T ommy?«
Sie versucht es noch einmal, gibt jedoch auf, als er nicht antwortet.
Tao ist sicher, dass er erneut Kontakt mit ihr aufnehmen wird. Das Funkgerät ist auf Empfang eingestellt, sodass ihn immer jemand hören wird. Und sie wird auch selbst weiterhin jeden Tag versuchen, ihn zu erreichen, so wie sie es versprochen hat.
Bevor sie schlafen geht, bleibt sie noch an der Reling stehen. Der Mond scheint hell und enthüllt Konturen von Land. Dort ist kein Licht zu sehen, die meisten Häuser wurden verlassen. Mei-Ling hat gesagt, dass sie morgen Archangelsk erreichen werden. Die Militärfahrzeuge stehen in einem leeren Lagergebäude am Hafen bereit. Der Weg bis nach Hause erscheint endlos. Tao sorgt sich um die Kinder. Sie haben viel geweint, seit sie Longyearbyen verlassen haben, vor allem Henry, der nicht aufhört, nach seinem großen Bruder zu fragen, aber einige Male ist es ihr auch gelungen, sie abzulenken. Mit einem Besuch im Ruderhaus, einer Erzählung über die Sternbilder am Himmel oder einem besonders leckeren Nachtisch.
Als Henry früher an diesem Abend schlafen gehen sollte, hatte sie sich zu ihm gesetzt und begonnen, ihm die Geschichte von der Entstehung der Welt zu erzählen, wie sie ihr aus der eigenen Kindheit in Erinnerung geblieben ist, von Pangu und dem Ei. Doch er drehte sich weg.
»Ich will keine Märchen hören«, sagte er. »Das passt jetzt nicht.«
»Nein«, sagte sie und fühlte sich fast wie ein zurückgewiesenes Kind. »Aber wenn es ein anderes Mal passt, sagst du Bescheid, ja?«
Manchmal versucht sie ihnen Fragen zu stellen, die sie dazu bringen, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sobald sich die Kinder bewusst werden, dass sie gerade über die Krankheit sprechen, machen sie dicht, wenn Tao ihnen aber zuhört und einfach nur für sie da ist, geben sie manchmal Bruchstücke preis, Assoziationen, die für sie nicht nachvollziehbaren Gedankenketten entspringen.
Je mehr dieser Bruchstücke zum Vorschein kommen, desto klarere Bilder macht sie sich von dem Albtraum, den sie durchgestanden haben.
Tao war nicht überrascht, wie wenig sie sich vor der Krankheit fürchtete, als sie nach Norden fuhren. Aber sie ertappt sich dabei, ihre Leidenschaft zu vermissen, so wie sie alle starken Gefühle vermisste, die zusammen mit dem Sohn verschwunden waren, auch Freude und Wut.
Sie erinnert sich noch, wie sie das Fehlen von Furcht bei sich zum ersten Mal bemerkte. Es war kurz nach Wei-Wens Tod gewesen, eine alltägliche Situation, sie wollte die Straße in der Nähe ihres Hauses überqueren, und ein geräuschlos fahrendes Auto raste in viel zu hohem Tempo heran. Sie sah und hörte es nicht, ehe es ganz nah war und die Bremsen quietschten. Nicht einmal, als sie das Auto dann wahrnahm, sprang sie beiseite.
Anschließend blieb sie am Straßenrand stehen und spürte ihren eigenen Herzschlag, ganz ruhig, als wäre nichts passiert, und registrierte gleichgültig, dass sie nicht nur keine Wut mehr empfand, sondern auch keine Angst vor dem Tod.
Manchmal hat sie in den letzten Jahren sogar gedacht, der Tod sei ihr Freund, denn obwohl sie wusste, dass es kein Leben danach gab, hätte er sie immerhin mit Wei-Wen verbunden und in dieselbe Kategorie wie den Sohn eingeordnet. Verstorben. Ihr gefällt das Wort, die Distanz, die es schafft.
Als ihre Reise nach Spitzbergen beschlossen wurde, kümmerte Tao sich nicht um die Verhaltensregeln, die Warnungen berührten sie nicht.
Li Chiara rief eine Gruppe von Ärzten und Epidemiologen zusammen, die das Ansteckungsrisiko bewerten sollten. Zur letzten Sitzung wurde auch Tao einberufen, gemeinsam mit der Schiffsärztin Shun und Mei-Ling. Li Chiara saß am Ende des langen Tischs, umgeben von einer Expertenriege. Der Reihe nach informierten sie über das Risiko, hielten Vorträge über verschiedene bereits bekannte Viren und Bakterien.
Sie besäßen nur wenige Anhaltspunkte, sagte der eine Wissenschaftler, nämlich lediglich das, was Rakel selbst erzählt hatte. Doch die Gruppe hielt es für wahrscheinlich, dass das Virus, das Spitzbergen getroffen hatte, zur Familie der Filoviridae gehörte oder auch ein mutiertes Orthonairovirus sei. Über den Ursprung waren sie unsicher, vermuteten jedoch, es sei über einen Zugvogel aus einem afrikanischen Land wie Kongo, Liberia oder Sierra Leone eingeschleppt worden. In den letzten vierzig Jahren hatte man wenig Kontakt zu diesen Ländern gehabt, weshalb man nicht wusste, ob es dort einen größeren Ausbruch einer neuen Viruskrankheit gegeben hatte oder ob es sich um eine mutierte Variante eines bekannten Virus wie Ebola oder eines ähnlichen RNA -Virus handelte, wie man sie im 21. Jahrhundert in mehreren Varianten gesehen hatte.
Das 21. Jahrhundert. Einer der Virologen nannte es das Jahrhundert der Viren.
»Irgendetwas müssen wir ja auch davon haben, dass wir im 22. Jahrhundert leben, meinen Sie nicht auch?«, fragte Tao, doch niemand lachte. »Verzeihung. Das war nicht lustig. Es tut mir leid.«
Mei-Ling warf Tao einen vielsagenden Blick zu und verzog das Gesicht, ehe sie die Epidemiologen fragte, wie das Virus vom Vogel auf den Menschen übertragen wurde. Dies war Taos zweite Begegnung mit ihr, und sie war überrascht, wie kleinlaut und ängstlich Mei-Ling wirkte. Beim ersten Mal hatte sie laut, raumgreifend, verlässlich und abenteuerlustig gewirkt.
Ein Parasit, hatte man Mei-Ling geantwortet, wie eine Zecke zum Beispiel. Das Virus lebe im Blut, mit dem sich der Parasit vollgesogen habe, und dieser wandere vom Vogel zum Menschen und übertrage es in die Blutbahnen des neuen Wirts.
Die Experten redeten nacheinander, warfen ihre Wörter den Zuhörerinnen wie Bälle zu. Tao sah, wie aufmerksam Mei-Ling lauschte, während sie selbst nicht alles aufnehmen konnte. Filovirus, sagte ein Forscher, fadenförmige Viruspartikel. Krankheiten bei Primaten, sagte ein anderer, Übertragung zwischen den Arten. Das Krimfieber wurde ebenso erwähnt wie das noch tödlichere Sapo-Virus im Jahr 2048.
Mei-Ling machte große runde Augen. Tao bemerkte, wie sie sich ständig die Hände rieb und unruhig auf ihrem Stuhl saß. Ihr eigenes Herz schlug ruhig.
Zum Abschluss ging die Leiterin der Forschergruppe noch einmal die Herausforderungen bei dieser Expedition durch. Sie sagte, sie wolle die Besatzung keiner Gefahr aussetzen und sie sollten sich des Risikos bewusst sein, sie nehme aber dennoch an, dass es keine Träger des lebenden Virus mehr gebe, jedenfalls nicht unter den Überlebenden.
Dagegen betonte sie, es bestünde durchaus die Möglichkeit, dass das Virus weiterhin in einem Wirt dort oben überlebt habe, einem Vogel oder einem anderen Tier, denn je kleiner etwas sei, desto schwieriger werde man es wieder los.
Der kleine Samen einer teuflischen Blume, bereit, auszubrechen und sich mit unkrautartiger Geschwindigkeit auszubreiten, wenn man am wenigsten damit rechnete, dachte Tao.