Freiheit herrschte und zum Beispiel 1210 in Paris verboten wurde, Vorlesungen über die Physik des Aristoteles zu halten. Das Verbot gab es in dieser Zeit und an diesem Ort tatsächlich, blieb aber nur sehr begrenzt wirksam. In Oxford etwa kümmerte sich niemand um diesen Kontrollversuch, und 1240 hielt Roger Bacon auch in Paris Vorlesungen über Aristoteles. Von 1255 an gehörte die Kenntnis seiner naturphilosophischen Schriften vielerorts in Europa zu den für einen Studienabschluss notwendigen Anforderungen.
Außerdem lässt sich feststellen, dass bald nach den genannten Jahren das naturwissenschaftliche Denken gerade im Rahmen der Kirche seinen Anfang nahm: Der Dominikaner Dietrich von Freiberg bemühte sich um eine erste Theorie, die den Regenbogen als ein natürliches Phänomen erklären konnte. Der spätere Bischof Nicolaus von Oresme befasste sich mit der Frage, wie man herausfinden und messen konnte, welche Drehungen die Erde ausführt, und der französische Gelehrte Jean Buridan entwarf eine Impetus-Theorie, die Bewegungen besser erklären sollte als Aristoteles. Bei dem Griechen hörte eine Bewegung dann auf, wenn keine Kraft mehr wirkte, was aber nicht stimmen konnte. Ein Speer oder Stein, der geworfen werden soll, fliegt ja weiter, wenn er vom Werfer losgelassen wird. Buridan schlug vor, diesen Vorgang durch die Annahme zu verstehen, dass der Werfer dem Speer oder Stein einen Impetus – eine Art Kraftnahrung – mit auf den Weg gibt, die nach und nach verzehrt wird. Ein hübscher Gedanke, der sich gehalten hat und diskutiert wurde, bis Newton kam und das Konzept der Trägheit einführte.

Das Öffnen der Körper

1896 erschien in England ein Buch mit dem Titel A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom. Sein Autor, Andrew D. White, wollte die Hindernisse aufzählen, die der Wissenschaft durch kirchliche Engstirnigkeit in den Weg gelegt worden sind, und als eines seiner Themen hatte der Gelehrte das Sammeln von Kenntnissen über die menschliche Anatomie gewählt. White meinte festgestellt zu haben, dass die mittelalterlichen Vertreter der Geistlichkeit das Öffnen von Leichen bei hoher Strafe untersagt hatten, und seitdem glauben wir, dass die Kirche das Sezieren verboten hat.
Hat sie aber nicht. Die überwiegende Zahl der mittelalterlichen Vertreter der Kirche hat die medizinische Leichenöffnung nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert, und zwar aus religiösen Gründen. Man wollte lernen, wie man beispielsweise die Körper der Heiligen einzubalsamieren hatte, um sie besser zu bewahren. Man erhoffte sich Einsichten beim Blick auf die inneren Organe von heiligen Personen, so wie man im 20. Jahrhundert die Gehirne von genialen Menschen nach deren Ableben untersuchte, um organische Spuren der Kreativität zu entdecken. Im 16. Jahrhundert ermutigte die Kirche sogar das Praktizieren des Eingriffs, den wir heute Kaiserschnitt nennen, um auf diese Weise Kinder auf die Welt zu bringen, deren Mütter während der Entbindung starben.
Tatsächlich ist den Historikern kein Fall bekannt, in dem ein Anatom verfolgt worden ist, weil er eine Leiche geöffnet hat, und ebenso wenig sind Fälle dokumentiert, in denen die Kirche die Bitte um eine Sektion abgeschlagen hätte. Andrew White hat uns einen hübschen Bären aufgebunden. Es wird Zeit, ihn loszuwerden.

Anästhetika

Wir machen einen Sprung in das Jahr 1846, als die segensreichen Anästhetika eingeführt wurden, die uns bei operativen Eingriffen unempfindlich gegenüber dem Schmerz machen. Der Edinburgher Arzt James Y. Simpson setzte bereits 1847 ätherische Stoffe ein, um die Qualen zu lindern, die Frauen bei der Geburt eines Kindes durchstehen mussten. Bei dieser Gelegenheit fühlte er sich genötigt, einen Artikel zu verfassen, in dem er »Answers to the Religious Objections« gegen seine Methode gab, was bedeutet, dass es solche religiösen Einwände tatsächlich gegeben haben muss. Doch nur ganz am Anfang. Bereits 1848 wurden aus dieser Richtung keine Beanstandungen mehr erhoben, was Simpson auch erwartete, da er keinen inhärenten Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft erkennen konnte. Zwar halten sich Gerüchte, dass es erst Königin Victoria war, die alle Widerstände gegen den Einsatz von Anästhetika beseitigte, als sie 1853 Prinz Leopold unter Verwendung der Schmerzmittel zur Welt brachte. Aber eigentlich gab es schon nach 1848 niemanden mehr, der ein anderes Vorgehen befürwortete.
Das heißt, es gab keine religiösen Argumente mehr gegen Anästhetika, wohl aber wissenschaftlich motivierte Einwände, die ganz allgemein nach dem Sinn von Schmerzen fragten und wenigstens auf die Frage aufmerksam machen wollten, ob nicht doch ein Preis dafür zu zahlen war, dass die Geburt leichter geworden war. Wenn wir der Evolution vertrauen, dann müssen die Schmerzen eine Bedeutung haben. In der Tat, ohne jede Art von Schmerzen wäre unser Erleben ärmer. Aber hier stecken wir schon mitten in einem kulturgeschichtlichen Diskurs, und der muss schließlich nicht auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden, die dafür sorgen, dass die Geschichte überhaupt weitergeht.

Der gesunde Menschenverstand hilft in der Wissenschaft

Er tut es gerade nicht. Der Hinweis, dass es das Kennzeichen einer wahrhaft wissenschaftlichen Erfahrung ist, dass sie im Widerspruch zur Alltagserfahrung steht, findet sich explizit formuliert bei dem französischen Philosophen Gaston Bachelard, der 1938 seine Untersuchung über Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes veröffentlicht hat (die erst 1978 auf Deutsch erschienen ist). Im Untertitel verspricht der Autor einen »Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis«. Bachelard vertritt darin eine erstaunliche »philosophische These«. Er schreibt: »Der wissenschaftliche Geist muss sich gegen die Natur bilden, gegen das, was in uns und außerhalb unserer selbst Anstoß und Weisung der Natur ist, gegen die Vereinnahmung durch die Natur, gegen die bunten und vielgestaltigen Tatsachen. Der wissenschaftliche Geist muss sich bilden, indem er sich umbildet.« Oder kurz und drastisch formuliert: »Eine wissenschaftliche Erfahrung ist eine Erfahrung, die der gewohnten Erfahrung widerspricht
In dieser kompromisslosen Formulierung stimmt dieser Satz natürlich nicht, denn wir erleben den uns umgebenden Raum nicht nur als dreidimensional, sondern es stellt sich auch im Rahmen der Physik heraus, dass es tatsächlich nicht mehr und nicht weniger als drei Richtungen im Raum gibt, die unabhängig voneinander existieren. Wir müssen also Bachelards Behauptung abschwächen, indem wir feststellen, dass sich der wissenschaftliche Geist vielfach gegen die Erfahrungen des gesunden Menschenverstands durchsetzen muss, womit wir leicht durchführbare und konkrete mentale Operationen meinen, die als Teil unseres biologischen Erbes im Rahmen der Evolution entstanden sind.
Unsere Intuition versagt zum Beispiel, wenn es ans Teilen oder Multiplizieren geht. Wir stellen uns einen Obsthändler vor, der unter anderem Pfirsiche und Nektarinen zu verkaufen hat. Am frühen Morgen verlangt er entweder für zwei Pfirsiche oder für drei Nektarinen einen Euro. Im Lauf des Tages ärgert ihn diese Aufteilung mehr und mehr, und er beschließt, es einfacher zu machen. Er mischt Pfirsiche und Nektarinen zusammen, und nun kosten fünf Früchte aus dem Haufen zwei Euro. Dabei – so denkt der Händler – wird er ebenso viel verdienen, denn der Durchschnittspreis für eine Frucht ist doch gleich geblieben.
Er irrt sich aber, wie man leicht nachrechnen kann, wenn insgesamt jeweils dreißig Pfirsiche und dreißig Nektarinen zu verkaufen sind. Nach der ersten Preisgestaltung hätte der Obsthändler 15 plus 10 gleich 25 Euro eingenommen. Nach der zweiten Auszeichnung der Ware nimmt er nur noch zwölfmal zwei gleich 24 Euro ein.
Wo steckt sein Denkfehler? Der Händler hat angenommen, ein Stück Obst kostet im Durchschnitt immer 40 Cent. Schließlich – so denkt man ganz intuitiv – kosten fünf Früchte ja genau 2 Euro. Diese Rechnung trifft aber trotzdem nicht zu, denn Pfirsiche kosten 50 Cent das Stück, und Nektarinen etwas mehr als 33 Cent das Stück. Der Durchschnittspreis liegt somit über 40 Cent. Die erste naive Überlegung ist falsch, weil eine Division im Spiel ist, die wir uns gradlinig denken – wir können intuitiv nicht anders -, und beim Teilen kann es leicht zu »krummen« Überraschungen kommen.
Dazu ein weiteres vertrautes Beispiel: Stellen wir uns vor, wir machen eine Dienstreise von 200 Kilometern Länge – etwa von Köln nach Frankfurt. Auf der Hinfahrt herrscht wenig Verkehr, und wir legen die Strecke in zwei Stunden zurück, schaffen also im Schnitt 100 Kilometer pro Stunde. Beim Heimweg geraten wir in einen Stau, und so dauert die Rückreise zwei Stunden und dreißig Minuten. Unsere mittlere Geschwindigkeit ist also auf 80 Kilometer pro Stunde gesunken. Intuitiv glauben wir nun, für die gesamte Reise eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 90 Kilometern pro Stunde erreicht zu haben. Aber dies stimmt wieder nicht, wie sich leicht ausrechnen lässt. Insgesamt sind wir nämlich vier Stunden und dreißig Minuten unterwegs gewesen, und in der Zeit haben wir 400 Kilometer zurückgelegt. Daher betrug unsere mittlere Geschwindigkeit nur etwas mehr als 88 Kilometer pro Stunde. So klein der Unterschied auch ist, wichtig bleibt, dass er überhaupt auftritt.

Einsteins Einsichten

Bleiben wir beim Zusammenzählen. Es scheint uns zum Beispiel ganz selbstverständlich zu sein, dass sich Geschwindigkeiten addieren. Wer in einem Zug, der sich mit 150 Kilometern pro Stunde bewegt, sein Abteil verlässt und sich gemächlich (sagen wir mit einer Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Stunde) in Richtung Speisewagen begibt, bewegt sich doch offenbar in Fahrtrichtung mit insgesamt 151 Kilometern pro Stunde und auf dem Rückweg dann mit 149 Kilometern pro Stunde. Das stimmt – natürlich! – wieder nicht.
In diesem Fall lässt sich der intuitive Irrtum allerdings nicht durch eine einfache Rechnung erklären, sondern wir müssen auf eine physikalische Theorie zurückgreifen und uns darauf verlassen, dass sie die Wirklichkeit richtig beschreibt. Es geht hier um die Theorie der Relativität von Albert Einstein. Wir brauchen keine Details zu kennen, um zu verstehen, wie sehr die durch sie gegebene wissenschaftliche Deutung der Welt unserer Alltagserfahrung und damit dem gesunden Menschenverstand widerspricht.
An den Anfang seiner Überlegungen stellt Einstein die Annahme, dass die Geschwindigkeit des Lichts konstant ist. Das besagt, dass sich das Licht in alle Richtungen gleich schnell ausbreitet und die Lichtgeschwindigkeit nicht von anderen Bewegungen beeinflusst wird. Ob ich den erwähnten Zug in Fahrtrichtung oder dagegen durchstreife, breitet sich das Licht, das zum Beispiel von meiner Nasenspitze reflektiert wird, immer gleich schnell aus. Für die Lichtgeschwindigkeit c gilt also nicht mehr unsere naive Annahme, dass sich Geschwindigkeiten addieren. Was immer ich zu c hinzufüge, es ändert nichts. Offenbar ist die Lichtgeschwindigkeit eine obere Schranke. Kein Objekt kann sich schneller als mit c bewegen. Dieser Befund ist durch viele eindrucksvolle physikalische Experimente bestätigt worden, und es gibt keinen vernünftig begründeten Zweifel mehr daran, dass er die physikalische Wirklichkeit richtig erfasst. Trotzdem bleibt dem gesunden Menschenverstand unzugänglich, dass es solch eine Grenze geben soll.
Einsteins Theorie beleidigt den gesunden Menschenverstand vielfach – etwa durch Räume, die von Materie gekrümmt werden -, wobei zu vermuten ist, dass hier der Grund dafür liegt, dass die Relativitätstheorie bis heute viele hartnäckige und zum Teil aggressive Gegner hat. Dabei ist sie nicht die einzige physikalische Theorie, die unserer Intuition widerspricht. Im Gegenteil! Sogar der Stolz der klassischen Physik, die Mechanik Newtons, beschreibt die Bewegungen alltäglicher Körper anders, als wir sie uns gemeinhin denken. Die dabei genommenen Irrwege unserer Intuition wurden in psychologischen Untersuchungen nachgewiesen, in denen amerikanische Collegestudenten befragt wurden, die bereits über physikalische Grundkenntnisse verfügten und Newtons Theorie der Mechanik (mathematisch) kannten.
Der zentrale Begriff bei Newton heißt Trägheit. Damit ist die Tendenz (das Bestreben, die Eigenschaft) eines physikalischen Gegenstands gemeint, seinen gegebenen Bewegungszustand beizubehalten. Ein Objekt ändert seine Bewegung nur, wenn eine äußere Kraft dies verursacht. Sonst sorgt seine Trägheit dafür, dass er sich gleichförmig weiterbewegt.
Entdeckt wurde diese besondere Eigenschaft der Materie bereits von Galileo Galilei, der auch erkannte, dass es die Masse eines Gegenstands ist, die das Maß für seine Trägheit angibt. Die träge Masse legt den Widerstand fest, den ein Objekt jener Kraft entgegensetzt, die an der Bewegung etwas ändern will. So einfach sich das heute anhört, so schwer war es doch seinerzeit, diese Einsicht überhaupt zu formulieren. Dieser Deutung der Bewegung nämlich stand von alters her die höchste Autorität verkörpernde Auffassung von Aristoteles gegenüber, der zufolge sich ein Körper nur bewegt, wenn eine Kraft auf ihn wirkt. Jede Ortsveränderung braucht eine Kraft als Ursache. Ohne deren Wirkung ist nur die Ruhe möglich, wie man deutlich an einem Ball sieht, der liegen bleibt, solange niemand gegen ihn tritt.
Die Physik des Aristoteles ist einmal als die »Physik des gesunden Menschenverstands« vorgestellt worden. Doch das ist sie nicht. Eine solche intuitive Physik steckt erst in der Analyse der Bewegung, wie sie im Mittelalter vorgenommen wurde. Bei Aristoteles müsste man eher von einer »Physik des unmittelbaren Sinneseindrucks« reden, denn der vor allem hat es ihm angetan. Aristoteles hat nämlich in erster Linie auf die Empirie (die Erfahrungen) Wert gelegt. Seine berühmte und heute oft hochnäsig belächelte Behauptung, dass schwere Körper schneller fallen als leichte Objekte, entstammt ja gerade der unmittelbaren Beobachtung. Man sieht doch mit eigenen Augen, dass ein Stein eher auf dem Boden aufschlägt als ein Blatt Papier zum Beispiel.
Es hat mehrere Jahrhunderte gedauert, bis diese »Physik der Sinneswahrnehmung« überwunden werden konnte. Doch ganz vertrieben haben wir sie trotz aller historischen Fortschritte bis heute nicht. Dies zeigen die psychologischen Versuche, auf die bereits hingewiesen wurde und auf die nun näher eingegangen werden soll. In diesen Untersuchungen wurden Collegestudenten gebeten, den Weg zu beschreiben, den zum Beispiel ein Ball zurücklegt, den man in der Hand hält und fallen lässt, während man mit ihm läuft.
Newton zufolge sorgt das Zusammenwirken von Schwerkraft und Trägheit dafür, dass ein Ball, der im Laufen fallen gelassen wird, eine Parabel nach vorn beschreibt. (Der Luftwiderstand wird dabei nicht berücksichtigt.) 49 Prozent der Studenten gaben diese korrekte Antwort der Mechanik Newtons. 45 Prozent meinten, der Ball falle senkrecht nach unten, und 6 Prozent glaubten sogar, der Ball komme weiter hinten zu liegen. Aus dieser Beobachtung unserer Psyche können wir nicht nur lernen, dass Newtons Konzeption der Bewegung gegen unseren gesunden Menschenverstand vorgenommen werden musste, wir können auch lernen, dass unsere Intuition unbelehrbar ist. Selbst wenn wir die Gleichungen der Physik auswendig wissen und lösen können, ganz begreifen können wir sie nicht. Unsere Natur will davon einfach nichts wissen. Wir ahnen an dieser Stelle, wie unendlich schwer es für unsere Seele werden muss, die Relativitätstheorie anzunehmen.
Dass das oben beschriebene Ergebnis kein Artefakt der Versuchssituation war, konnte dadurch demonstriert werden, dass man anderen Studenten einen Ball in die Hand gab und sie anschließend bat, mit ihm loszulaufen und so fallen zu lassen, dass er ein auf dem Boden liegendes Ziel traf. Wieder ließen die meisten den Ball erst in dem Moment los, als er sich über dem Ziel befand – wodurch er dieses dann natürlich verpasste -, und ab und zu liefen einige Probanden sogar erst über das Ziel hinaus, bevor sie den Ball losließen – wohl weil sie vermuteten, dass er sich anschließend nach hinten bewegte.
Jeder Leser kann an sich selbst testen, wie sein intuitives Verstehen von Bewegungen sich zu der Mechanik Newtons verhält, wenn er sich überlegt, wohin er einen Ball richten muss, den er im Laufen hochwerfen und wieder auffangen will. Zunächst denken die meisten Menschen intuitiv daran, den Ball nach vorn zu werfen (und nicht einfach senkrecht nach oben, wie es richtig wäre). Wenn sie dies tun, werden sie einen kräftigen Zwischenspurt einlegen müssen, um den Ball zu erwischen. Hier ist noch eine etwas schwierigere Aufgabe zur Selbstanalyse: Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einem Garten und sehen, wie sich ein Apfel von seinem Ast löst. Sie haben zufällig eine faule Birne in der Hand, und auf einmal reizt Sie der Versuch, das Fallobst zu treffen. Dabei stellt sich die Frage, wohin Sie zielen müssen: auf die Position, die der Apfel im Augenblick des Abwurfs einnimmt, oder auf die Position, die der Apfel dann erreicht, wenn Ihr Geschoss seine Flugbahn kreuzt? Intuitiv entscheiden sich die meisten Menschen für die zweite Möglichkeit – und haben dabei die Mechanik Newtons vergessen. Auch die faule Birne, die Sie werfen, macht nämlich die Fallbewegung mit. Sie zielen einfach auf den Apfel, wie und wo Sie ihn jetzt sehen, und nicht dorthin, wo sie ihn später erwarten. So einfach kann manchmal auch das Schwierige sein.

Eine innere Kraft

Die psychologischen Untersuchungen machten bei den Angaben über die Bewegung allein aber nicht halt. Wer die Irrwege der Intuition erkunden will, interessiert sich natürlich auch dafür, mit welchen Begründungen die Studenten falsche Antworten gaben. Dabei zeigte sich deutlich, wie der gesunde Menschenverstand unserer wissenschaftlich geschulten Vernunft in die Parade fährt. Wer eine Bewegung diskutieren will, benutzt dazu am besten den Begriff des Impulses, der auch bei Newton die entscheidende Rolle spielt. Dieses Produkt aus der Masse eines Körpers und seiner Geschwindigkeit ist es eigentlich, das infolge der Trägheit unverändert bleibt, solange keine Kraft wirkt. Die Studenten hatten nun in ihrem Physikunterricht den Begriff »Impuls« kennen gelernt, und folglich verwendeten sie ihn bei der Begründung ihrer Antworten. Als der Experimentator sie anschließend fragte, was genau ein Impuls ist, erhielt er zum Beispiel die typische Antwort: »Es ist etwas, das ein Objekt weiterträgt, wenn die auf es wirkende Kraft aufgehört hat. Man könnte es die Bewegungskraft nennen. Es ist etwas, das den Körper in Bewegung hält.«
Dieser Student sprach zwar von einem Impuls, er meinte aber etwas anderes. Er dachte an eine innere Kraft, die zum Beispiel ein Leichtathlet einem Speer oder einem Diskus verleiht oder aufprägt und die das Geschoss in die Lage versetzt, weiter in die vom Werfer anvisierte Richtung zu fliegen. Mit anderen Worten, er dachte an einen Bewegungsantrieb, einen inneren Trieb – und dafür gibt es seit dem Mittelalter den Namen Impetus. Damals gab es sogar eine Impetus-Theorie, die als Kritik an der Erklärung entstanden war, die Aristoteles den Bewegungen gegeben hatte. Man meinte, dass seine Behauptung, ein Gegenstand könne sich nur dann bewegen, wenn eine äußere Kraft auf ihn einwirke, missverstanden worden sei. Wie war es denn in diesem Fall überhaupt möglich, einen Stein in die Luft zu schleudern? Er fliegt doch weiter, wenn er meine Hand verlassen hat und meine Kraft ihn gar nicht mehr erreicht und lenken kann?
Die Impetus-Theorie überwand diese Probleme, indem sie den inneren Antrieb erfand, den der Werfer seinem Speer verleiht, eben den Impetus. Diese Theorie ist die Physik des gesunden Menschenverstands. Ihre Vertreter beschrieben die Bewegung eines geschleuderten Speers sehr anschaulich: Erst nimmt der Speer durch den Werfer den Impetus auf, dadurch kann er sein Gewicht überwinden. Im Verlauf der Bewegung entweicht der innere Trieb, er wird durch äußere Widerstände (Luft) aufgezehrt. Wenn der Impetus völlig verbraucht ist, stürzt der Speer zu Boden.
Offen bleibt, warum diese Impetus-Vorstellungen von einer inneren Kraft intuitiv so überzeugend sind. Sie müssen wohl biologisch und psychologisch zu verstehen sein.

Rückkopplungen

Die ungeeignete Rolle des gesunden Menschenverstands hat ihre Konsequenzen. Eine besteht darin, dass es schwierig ist, die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung zu verstehen. Man muss sich gegen sich selbst wenden und immer dann, wenn einem ein Gedanke direkt und mühelos einleuchtet, skeptisch werden.
Wir können zudem nicht mit Rückkopplungen umgehen, und dies hat zur Folge, dass wir offenbar unfähig sind, die Konsequenzen unserer Handlungen zu verstehen. Im Verlauf der Evolution machte das Gehirn des Menschen die Erfahrung, dass das, was ein Einzelner tat, keine unerwartete Rückwirkung auf sein Leben hatte. Was man wegwarf, kam nicht mehr vor. Jeder konnte gradlinig vorwärtsgehen und annehmen, von dem, was er unternommen hatte, nicht mehr eingeholt zu werden. Es existierten nur wenige Menschen, und die Natur war offen und aufnahmebereit. Es gab keine Rückmeldung. Heute aber gibt es viele Menschen, und die Natur schlägt zurück, sie zwingt uns, diese bislang übersehene Rückkopplung unseres Handelns zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen unsere Vernetzung mit der Welt besser zur Kenntnis nehmen als die Newton’schen Gesetze, die uns schwerfallen, obwohl sie einfach sind. Das heißt, wir müssen dies nur tun, wenn wir an dem alten Ziel festhalten, möglichst vielen Menschen ein möglichst schmerzfreies Leben ohne materielle Not und Hunger – ein würdiges Leben – zu ermöglichen. Wenn wir dieses Ziel beibehalten, dann gibt es nur einen Weg, ihm nahe zu kommen, nämlich den wissenschaftlich-technischen. Wir können weder nichts tun, noch uns auf den gesunden Menschenverstand verlassen. Wir haben nur die Möglichkeiten, die die Wissenschaft uns bietet.