TOMMY

2110

N ein! Stopp!«

Das Schiff hält stetig Kurs nach Westen, Richtung offene See. Es liegt in der Mitte des Fjords, wirkt wie ein Spielzeugboot vor den Bergen.

»Henry! Hilmar!«

Sie fahren schnell, der von Solarzellen bedeckte Rumpf wankt ein wenig, wird jedoch von großen grauen Segeln stabilisiert, die dafür sorgen, dass das Schiff sicher durch die Wassermassen gleitet. Die Fenster sind zwei schmale dunkle Streifen.

»Komm zurück! Dreh um!«

Tommy steht am Ufer, das Wasser schwappt um seine Füße, er watet weiter hinein, spürt, wie seine Schuhe durchnässt werden, doch es kümmert ihn nicht, er rudert mit den Armen.

»Bitte! Henry! Hilmar!«

Doch das Schiff bewegt sich unbeirrt weiter, und er bleibt als winziger Fleck am schwarzen Strand zurück. Selbst wenn er winkt, springt, schreit, werden sie es nie und nimmer bemerken.

Die Wellen des Isfjord schäumen weiß, türmen sich über dem dunkelblauen Untergrund auf. Die Brandung schlägt gegen die Klippen, Wasser und Land kämpfen rhythmisch gegeneinander.

»Bringt mir meine Brüder zurück!«

Der Wind verschluckt seine Stimme, trotzdem ruft er weiter.

»Bitte kehrt um, jetzt sofort!«

Der Nebel wälzt sich von den Bergen herab und verschleiert den Fjord vor ihm, gleich wird er das Schiff einhüllen, bald ist es ganz verschwunden, und mit ihm seine Brüder.

SvalSat, denkt er, dreht sich um, beugt den Nacken zurück, starrt zum Platåberg. Dort oben, fast 500 Meter über dem Meer, liegt die Satellitenstation.

Er rennt los, zwingt sich dazu, den Blick vom Schiff abzuwenden, folgt dem Weg am Fjordufer entlang zurück, vorbei an den Ruinen des Leuchtturms auf Vestpynten und weiter ins Innere des Adventfjords auf Hotellneset zu. Das Herz pocht ihm in den Ohren, der Schweiß läuft ihm den Rücken hinab, und sein Hals brennt. Sie sind ohne mich gefahren, sie sind ohne mich gefahren.

Kurz hinter dem verlassenen Flugplatz gabelt sich der Weg endlich, der eine Teil führt weiter nach Longyearbyen, der andere zum Berg.

Die Steigungen schreien ihm ins Gesicht, offenbar hat sich jeder einzelne Stein gegen ihn verschworen. Nur zehn Meter, denkt er, nur zehn Meter am Stück, während er seinen Blick auf einen Punkt direkt vor sich richtet, um den Gipfel nicht sehen zu müssen, der so unendlich weit entfernt scheint.

Als er endlich oben angekommen ist, bleibt er gekrümmt stehen und japst nach Luft, während er den Fjord betrachtet. Der Nebel hat sich verzogen, aber das Schiff ist jetzt noch kleiner, nicht mehr als ein weißer Fleck vor der Dunkelheit des Fjords. Es nähert sich unerbittlich dem offenen Meer.

Tommy dreht sich zu SvalSat um. Ein Dutzend großer Satellitenschüsseln, die auf dem Berg verteilt stehen und einen großen Bereich abdecken. Sie wurden auf Betonsockel montiert, einige sind mit Planen abgedeckt. Sie leuchten weiß vor dem braunen und grauen Gestein, gleichen riesigen Pilzen in der Landschaft; fremde Elemente, die aus dem Boden emporwachsen, als hätte ein UFO dort Sporen verstreut.

Viele von ihnen wurden längst von Wetter und Wind zerstört, die Plane ist weggerissen oder flattert im Wind, übrig sind nur noch teilweise eingestürzte Skelette um große Satellitenschüsseln.

Er weiß noch, wie neugierig sie als Kinder auf die Satellitenstation waren. Keiner durfte dort hinaufgehen, keiner die Station benutzen. Sie erzählten sich gegenseitig, die Schüsseln auf dem Berg seien magische Pilze, und wenn man sie äße, könne man sich mit einer anderen Dimension verbinden. Die Satellitenstation sei ein Portal zu anderen Menschen und Orten.

Doch aus der Ferne ist sie am schönsten, die zerstörten Dächer, verrosteten Stahlgebäude und der bröckelnde Beton haben nichts Magisches mehr an sich.

Er eilt zum Hauptgebäude, versucht die Tür zu öffnen, die verzogen ist, man muss fest daran rütteln. Dann durchquert er eine schmutzige Teeküche mit zerschlissenen Sofas und einer offenen Besteckschublade und läuft einen Korridor entlang bis zum Kontrollraum. Ein leerer, hufeisenförmiger Schreibtisch nimmt den halben Raum ein, und an der Wand hängen große Monitore. Er prüft die Schalttafel des hauseigenen Mikrokraftwerks und sieht, dass es läuft. Er hat Strom, nimmt sich jedoch nicht die Zeit, das Licht einzuschalten, sondern ist schon mit zwei Schritten an der innersten Tür, die zu einem kleineren Kontrollraum führt. Hier steht die Funkausrüstung. Die einzige funktionierende Kommunikationstechnik, über die sie noch verfügen.

Er wühlt in den alten Notizbüchern auf dem Tisch, findet ein Bibliotheksbuch über Kurzwellenfunk. Rakel muss es hergebracht haben.

Die Bedienung des Funkgeräts erscheint einfach. Es hat Strom, ein kleines grünes Lämpchen blinkt. Tommy drückt fieberhaft irgendwelche Knöpfe, setzt sich das Headset auf.

»Tao!«, schreit er ins Mikrofon, noch bevor er den richtigen Knopf erwischt. »Tao, bitte, ihr müsst umkehren! Ihr müsst zurückkommen!«

Er erhält nur weißes Rauschen zur Antwort, redet trotzdem weiter. »Ihr müsst umdrehen, ihr müsst meine Brüder zurückbringen. Hilmar! Henry! Und Runa! Sie sind doch noch Kinder. Ihr könnt sie nicht mitnehmen. Sie gehören hierher, du kannst sie nicht einfach mitnehmen!«

Er glaubt einen Laut am anderen Ende zu hören, umklammert das Mikrofon, spürt, dass es schweißnass ist, versucht seine Stimme zu kontrollieren, erwachsen zu klingen. »Tao, hör mir jetzt zu. Ihr müsst sofort umdrehen.«

Doch niemand antwortet.

Er zieht den Stuhl heraus, legt das Mikrofon einen Moment zur Seite, um sich ordentlich hinzusetzen.

»Tao. Die Kinder sind Einwohner von Spitzbergen. Sie leben hier. Bei mir.«

Er hört nichts als Rauschen im Funkgerät. Und er weiß, dass das Schiff dort draußen unaufhaltsam weiterfährt, dass es auf dem Weg in eine ganz andere Welt ist, dass der Bug bald auf die großen Meereswogen trifft.

Tommy wickelt das Kabel rasch um den Mittelfinger der linken Hand, während er das Mikrofon weiter in der rechten hält.

»Komm mit meiner Familie zurück!«

Doch nur die Stille antwortet ihm. Er ist allein. Wie der Pelztierjäger, nach dem er benannt ist, der den Winter über hier in die Isolation entsandt wurde. Doch im Unterschied zu allen Jägern, die vor ihm hier waren, wird im Frühling niemand kommen, um ihn wieder abzuholen, niemand wird sich jemals die Mühe machen, nach Tommy Mignotte zu sehen, sich zu erkundigen, wie es ihm geht.

Er lässt das Mikrofon fallen, zieht die Füße auf dem Stuhl an sich, legt den Kopf auf den Knien ab. Hunderte Erinnerungsbilder von den Brüdern kreisen durch seinen Kopf. Im allerletzten Bild findet er am Ende Frieden. Die Brüder im Bett mit geschlossenen Augen, Tommy hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt, um nach ihnen zu sehen, ehe er ins Bjørndalen aufbrach. Es war Nacht, sie schliefen tief und fest. Henry auf der Seite, wie ein Ball unter der Decke, nur das Haar lugte hervor. Hilmar auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf, selbst im Schlaf geborgen. Tommy ruht in diesem Bild: Hilmar, das ruhige, schlafende Gesicht des kleinen Bruders.