H enry, lieber Henry, komm zu mir zurück.
Tommy ist ein Planet, dem ein Satellit fehlt, ein Mond; der Bruder kreiste immer auf seiner Bahn um ihn, so nah, dass er die völlige Kontrolle darüber hatte, wo er sich gerade befand, ihn entweder sah oder hörte oder genau wusste, wo er steckte.
Er versucht im Treibhaus zu jäten, eigentlich hatte er das immer gern getan, diesen Prozess vom Chaos zur Ordnung in einem Pflanzkasten, aber seine Finger lassen ihn im Stich, ständig unterbricht er die Arbeit, denn eine Klaue schließt sich fest um seinen Kopf.
Er gibt auf, geht in die Kälte hinaus, in das abnehmende Licht, wandert planlos zwischen den leeren Schneckenhäusern von Longyearbyen umher. Die Zeit hat kein System mehr, ballt sich zusammen oder löst sich auf. Es ist September, jeder Tag wird zwanzig Minuten kürzer, dass dem Himmel das Licht entzogen wird, verwirrt ihn. Tommy sieht ständig auf der Uhr an seinem Handgelenk nach und überlegt, ob sie falsch geht, ob er vergessen hat, sie aufzuziehen, ob er sich auf das hundertfünfzig Jahre alte Uhrwerk verlassen kann. Die Wanderung der Sonne am Himmel bestätigt die Armbanduhr, als sie endlich hinter den Bergen versinkt. Trotzdem traut er der Uhr nicht, er eilt hinauf, fürchtet, zu spät zu sein, sie zu verlieren.
Als er angekommen ist, setzt er sich und wartet, dreht sich ungeduldig auf dem Bürostuhl im Kreis, rutscht auf dem von Mäusen zerfressenen alten Polster auf und ab, erhebt sich leicht, bürstet sich das krümelige Schaumgummi vom Hosenboden, setzt sich wieder. Wartet.
Sie ruft ihn um Punkt fünf an. Ihre Stimme schwebt durch die Luft, laut und klar.
»Hörst du mich, Tommy?«
»Wo seid ihr?«, fragt er übergangslos.
»Bald auf halbem Weg nach Archangelsk. Heute schneit es, wir bleiben drinnen. Wie ist es bei euch?«
»Das Wetter interessiert mich einen Scheißdreck. Ihr müsst umkehren.«
»Tommy«, sagt sie, wieder mit dieser sanften Stimme. »Können wir nicht über das Saatgut sprechen?«
»Nein.«
»Nein.« Sie seufzt schwer. »Aber vielleicht …«, sie zögert, »vielleicht kannst du mir erzählen, was passiert ist, als du verschwunden bist? Du und Rakel. Oder kann ich vielleicht mit ihr sprechen? Ist sie heute bei dir?«
Ihre Fragen nach Rakel schmerzen körperlich, sie schneiden ins Fleisch wie eine Messerklinge aus Stahl. Er versucht sich herauszuwinden, muss Tao davon abbringen, weitere Fragen zu stellen.
»Hier ist es auch kalt«, sagt er. »Ich muss es irgendwie schaffen, diesen Raum zu beheizen. Ich friere wie verrückt.«
Und es ist wirklich kalt, das spürt er jetzt, er zittert.
»Hast du eine Decke?«, fragt Tao.
»Was?«
»Du hast doch gesagt, du frierst. Hast du eine Decke? Vielleicht kannst du auch nachsehen, ob es irgendwo im Gebäude noch ein Heizgerät gibt. Der Strom funktioniert doch?«
»Ja.«
»Ich warte, solange du suchst.«
Er steht auf, geht in den großen Kontrollraum, sucht hastig überall und findet schließlich einen mindestens hundert Jahre alten tragbaren Heizlüfter, verrostet und mit Beinen aus rissigem Plastik. Er kehrt zurück in den Funkraum, schließt das Gerät an die Steckdose an und hört kurz darauf ein Knistern. Der Geruch von verbranntem Staub breitet sich aus, während eine schwache Wärme durch seine Schuhe dringt.
»So«, sagt er zu ihr. »Jetzt bin ich wieder da.«
»Ist es wärmer?«
»Es wird besser.«
»Ich hatte dich gerade nach Rakel gefragt.«
»Sie ist nicht mitgekommen.«
Seine Antwort kommt etwas zu schnell.
»Nein?«
Schon in dem kurzen Wort hört er ihr an, dass sie ihm nicht glaubt.
»Ich bin auch heute allein hergekommen.«
»Also ist sie bei sich zu Hause?«
»Ja, sie ist zu Hause.«
»Kannst du sie nicht fragen, ob sie dich begleitet? Morgen?«
»Der Anstieg ist zu anstrengend für sie.«
»Aber du kannst sie doch wenigstens fragen?«
»Ja, doch, kann ich machen.«
Tao verstummt. Er wickelt das Kabel so fest um seinen Finger, dass die Kuppe ganz weiß wird.
»Tommy … wie geht es Rakel denn eigentlich? In welcher Verfassung ist sie?«
»Ihr geht es gut, okay?« Ihm versagt die Stimme. Er reißt sich zusammen. »Kannst du nicht bitte noch mal mit der Kapitänin reden? Es muss doch möglich sein umzukehren?«
»Tommy, du musst mir erzählen, was passiert ist. Warum ihr verschwunden wart.«
Er antwortet nicht, er weiß nicht, was er sagen soll, es muss doch eine Möglichkeit geben, die Situation auszunutzen?
»Ich erzähle dir, was passiert ist, wenn du mit meinen Brüdern zurückkommst«, versucht er es.
Sie schweigt. Lange.
»Hat das etwas mit den Samen zu tun?«, fragt sie schließlich.
»Die Samen«, erwidert er. »Das ist alles, was dich interessiert.«
»Wenn die Samen weg sind«, sagt sie leise und angestrengt, »oder für immer zerstört wurden … Das wäre eine Katastrophe.«
»›Katastrophe‹.« Er spuckt das Wort verächtlich aus.
»Ja, Tommy. Eine Katastrophe.«
»Für wen denn?«, fragt er.
»Wie meinst du das?«
»Für die Menschheit vielleicht«, fährt er fort. »Es wäre eine Katastrophe für die Menschheit. Aber nicht für den restlichen Planeten.«
Es knistert im Funkgerät, und er überlegt, ob sie weg ist. Doch dann hört er sie wieder.
»Dort, wo ich wohne, können wir schon seit drei Jahren kein Obst mehr ernten«, erklärt sie. »Im ersten Jahr war der Frühling zu kalt, im zweiten der Sommer zu trocken, im dritten hat es zu viel geregnet. Und in diesem Frühling? Kälte und Dürre. Die Bäume tragen nur ein paar wenige kleine, unreife Früchte. Ich gehe oft zwischen den Feldern spazieren, und es ist ein trauriger Anblick.«
»Wenn man in der Geschichte zurückblickt, waren die meisten Menschen die meiste Zeit arm«, erwidert er. »Im Großen und Ganzen war das Leben immer und überall ziemlich schlimm.«
Wieder hört er sie seufzen. »Tommy, wenn du weißt, wo die Samen sind, musst du es sagen.«
»Die Samen sind weg. Das hast du doch selbst gesehen. Und ich habe keine Ahnung, wo sie geblieben sind.«
»Aber du glaubst, deine Großmutter hat sie genommen?«
»Wenn sie es war, hatte sie einen Grund«, antwortet er. »Und zwar garantiert einen guten.«
Er rechnet damit, dass Tao weiter nachbohrt, doch sie sagt nichts.
Die Zeit vergeht. Die Strahlung des Heizlüfters reicht nicht aus, um den ganzen Raum zu wärmen, er zieht ihn mit einem scharrenden Geräusch näher heran.
»Tao?«
»Ja. Ich gehe nicht weg.«
»Wo seid ihr jetzt?«
»Ich weiß es nicht, es ist stockfinster, der Mond versteckt sich hinter den Wolken. An Deck weht ein eisiger Wind, und das schwarze Meer und der Himmel gehen ineinander über.«
»Was macht ihr, was machen meine Brüder?«
»Jetzt gerade? Ich glaube, sie spielen Karten. Und anderes. Willst du mit ihnen sprechen? Soll ich sie holen?«
»Nein.« Seine Antwort kommt schnell. »Lass sie spielen. Quäl sie nicht. Es ist besser für sie, nicht mit mir zu sprechen.«
Sein Brustkorb verengt sich, er bekommt nur schwer Luft. Das ist nur ein Schmerz, denkt er, nur die Sehnsucht, neurologische Signale vom Hirn an die Brust, Muskeln, die sich zusammenziehen, Flüssigkeit, die produziert wird.
»Ich verstehe ja, dass du Spitzbergen nicht verlassen wolltest«, sagt Tao. »Aber warum hast du dich nicht wenigstens von deinen Brüdern verabschiedet?«
Sie bleibt einfühlsam beharrlich, als wollte sie ihn mit ihrer mütterlichen Stimme einwickeln.
»Ich wusste ja nicht, dass ihr wieder ablegen würdet.« Er hört selbst, wie dünn und kindlich sich seine Stimme anhört, und versucht ihr einen tieferen Klang zu geben, als er sagt: »Rakel fragt nach Runa, sie sehnt sich nach ihrer Schwester. Ihr müsst zurückkommen!«
»Das geht nicht. Wir wagen es nicht. Ich habe Mei-Ling noch einmal gefragt. Es tut mir so leid, Tommy.«
»Ich glaube dir nicht. Ich glaube nicht, dass du sie gefragt hast.«
»Doch, Tommy. Und ich weiß, dass sie recht hat.«
Sie werden nicht umkehren. Sie meint es ernst. Sie werden die ganze Strecke bis Sichuan weiterfahren, wo Tao herkommt. Sie wird Henry, Hilmar und Runa an einen Ort bringen, von dem er keine Vorstellung hat. Eine Stadt? Einen Palast? Ein Straflager?
Sie werden uns retten, hatte Rakel gesagt, sie sind gekommen, um uns zu retten.
Alles ist Rakels Schuld.
Es ging ihnen gut, zu fünft, sie hatten Pläne, sie würden es schaffen, einen Wiederaufbau, eine neue Familie, eine neue Gesellschaft.
Er erhebt sich vom Stuhl, bleibt mitten im Zimmer stehen, zittert vor Kälte, die Zähne klappern unkontrolliert. Er würde gern draufloshauen, mit seinen Fäusten auf irgendetwas eindreschen, so fest und lange darauf einschlagen, bis die Kälte von ihm herabrinnt wie Eiswasser von einem Gletscher.
»Du weißt nicht, wie es ist, jemanden zu verlieren«, sagt er dann.
Tao schweigt so lange, dass er glaubt, sie wäre nicht mehr da.
»Doch, Tommy«, sagt sie schließlich. »Ich weiß es.«